Überreste der Champlain Towers South, die 2021 einstürzten. Der Kartenhauseffekt, der dieser Tragöde zugrunde lag, könnte in Zukunft reduziert werden.
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Am 24. Juni 2021 um 1.20 Uhr Ortszeit kam es zu einem der folgenschwersten Gebäude-Einstürze in der jüngeren Geschichte der USA. Ort des Geschehens: die Champlain Towers South in Surfside, einem Vorort von Miami in Florida. Vermutlich hatte eine Betondecke des Parkplatzes und des Pools im vorgelagerten Erdgeschoßbereich des Wohnhochhauses nachgegeben. Sieben Minuten später hat das den Kollaps eines großen Teils des Gebäudes ausgelöst, der rund zwölf Sekunden dauerte. Die Bilanz des Einsturzes: 98 Tote, darunter auch drei Verwandte des Präsidenten von Paraguay.

Die meisten Gebäude sind vor solch extremem Versagen sicher. Selten passiert es aber doch, ausgelöst durch Unwetter, Unfälle, Verfall, Erdbeben, Konstruktions- oder Planungsfehler. Im Normalfall kommt es dabei zu einem Dominoeffekt, der zum Einsturz des gesamten Gebäudes oder eines großen Teils davon führt. (Die großartige investigative Reportage des Miami Herald über den Einsturz der Champlain Towers South trägt die treffende Überschrift "House of Cards".)

Lernen von den Eidechsen

Durch Bauvorschriften und -normen wird alles getan, um dieses Umfallen der ersten Karte – oder besser: der ersten tragenden Struktur – verhindern. Dennoch geben immer wieder einzelne Bauelemente nach, was zum Einsturz des gesamten Gebäudes oder großer Teile davon führt. Das scheint einigermaßen unvermeidlich, zumal die derzeit üblichen Konzepte in der Regel darauf beruhen, die Ausbreitung eines anfänglichen Versagens zu verhindern, indem dieser einzelne Kollaps auf die intakten Strukturkomponenten des Gebäudes umverteilt wird. Das aber kann ungewollt das gesamte Gebäude zum Kollaps bringen.

Einsturz Nature
Die neue Studie schaffte es aufs Cover von "Nature".
Nature

In der aktuellen Titelgeschichte der Wissenschaftszeitschrift Nature wird nun ein neues Konstruktionssystem vorgestellt, das den Einsturz eines ganzen Gebäudes verhindern kann. Der Trick: Die Innovation sorgt dafür, dass im Falle eines katastrophalen Schadens das strukturelle Versagen auf die beschädigte Region beschränkt bleibt. Der Ansatz, den José Adam (Universitat Politècnica de València) und sein spanisches Team nun vorstellen, ist von der sogenannten Autotomie (mit t und nicht mit n) inspiriert: der Fähigkeit der Eidechsen, ihren Schwanz abzuwerfen, um auf diese Weise Raubtieren zu entkommen.

Eidechsen sind die einzigen Tiere, die am Schwanzansatz eine sogenannte Bruchebene besitzen, die es ihnen ermöglicht, sich der hinteren Extremität rasch zu entledigen. Ein ganz ähnliches Prinzip haben Adam und Kollegen für Gebäude entwickelt, das sie als "hierarchiebasierte Einsturzisolierung" bezeichnen. Ein solches Bausystem würde zu einem kontrollierten Bruch entlang vorbestimmter Grenzen in bestimmten Abschnitten des Gebäudes führen. Dadurch soll verhindert werden, dass sich das anfängliche Versagen auf das gesamte Gebäude ausbreitet.

Einstürzende Neubauten

Das Bausystem wurde zwar auch in unzähligen Simulationen im Computer durchgespielt. Die aber können einen Praxistext nicht ersetzen, weshalb die Forscher ein 15 × 12 Meter großes Gebäude mit zwei 2,6 Meter hohen Stockwerken aus Stahlbetonfertigteilen errichteten – und spektakulär zu einem stark begrenzen Einsturz brachten.

Das Bauwerk wurde bei den Experimenten dabei zwei Testphasen unterzogen. In der ersten Phase wurde ein kleines Anfangsversagen simuliert, bei dem zwei Säulen auf beiden Seiten einer Gebäudeecke entfernt wurden. Das bestätigte, dass die Konstruktion die konventionelle strukturelle Unterstützung bot. In der zweiten Phase wurde ein viel extremeres Anfangsversagen simuliert, bei dem die verbleibende Ecksäule entfernt wurde. Bei diesen Tests stellten die Forscher fest, dass die hierarchiebasierte Einsturzsicherung den Einsturz der gesamten Struktur erfolgreich verhinderte und nur ein Teil des Gebäudes einstürzte.

Wie ein neuartiges Baukonzept Totaleinstürze verhindern soll.
Dieses Video zeigt die spektakulären Experimente des spanischen Teams, die hier auch auf den vier Fotos zusammengefasst sind.
nature video

Das bringt gleich mehrere Vorteile, argumentieren die Forschenden: Durch den begrenzten Einsturz würde die Zahl der betroffenen Personen und potenziellen Todesopfer minimiert. Zudem sei es möglich, beim Wiederaufbau nur die eingestürzten Teile zu ersetzen, anstatt – wie etwa bei den Champlan Towers South – die Gebäudereste abzutragen und einen Komplettneubau hinzustellen. Obwohl ihre ersten Experimente gezeigt hätten, dass die hierarchiebasierte Einsturzsicherung vielversprechend ist, bleiben Adam und sein Team zurückhaltend: Weitere Experimente seien erforderlich, bevor ihr innovatives Konstruktionsprinzip in größerem Maßstab in verschiedenen Gebäudetypen eingesetzt werden kann. (Klaus Taschwer, 15.5.2024)