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1 20 Thesen vorab

(1) Die Unterscheidung zwischen Monotheismus und Polytheismus (bzw. Polymythie und Monomythie) ist religionsgeschichtlich sicher hilfreich, um ein wenig Ordnung zu schaffen. Sie ist aber auch sehr schematisch. Religionen als mythische Erklärungssysteme und die religiösen Bedürfnisse des Subjekts sind komplexer und differenzierter, als dass sie sich immer klar dem einen oder anderen Pol zuordnen ließen. Und selbst Monotheismus ist nicht gleich Monotheismus. Zum Beispiel kann man in der christlichen Trinitätskonzeption schon eine polymythische ‚Gewaltenteilung‘ sehen, Gott-Vater und Christus – mit Hegel – in einer dialektischen Spannung; der heilige Geist als ihre ‚Aufhebung‘. Der katholische Heiligenkult lässt sich durchaus als eine Form von Polytheismus bzw. Polymythie verstehen, zu der sich die Verehrung Marias oder eines regionalen Heiligen tatsächlich nicht selten entwickelt haben, auch wenn das theologisch-dogmatisch nicht korrekt ist.

Man muss also ein theologisches Konzept, wie es durch die Institutionen der Religion lehrförmig vertreten, organisiert, verwaltet und kontrolliert wird, von der religiösen Praxis, wie sie individuell, lokal oder regional gelebt und ausgestaltet wird, unterscheiden.

(2) Wenn es um die politisch-gesellschaftliche Funktionalisierung geht, liegen die ‚Vorzüge‘ des Monotheismus auf der Hand. Er erlaubt es, für das religiös-politische Kollektiv einen gemeinsamen, verbindlichen Kult mit entsprechenden Ritualen zu etablieren, der politisch brauchbar, also auch missbrauchbar ist. Zur Erfolgsgeschichte des frühen Christentums in der römischen Spätantike gehört die Symbiose mit der Politik.

In der politischen Literatur und Philosophie der Frühen Neuzeit wird diese politisch-gesellschaftliche Bedeutung einer allgemeinen Religion klar gesehen, einschließlich der Gefahr des Priestertrugs: dass der öffentliche Kultus mit allem, was dazugehört (also auch den Wundern), nichts anderes sei als eine machtpolitisch motivierte Inszenierung.Footnote 1 Dafür können freilich auch in polymythischen Gesellschaften einzelne Mythen und ihre Kulte und Rituale in Anspruch genommen werden.

(3) Schon im 17. Jahrhundert wird von dieser öffentlichen, politischen Religion eine private, persönliche Religiosität unterschieden, die solange gelebt werden darf, wie sie die allgemeine, staatstragende Religion nicht gefährdet (Spinoza). Diese Unterscheidung trägt bereits dem Potential einer inneren Pluralität Rechnung, das Religion überhaupt innewohnt. Auf diese Pluralität wird die anbrechende Moderne immer energischer bestehen, letztlich bis hin zu ihrer Kodifizierung in den demokratischen Gesetzgebungen (Art. 3 und 4 des Grundgesetzes). (Dem analog ist die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Vernunftgebrauch bei Kant.)

(4) Ein Potential zu innerer Pluralität von Religion und subjektiver Auslegung bzw. Inanspruchnahme religiöser Inhalte und Praktiken lässt sich aber schon im Alten Testament beobachten. Der Gestus der poetischen Artikulation der Psalmen z. B. ist der einer Subjektivität, die sich selbst als komplex und in sich widersprüchlich wahrnimmt. Das poetische Subjekt der Psalmen rühmt und dankt zwar seinem Gott; es klagt aber auch, verzweifelt an sich und an ihm. Es beobachtet sich selbst und setzt sich so mit seinen poetischen Äußerungen in ein komplexes Verhältnis zu seinem Gott.

(5) Das lässt sich als allgemeinere anthropologische These formulieren: Der Mensch will sich selbst verstehen, indem er sich in einen Bezug zu seinem Gott bringt, der unendlich viel größer ist als er selbst. Indem der Mensch sich seinen Gott entwirft, kann er fortwährend zugleich an sich und seiner Selbstbeobachtung ‚arbeiten‘, weil er mit diesem Gott und sich selbst gegenüber nie zu einem Ende kommen kann. Das ist dem menschlichen Bewusstsein angemessen. Aus diesem Bezug auf seinen Gott heraus kann der Mensch sich artikulieren und interpretieren, was nicht dasselbe ist.Footnote 2 Selbstbeobachtung und Gottbeobachtung bedingen insofern einander.

(6) Entsprechend komplex wird deshalb schon im Alten Testament dieser Gott in seinem Sein, seinen Handlungen und seinen Äußerungen gefasst: Er ist allmächtig, allgütig, allumfassend gerecht, voll allumfassender Liebe zu seiner Schöpfung usw. All dies wird ihm zugesprochen und macht ihn zu einer hochkomplexen Totalität, die Raum bietet für die individuelle Auslegung des Subjekts. Schon der Gottesbegriff des Alten Testamentes umfasst die ganze Spanne von mythischer Konkretheit bis zu höchster Abstraktheit; er ist ein Gott der ‚Achsenzeit‘ (Karl Jaspers). Welche intellektuelle Herausforderung seine ‚Erkenntnis‘ darstellt, zeigt dann unmissverständlich der Anfang des Johannes-Evangeliums: Gott ist der Logos der Welt.

Dieser Gott, Einheit und Vielheit zugleich, hat mit den Menschen, seinem auserwählten Volk, eine eigene, seine Geschichte, die in vielen Geschichten des Alten und Neuen Testamentes erzählt wird (das ist ein grundlegender Unterschied zum Koran). Nebenbei: Man sieht hier sofort, dass theologische Konzeptionen unterschiedliche ästhetisch-poetische Potentiale für ihre Religionen bergen.

(7) Die Theologie mit ihrer hermeneutischen Kunst ist gefordert, diesen einen Gott in seinen komplexen Äußerungen und Erscheinungsweisen auszulegen. (Zur Klärung: Ich verstehe Theologie als die Wissenschaft, in deren Zentrum ein Gottesbegriff steht. Nicht unbedingt Gott selbst, wer oder was auch immer das ist: Das wäre dann Religion. Theologie wendet sich allem, was war, ist und sein wird, in argumentierender und reflektierender Weise unter der Perspektive des theós zu. Sie ist, wie es sich für eine Wissenschaft gehört, eine Wissenschaft aus Begriffen.)

Theologie kann diesen theós selbstverständlich immer auch machtpolitisch funktional auslegen, wie es in der politischen Theologie des 20. Jahrhunderts geschehen ist. Ob und wie sie es tut, hängt von ihrem (wissenschaftlichen und humanen) Selbstverständnis und ihrem politisch-gesellschaftlichen Spielraum ab. Zum Beispiel liegt hierin für eine aufgeklärte islamische Theologie von heute in der Welt von heute eine besonders große Herausforderung.Footnote 3 Die christliche Theologie der Frühen Neuzeit oder der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus ist dieser Herausforderung ganz sicher nicht immer gerecht geworden. Auf eine verantwortungsbewusste und vernünftig begründbare theologische Hermeneutik kommt es insofern an: Welche Religion für wen und in welchem Interesse? Darüber war sich bereits Lessing völlig im Klaren.

(8) Auch auf der Seite der Religion bzw. religiöser Praxis zeichnet sich schon mit dem Alten Testament eine Spannung ab zwischen einer Ritual-Religion, die nach der Ritual-Gemeinschaft verlangt, aber auch kontrollierbar und politisch wird (heute z. B. an der russisch-orthodoxen Kirche gut zu beobachten), und einer potentiell ordnungsstörenden Subjekt-Religion. Potentiell ordnungsstörend deshalb, weil individuelle Menschen eben oft anderes wollen und für sich suchen als Institutionen.Footnote 4 Man kann in der Unterscheidung zwischen Ritual-Religion und Subjekt-Religion bis heute brauchbare Idealtypen von Religion sehen.Footnote 5 Das schließt natürlich nicht aus, dass auch religiöse Rituale subjektiv unterschiedlich besetzt und geachtet werden.

(9) Auch in polymythischen, polytheistischen und polyreligiösen Kulturen ist überhaupt natürlich nicht ausgeschlossen, dass sie jeweils dem ritual-religiösen Typus zuneigen. Religiös sein heißt dann: das Rechte tun, also das, was sich gehört. Das heißt, das zu tun, was in Kult und Ritual einer mythischen Gottheit vorgesehen ist. So ordnet sich das religiöse Subjekt bestimmten Ritual-Gemeinschaften zu (kein Ritual ohne Gemeinschaft bzw. ohne die Gemeinschaft virtuell mitzusetzen). Polymythische Ritualgemeinschaften können nicht weniger rigide ausfallen als monotheistische bzw. monomythische.

(10) Politisch-gesellschaftliche Kohärenz und Integration muss dann aber anders erzeugt werden: durch kulturell tradierte und etablierte, metareligiöse Normen und Ordnungsvorstellungen, die die einzelnen Ritual-Gemeinschaften (um eine mythische Gottheit, einen Tempel, eine Kultstätte usw.) übersteigen; durch politische Rituale wie Nationalfeiertage; durch die Pflege kultureller Traditionen und Erfahrungsräume. Welche wären das in Japan, in Deutschland und Europa? Für Europa als Ganzes gibt es sie noch kaum.

(11) Nach der theoretischen und staatskirchenrechtlichen Trennung von Staat und Religion, die bekanntlich in der Praxis keineswegs so ganz konsequent ausfällt (siehe z. B. USA, Polen, aber auch Deutschland, wo der Staat die Kirchensteuer einzieht, freilich zugleich auf die caritativen Einrichtungen der Kirchen angewiesen ist), liegt also in der gesellschaftlichen Kohärenz eine große Herausforderung moderner säkularer, in sich stark differenzierter Gesellschaften: Was hält moderne Gesellschaften zusammen? Das ist eine große Frage unserer Tage.

(12) Für die westlichen Gesellschaften kann man sagen, dass sich seit dem Anbruch der Neuzeit der ritual-religiöse Religionstyp mehr und mehr zugunsten des subjekt-religiösen Religionstyps abschwächt. Umso stärker werden damit nun, aufkommend besonders mit dem Pietismus, Religionsformen, die das religiöse Erleben und die religiöse Erfahrung betonen.Footnote 6 (Teilt man diese Auffassung, dann werden Konzepte einer Makroepoche ‚Moderne‘, die vor allem durch das Verschwinden von Religion geprägt sei, durchaus fragwürdig.)

(13) Das gilt inzwischen auch für den eigentlich nicht vorrangig hermeneutisch und verbal-, sondern ritual-orientierten Katholizismus, der zwar noch bis weit ins 20. Jahrhundert aus Anti-Modernismus und Aufklärungskritik seine Identität zu gewinnen suchte, aber mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil den religiösen Fragen und Bedürfnissen seiner Mitglieder mehr Raum zu geben begann, wenngleich bis heute oft noch sehr zögerlich.

(14) Angedeutet ist damit eine kulturanthropologische und kulturevolutionäre Grundspannung, die in der Geschichte der Menschheit ganz weit zurückreicht. In der Geschichte von Religion bildet sich geradezu paradigmatisch ab, was für die (kulturelle) Evolution des Menschen überhaupt grundlegend ist. Sehr schematisch kann man zwei Grundprinzipien unterscheiden:

  1. a)

    der starke Einzelne setzt sich durch;

  2. b)

    der Einzelne ist dann umso stärker, je stärker er sich auf seine soziale Gruppe beziehen und verlassen kann. Und soziale Gruppen sind umso stärker, je besser sie intern kooperieren können und ihren inneren Zusammenhalt durch gemeinsame Praktiken und in gemeinsamen Vorstellungen pflegen.

Insbesondere in den USA wird dies bis heute in der Unterscheidung zwischen Individualismus bzw. Liberalismus und Kommunitarismus diskutiert. Es kommt alles darauf an – und hier stimme ich Charles Taylor ausdrücklich zu –, die beiden Positionen zu vermitteln. Das gilt für die religiöse wie für die säkulare Sphäre. Religion ist immer beides (mehr oder weniger): individuelles Sinn-Reservoir, individueller Ausdruck und individuelle Praxis einerseits; und kollektives Sinn-Reservoir, kollektiver Ausdruck und kollektive Praxis andererseits.Footnote 7 Und für das Subjekt selbst heißt das, in der Spannung zwischen Individualität und Freiheit einerseits und sozialer Zugehörigkeit andererseits zu leben und sie in sich auszutragen.

(15) Aber in der Moderne sind Gemeinschaften und soziale Gruppen zunehmend Elemente hochkomplexer, funktionsdifferenzierter Gesellschaften. Sie müssen nicht viel voneinander wissen und doch in irgendeiner Weise miteinander kommunizieren bzw. sich arrangieren. Der Monotheismus hat, was die Sphäre der Religion angeht, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in den westlichen Gesellschaften eine Art mythische, anschauliche, vorstellbare Integrationsklammer gebildet für eine in Wirklichkeit sehr große religiöse Pluralität.

(16) Ein Ende monomythischer bzw. monotheistischer Integrationskraft zeichnet sich allerdings schon im intellektuellen Diskurs des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts ab.

(17) Vor allem das Konzept ‚Nation‘ hat im 19. und 20. Jahrhundert die Funktion übernommen, das zu leisten, was die in sich hochdifferenzierte Gesellschaft aus sich selbst heraus nicht leisten und was sie in Religion nicht mehr sehen konnte: nämlich einen inneren Zusammenhalt zu gewährleisten. Dieses Konzept ‚Nation‘ hat – mit bekanntlich teilweise katastrophaler Wirkung – nationalreligiösen Charakter angenommen, wie man z. B. an Ästhetik und Kult der Nationaldenkmäler sehen kann.

(18) Eine über meine Aufgabe hinausgehende, gewagte These: Das ändert nichts daran, dass es in den letzten Jahrzehnten naiv war zu glauben, man könnte das Konzept ‚Nation‘ einfach preisgeben oder z. B. durch ‚Europa‘ ersetzen. Vielmehr scheint manches dafür zu sprechen, dass das Konzept ‚Nation‘ im Rahmen von ‚Europa‘ einer aufgeklärten, vernünftigen Revision unterzogen werden müsste. Sonst dürfte die europäische Integration kaum dauerhaft gelingen.

(19) Denn ‚Europa‘ ist bis heute für viele nicht viel mehr als eine politisch-ökonomische und in dieser Hinsicht bloß funktionale Konstruktion. ‚Europa‘ müsste aber ein wirklicher kulturell-geschichtlicher Erfahrungsraum werden,Footnote 8 um nationale Zugehörigkeiten tatsächlich sinnvoll beherbergen, ergänzen und irgendwann einmal vielleicht sogar ablösen zu können. Wenn das gelingen soll, ist historisch-kulturelle Bildung mit geschichtlicher, mindestens bis in die frühe Antike zurückreichender Tiefenschärfe erforderlich. Nur so kann ‚Europa‘ überhaupt als ein uns gemeinsames politisch-kulturelles Ganzes gesehen werden. Genau dieser historisch-kulturelle Bildungsbegriff löst sich derzeit in unseren Bildungsinstitutionen immer stärker auf; er hat längst keine geschichtlich-kulturelle Tiefe mehr. Man frage einen Abiturienten von heute beispielsweise nach der geschichtlichen Bedeutung der griechischen Antike oder der Reformation!

Japan pflegt dagegen, scheint mir, seinen geschichtlich-kulturellen Erfahrungsraum sehr viel stärker, seit es im 19. Jahrhundert in die intensive interkulturelle Kommunikation mit ‚dem Westen‘ (was immer das auch sein soll) eingetreten ist.

(20) Neben der Bedeutung von Geschichte und Kultur wäre aber dennoch immer zu bedenken, dass auch in modernen religiösen und parareligiösen bzw. (mit Georg Simmel) ‚religioiden‘ Artikulationen archaisches menschheitsgeschichtliches Erbe wirksam sein kann.Footnote 9 Der Mensch als ‚homo necans‘ (Walter Burkert) ist keineswegs durch Aufklärung überwunden; und auf ‚Sündenböcke‘ (René Girard) will auch die vermeintlich aufgeklärte Moderne nicht verzichten. Beide anthropologische Bestimmungen lassen sich aber auch reflexiv verstehen (dazu unten).

2 Religionsbegriff und weitere Überlegungen zum Gegenwartsbezug

Ich werde auf einzelne Aspekte dieser Thesen nun etwas intensiver eingehen. Dem universellen kulturellen Phänomen ‚Religion‘ kann man sich grundsätzlich von zwei Seiten nähern: der Seite des Sozialen und des Politischen und der Seite des Subjekts. Kult und Ritual bilden, scheint mir, die Schnittstelle. In Kult und Ritual erfährt und vollzieht sich die Gemeinschaft als eine solche. Darum kann die Sphäre des Politischen nicht auf sie verzichten, können politische Rituale auch religiöse Züge annehmen und können religiöse Rituale politisch funktionalisiert werden. Und darum kann sich das Subjekt in seinem religiösen Sinn-Bedürfnis und in seiner auf die Instanz der Verehrung ausgerichteten Selbstreflexion im (religiösen) Ritual entlasten, beruhigen, trösten und sich vielleicht sogar beheimaten, weil es eine sinn-volle kulturelle Ordnung vorfindet und sie sich nicht selbst erfinden muss.

Mit meinem Religionsbegriff orientiere ich mich besonders an der Theorie der Religion, die der Religionssoziologe Martin Riesebrodt entworfen hat.Footnote 10 Zu einem allgemeinen Religionsbegriff gehören insofern:

  1. a)

    die Anerkennung eines Sinn-Geheimnisses, das das menschliche Fassungsvermögen grundsätzlich übersteigt; weiter noch: die Anerkennung über- bzw. außermenschlicher Mächte und Kräfte (damit ist also das Problem der Transzendenz angesprochen);

  2. b)

    die Erwartung, dass von diesen transzendenten (im Sinne des Außermenschlichen) Mächten und Kräften die Abwehr von Unheil, die Bewältigung von Krisen und ein Versprechen des Heils erwartet werden kann;

  3. c)

    und es gehört dazu, dass mit diesen Mächten und Kräften individuell auf ganz verschiedene Weise und kollektiv in rituellen und kultischen Praktiken, die sich typologisch natürlich weiter bestimmen lassen, interagiert und kommuniziert wird.

Sinnvoll, ja notwendig scheint es mir, den einzelnen Definitionsmomenten in der religiösen Praxis des individuellen Subjekts immer unterschiedliches Gewicht zuzugestehen. Das hängt von seinen intellektuellen, kulturellen und sozialen Voraussetzungen ab, aber auch von den individuellen Interessen und der individuellen Reflektiertheit. Man kann z. B. religiöse Rituale ganz sicher ohne allzu großes Transzendenzbewusstsein praktizieren, eben nur weil es sich so gehört und situationsangemessen ist. Bei den großen lebensgeschichtlichen Übergangsritualen, sofern sie im kirchlichen Rahmen begangen werden (Taufe, Hochzeit, Beerdigung) lässt sich das gut beobachten. Für die religiöse Praxis in Japan, China und Indien, wie ich sie kennengelernt habe, scheint das sehr wichtig zu sein. Man sollte sich hüten, das vorschnell aus einer Perspektive, die immer das authentische Subjekt fordert, abzuwerten (dazu schon Charles Taylor).Footnote 11 Sich Kulten und Ritualen anzuvertrauen und so zu wissen, was in einer bestimmten Situation zu tun ist, kann nämlich ohne Zweifel einen psychisch enorm entlastenden Wert haben. Jede Beerdigung zeigt das. Der marxistische Psychoanalytiker Alfred Lorenzer hat darauf schon vor vielen Jahren hingewiesen, als er das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner Tendenz zur De-Ritualisierung scharf kritisierte.Footnote 12

Die Religion des Subjekts ist nicht erst in der Moderne eklektisch und synkretistisch, dann aber wohl besonders: Das Subjekt nimmt sich aus den Traditionsbeständen und Ausdrucksformen, was es brauchen kann. Die selbstreflexive Intensität des religiösen Bewusstseins kann dabei mehr oder weniger stark sein. Aber eines scheint mir ganz klar: Religion ist Ausdruck (mit Humboldt und ihm folgend in jüngster Zeit der Koblenzer Philosoph Matthias Jung: Artikulation) menschlicher Selbstinterpretation.Footnote 13 In dieser Perspektive ist Religion alles andere als ein Problem vormoderner Unaufgeklärtheit, und die Unterscheidung ‚Vormoderne – Moderne‘ wird weniger schroff. Charles Taylor, der kanadische Philosoph, hat die Moderne unter der Perspektive des Säkularisierungsprozesses verstanden und dabei den Säkularisierungsbegriff selbst stark differenziert. Mit dem Anbruch der Neuzeit eröffne sich die „säkulare Option“, wie der Religionssoziologe Hans Joas sagt. Nicht zu glauben bzw. sich dafür sogar zu entscheiden, werde möglich.Footnote 14 Von einer „Option“ würde ich allerdings nicht sprechen. Ob und in welcher Weise man sich als religiös versteht oder nicht, scheint mir eher selten zu bedeuten, dass man eine Option wahrnimmt im Sinne einer Wahl unter verschiedenen Möglichkeiten, sondern ist selbst sinnorientiertes, sich selbst und die Welt verstehendes Handeln unter jeweils individuellen lebensgeschichtlichen Bedingungen und allgemeineren geschichtlich-kulturellen Umständen.

Dass aber die Institutionen der Religion, die Kirchen, in der westlichen Welt mehr und mehr an Bedeutung verlieren und ihre gesellschaftliche Integrationskraft schwindet und dass dieser Prozess weitreichende Bedeutung hat, daran kann kaum ein Zweifel sein. Erstmals haben wir, so jüngste Umfragen, in Deutschland weniger als 50 % der Bevölkerung, die sich noch als christlich verstehen und formell zu einer christlichen Kirche gehören. (In Afrika und Süd- und Mittelamerika sieht es durchaus anders aus.) Jetzt zeigt es sich, dass es tatsächlich sinnvoll ist, die institutionelle Seite von Religion mit ihren Mythen, Kulten und Ritualen von einer subjektreligiösen zu unterscheiden. Mit guten Gründen ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder bestritten worden, dass das religiöse Bedürfnis beim Subjekt tatsächlich ebenfalls im Säkularisierungsprozess verschwinde.

Wie oft konnte man während der letzten drei Jahre, die man jetzt schon die Corona-Jahre nennt, als läge alles bereits hinter uns, in all der Ratlosigkeit die nachdenkliche These hören, dass sich jetzt zeigen müsse, was denn ‚die Gesellschaft‘ zusammenhalte und wieviel Solidarität sie aufzubringen in der Lage sei. Aber ‚die Gesellschaft‘, die sich als ein Ganzes verstehen würde und einen gemeinsamen Willen hätte, gibt es nicht. Das war bei Rousseau schon ein Ideal, eine Konstruktion. ‚Gesellschaft‘ ist auf jeden Fall nicht die engere soziale Gruppe, der ich zugehöre (bzw.: die engeren Gruppen!). Sie ist nicht die ‚Gemeinschaft‘, wie schon 1887 Ferdinand Tönnies deutlich gemacht hat. Obwohl Tönnies’ Buch Gemeinschaft und Gesellschaft eine mehr als schwierige Rezeption im Umfeld der sog. Konservativen Revolution erlebt hat und seine Unterscheidung selbst zu schematisch war, und obwohl sie auch ein hohes reaktionäres Potential in sich birgt, so kann sie doch helfen, auf ein strukturelles Problem der Moderne aufmerksam zu werden: Was ist diese moderne ‚res publica‘, die öffentliche gemeinsame Sache, die alle angeht und im Interesse aller erörtert, gestaltet und irgendwie und irgendwann auch geregelt werden muss?Footnote 15 Und erst recht nun im Angesicht globaler Problemlagen wie der Pandemie, ja globaler, existenziell bedrohlicher Krisen wie der heraufziehenden Klimakatastrophe: Was ist die ‚res publica mundana‘? Das steht ständig zur Debatte. Müssten wir nicht gerade jetzt auf eine Weltgesellschaft zuarbeiten, die sich in all ihrer Diversität als Weltgemeinschaft versteht? Braucht es dafür nicht dringend ein ‚Weltethos‘? Dieses ‚Projekt Weltethos‘ hat der Tübinger Theologe Hans Küng schon vor Jahrzehnten ins Leben gerufen (vielleicht nicht zufällig ein ehemals katholischer, also auf das ‚Weltumspannende‘ ausgehender Theologe, dem der Papst die missio canonica entzogen hat). An diesem Weltethos wären nach Küngs Vorstellung alle Weltreligionen zu beteiligen, ja sie selbst müssten sich beteiligen.Footnote 16 Lessings Ringparabel hat das schon vorgezeichnet. Aber können die Religionen das noch? Werden dabei Religion, die religiösen Bedürfnisse, Gefühle und Interessen in kultureller wie individueller Hinsicht vielfältig und differenziert genug verstanden? Vor allem: Wird damit das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit gerade auch im Religiösen genügend bedacht? Religion ist nicht Ethos, jedenfalls nicht zuerst! Sie kann aber dazu motivieren. Der Weltgesellschaft zugehören zu wollen und sich einem Weltethos zu verpflichten, verlangt ein hohes Maß an reflexiver Vernunft, einen inneren moralischen Kompass, verspricht dabei jedoch keine affektive Heimat und scheint damit vielleicht sogar eher noch eine politische Aufgabe, die insofern ‚alle angeht und im Interesse aller gestaltet und geregelt werden muss‘, als eine individuelle.

Wenn Weltgesellschaft zur Weltgemeinschaft werden soll, müssen im umfassenden Sinne Gefühle der Sym-Pathie auch für die Not der Menschen entstehen, die uns nicht unmittelbar benachbart sind. Wie kann solche Sym-Pathie gefördert werden? Auch für die Weltgemeinschaft gilt wohl Lessings Diktum, dass der mitleidigste Mensch der beste Mensch sei. Darauf hinzuwirken, ist für Lessing oberste Aufgabe des Theaters, also der Kunst. Schon er korrigiert damit ein zu enges Verständnis von Aufklärung, das in ihr bloß einen vernünftig fortschreitenden Prozess sieht. Wir würden heute wohl umfassender sagen, dass solche Sym-Pathie-Förderung (auch) eine Aufgabe der Medien sei. Aber politische Lösungen sind damit noch lange nicht garantiert.

Seit etwa der Zeit um 2000 denkt der Sozialphilosoph Jürgen Habermas, der in Japan ganz besondere Aufmerksamkeit gefunden hat, immer intensiver darüber nach, welcher Fundus für eine normative Selbstreflexion und Selbstvergewisserung der hochdifferenzierten modernen Gesellschaften in Religion stecken könnte. Ausgerechnet Habermas: der Philosoph der Aufklärung, weltweit wohl. Der Philosoph, der, wie kein zweiter, Vernunft kommunikativ denkt und darauf setzt, dass wir Menschen auch unsere ganz großen Probleme in gemeinsamer, kommunikativer Verständigung selbst lösen können, wenn wir uns auf die Kraft der uns allen gemeinsamen Vernunft und die Kraft ihrer Argumente beziehen! Aber das reicht offenbar nicht. Welt-Ethos (Küng) und global denkende Vernunft (Habermas) sind nämlich kein echter Erfahrungsraum für einen Menschen, der auch Gefühle und Sinne hat. Religion kann jedoch genau das ansprechen: Sinnlichkeit und Empfindung.Footnote 17

Habermas schließt mit seinem Nachdenken über die Bedeutung von Religion an ein Problembewusstsein an, das die späte Aufklärung schon entwickelt hat und das bei Hölderlin, Schelling und dem jungen Hegel in die Forderung nach einer ‚höheren Aufklärung‘ mündet, nach einer Aufklärung, die sich über sich selbst aufklärt, über ihre Möglichkeiten und Grenzen, und die ohne Zweifel eine grundlegende Voraussetzung für die junge Romantik darstellt.Footnote 18 Die Vernunft müsse sinnlich werden und die menschliche Sinnlichkeit vernünftig. Das ist das Kernproblem. Und deshalb brauche es eine neue, plurale Mythologie, die eine sich funktional immer weiter differenzierende Gesellschaft wieder begründen kann. Denn einerseits bestehe die Gefahr, dass die alte Mythologie der Griechen und Römer zu bloßen allegorischen Verkleidungen depotenziert werde (so Karl Philipp Moritz, der philosophische Lehrer der jungen Romantik in Berlin); und andererseits habe der eine Gott der jüdisch-christlichen Tradition die anschauliche Vielgestalt der antiken Götterwelt zerstört (so Schiller).Footnote 19

Bevor ich im vierten und letzten Teil vor allem darauf zurückkomme, will ich aber auf ein Gedicht eingehen, das im Kontext gerade dieses Tagungsbandes vielleicht eine besondere Bedeutung entfalten könnte.

3 Goethes Gedicht Gingo biloba

Dieses Gedicht Goethes aus dem Jahr 1815, ursprünglich an Marianne von Willemer gerichtet, dann in den Westöstlichen Divan aufgenommen, ist ganz sicher eines seiner berühmtesten Gedichte, ja der deutschen Literatur überhaupt. Es wird derart oft zitiert und dies in allen möglichen Zusammenhängen, dass sich einzelne Verse geradezu ritualisiert haben (und sich so für einen Kult der Literatur tauglich machen).Footnote 20 Mir scheint das Gedicht nicht schlecht für einen Beitrag zu einer ost-westlichen Tagung zu passen.Verse

Verse Gingo biloba Dieses Baums Blatt, der von Osten Meinem Garten anvertraut, Gibt geheimen Sinn zu kosten, Wie’s den Wissenden erbaut. Ist es e i n lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt? Sind es zwei, die sich erlesen, Daß man sie als e i n e s kennt? Solche Frage zu erwidern, Fand ich wohl den rechten Sinn; Fühlst du nicht an meinen Liedern, Daß ich eins und doppelt bin?Footnote

Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz, Bd. 2. Gedichte und Epen II. München 121982, S. 66.

Natürlich liegt es nahe, das Gedicht als Liebesgedicht zu verstehen. Aber löst man sich davon und auch von der Adressierung an Marianne von Willemer, kommen weitere interessante Interpretationsmöglichkeiten hinzu. Der erste Vers ist ein merkwürdig rumpeliger Introitus. So leicht und wie von selbst die Verse anschließend dahingehen: Hier, im ersten Vers, stockt man gleich. Man muss den Trochäus des Gedichtes, der konsequent durchgehalten wird, ganz bewusst lesen, indem man die Genitiv-Konstruktion „Baums Blatt“ wie zu einem Wort zusammenzieht: ‚Baumsblatt‘. Und dennoch bleibt etwas Ungefüges bei dieser Alliteration zweier einsilbiger Nomina. ‚Blatt‘ und ‚Baum‘ bleiben getrennt; sie sind auch für die poetische Erfahrung „eins und doppelt“. Die Individuation bei allem Zusammen- und auf einander Bezogen-Sein wird lautlich-rhythmisch keinesfalls überwunden, eher unterstrichen.

Das Ginkgo-Blatt selbst wird nun zum Sinnbild, das dem bereits „Wissenden“ „geheimen Sinn“ „zu kosten“ gibt, und zwar in der Weise, dass es ihn ‚erbaut‘, dass sich also eine ins Religiöse driftende, unbegriffliche, das Subjekt fördernde Sinndimension eröffnet. Aber auch das ist ‚Sinn‘, nämlich ästhetischer Sinn! Man ‚kostet‘ oder ‚schmeckt‘ nur daran und bekommt so schon eine Ahnung davon, dass dahinter noch viel mehr ist. So ist das, mit Schleiermacher (Reden über die Religion), auch in der Religion, in der sich „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ zeige, also für das tiefere, letztlich reflexiv unausdeutbare, unausschöpfbare, deshalb nur ahnbare und ästhetisch erfahrbare, unendliche Geheimnis. „Bei keiner Art zu denken und zu empfinden“, sagt Schleiermacher in der vierten seiner Reden über die Religion, „hat der Mensch ein so lebhaftes Gefühl von seiner gänzlichen Unfähigkeit, ihren Gegenstand jemals zu erschöpfen als bei der Religion. Sein Sinn für sie ist nicht sobald aufgegangen, als er auch ihre Unendlichkeit und seine Schranken fühlt“.Footnote 22 Die Religion kann deshalb als „Kunst und Studium“Footnote 23 des Unendlichen behandelt werden. Auch bei den „Liedern“ des lyrischen Sprechers in Goethes Gedicht, so die letzte Strophe, sei dieser doppelte symbolische Sinn zu spüren, zu ‚fühlen‘ (vorletzter Vers). Aufs Knappste erkennt man hier Goethes Verständnis des Symbols. Die Kunst selbst wird zu einem symbolischen ‚Ahndungsraum‘ und zum Ort der Einübung des letztlich religiösen „Sinn[s] und Geschmack[s] für das Unendliche“.

Genau dieses unendliche Geheimnis, das in der ästhetischen Erfahrung ahnbar wird, habe die aufgeklärte Religionskritik, die ganz besonders Offenbarungskritik ist, aufgelöst.Footnote 24 Das ist um 1800 der Kern der Kritik an der Kritik. Und genau darauf haben die jungen Intellektuellen im Kontext der Frühromantik – Schiller (seinerzeit schon nicht mehr ganz so jung), Hegel, Hölderlin, Novalis, Schelling, Friedrich Schlegel – reagiert.Footnote 25 Darauf werde ich gleich noch einmal zurückkommen. Dann wird sich zeigen, wie sehr ihre Kritik des Mono-Mythos ‚Vernunft‘ und des Mono-Theismus, diese Ermächtigung des einen Gottes gegenüber der bunten Vielgestalt der griechischen Mythologie, ein utopisch-politisches Projekt ist.

Zunächst aber sollen thesenhaft noch etwas stärker die Anregungen aus Goethes Gedicht aufgenommen werden. Dass die Weisheit „von Osten“ komme (ex oriente lux), ist ein wichtiger Topos, auch ein wichtiger religiöser. Um 1800 wurde er für die Indien- und überhaupt die Orientsehnsucht in Anspruch genommen, die für die gesamte Moderne große Bedeutung hat und sich bekanntlich zu einem Syndrom ausfaltete, das wir heute als Orientalismus bezeichnen.Footnote 26 „Nun aber sind zu Indiern/Die Männer gegangen“, Hölderlins Seefahrer (Andenken).Footnote 27 – Viel emphatischer noch und auch in orientalistischer bzw. indologischer Hinsicht kenntnisreicher als Hölderlin war natürlich Friedrich Schlegel. – Von dort bringen sie nicht nur materielle Schätze mit, sondern Einsichten, ein höheres Wissen, auch ein höheres Wissen um das Geheimnis menschlicher Existenz. Und sie bringen neue religiöse Kenntnisse mit, in denen sich dieses Geheimnis bewahrt. Bei Goethe ist der Baum „von Osten“ dem „Garten“ des lyrischen Subjekts „anvertraut“ worden. Der Transfer aus dem Orient in den okzidentalen Kulturraum („Garten“) basiert also auf einem Vertrauensverhältnis und verlangt deshalb nach besonders verantwortungsbewusstem Umgang mit dieser Gabe, wenn diese Weisheit angemessen zur Entfaltung kommen soll. Im „Garten“, wie Blumen und Park ein altes Symbol für die DichtkunstFootnote 28 und so im Symbolismus von größter Bedeutung,Footnote 29 ein uraltes Symbol ebenfalls für die cultura des Menschen, kann die östliche Weisheit zu einer eigenen Existenzform aufwachsen und neue „Lieder“ hervorbringen, d. h. die okzidentale literarische cultura neu und produktiv umgestalten.

Die Mittelstrophe formuliert zwei Fragen, die rhetorischen Charakter annehmen: Sie sprechen von der Ganzheit – nicht in der Vielheit, wie es zum Kunstdiskurs um 1800 gehört, sondern in der Doppelstruktur der Zweiheit. Einerseits du und ich und nichts sonst, also das romantische Modell der Liebe;Footnote 30 andererseits das Subjekt selbst, das sich in seiner Identität zugleich reflexiv denkt. Das ‚Ich‘ also ist eins mit sich und zugleich in sich selbst unterschieden.Footnote 31 Diese – im Horizont der Zeit um 1800 könnte man auch sagen – dialektische Spannung setzt schon der Eingangsvers. Das ‚Ich‘ ist sich selbst gegenüber. ‚Ich‘ ist selbst „[e]ins und doppelt“. „Dieses Baums Blatt“ aus dem Osten wird bei Goethe, so sei hier zugespitzt, also zu einem Symbol und zu einem Impuls westlicher Selbstreflexivität. Wie modern ist das gedacht! Goethes Sprecher erkennt an dem Blatt die grundsätzliche Selbstreflexivität des Subjekts. Mit diesem letzten Vers ist das Gedicht also nun ganz beim Subjekt angekommen. Zwar wird das wieder als Frage formuliert, als staune der Sprecher selbst darüber. Aber eine Erkenntnis ist es dennoch.

Noch einmal: Die Möglichkeit einer Deutung als Liebesgedicht will ich gar nicht leugnen. Aber man kann diese Deutung doch, gerade im Denk-Horizont der Epoche um 1800, um einen interessanten Aspekt weiterentwickeln. Denn dieser letzte Vers lässt sich verstehen als Einsicht in die Doppelstruktur menschlichen Bewusstseins, das sich einerseits der Welt bewusst zuwendet, ihre Anregungen und Reize aufnimmt und verarbeitet. Andererseits aber kann es sich auf sich selbst zurückwenden, sich selbst zum Gegenstand des Denkens werden, sich selbst beobachten, auch bei seiner Zuwendung zur Welt. Diese Denkoperation vollzieht am Anfang des europäischen Rationalismus schon Descartes in seiner Analyse des Satzes cogito ergo sum.Footnote 32 Er bringt sie auf den Begriff. Poetisch und religiös aber führt sie bis ins Alte Testament (so, wie gesagt, bei den Psalmen) und bis zu Augustinus zurück, bei dem sich die Struktur des selbstreflexiven Bewusstseins als Gewissen, das das eigene Verhalten und Handeln differenziert betrachten und nach seiner moralischen Qualität beurteilen kann, klar abzeichnet (in den Confessiones).Footnote 33

Auf dieses reflexive Bewusstsein setzen zwei anthropologische Religionstheorien, die ich eingangs in den Thesen schon erwähnt habe und deren hier für mich relevante Gedanken ich kurz skizzieren will:

Für den Gräzisten Walter Burkert ist der Mensch grundsätzlich ein homo necans. Vorgeschichtliche Funde von Arrangements tierischer Knochen lassen sich aus Burkerts Sicht als bewusst realisiert interpretieren und insofern als Anzeichen eines Opfers deuten. Das veranlasst ihn zu weitreichenden Thesen: Mit dem Jagen und Fleischessen habe sich der Aktivitätsradius unserer menschheitsgeschichtlichen Ahnen beträchtlich erweitert. Zeit sei nun – gegenüber dem bloßen, zeitintensiven Sammeln von Nahrungsmitteln – für weitere, differenziertere Kulturleistungen freigeworden. Dass der Mensch zum Fleischesser wurde, habe also eine große kulturevolutionäre Beschleunigung initiiert. Zugleich aber lasse sich im Arrangement der Jagdtierknochen auch die vorgeschichtliche Einsicht unserer stammesgeschichtlichen Ahnen erkennen: dass es nämlich erforderlich sei, der Macht, die das Leben schenkt, etwas zurückzugeben, weil man ihr in der Tötung der Jagdbeute etwas genommen habe. Solche Jagd-Opfer-Rituale, wie Burkert diese Phänomene versteht, seien Zeichen eines elementaren Erschreckens, ja Schuldbewusstseins darüber, dass man mit der Tötung eines Lebewesens etwas Irreversibles getan und in einen Lebenszusammenhang auf eine nicht mehr umkehrbare, nicht mehr gutzumachende Weise eingegriffen habe. Das Opfer macht das getötete Tier gewissermaßen wieder heil, stellt es wieder her. Burkert bringt die Entstehung der Tragödie mit dieser Ursprungsgeschichte, wie ich es nennen möchte, der Doppelstruktur des menschlichen Bewusstseins in Verbindung. Mir geht es hier nur darum, dass diese Ursprungsgeschichte sich als Keim des menschlichen, selbstreflexiven Gewissens verstehen lässt, das menschliches Verhalten prüft und dann womöglich regulieren kann.Footnote 34

Die andere Position, die ich ins Spiel bringen möchte, ist die des Romanisten und Religionsphilosophen René Girard, der – ich verkürze erneut eine komplexe Theorie auf den für mich zentralen theologischen bzw. religionsphilosophischen Punkt – das Sündenbock-Modell als zentral für menschliche Kulturgeschichte ansieht. Schon ganz ohne größere theoretische Reflexion können wir aus eigener Erfahrung sagen, dass der ‚Sündenbock‘ in der Tat ein grundlegendes soziales Phänomen ist. Wenn Menschen sich zu einer sozialen Gruppe zusammenfinden, werden sie aufmerksam auf das, was sie voneinander unterscheidet. Der andere ist und hat etwas, was ich nicht bin und nicht habe. Mimetisches Begehren und mimetische Rivalität heben an. Das ist der Ursprung von Gewalt. Das psychoanalytische Modell, dass sich die mimetische Rivalität vor dem Vater und auf ihn bezogen entwickelt, muss man eigentlich gar nicht bemühen, um diese Urgeschichte der Gewalt nachvollziehen zu können. Mimetische Gewalt aber ist sozial zerstörerisch; will man das vermeiden, muss sie kanalisiert werden. Ein unschuldiges Opfer wird von der sozialen Gruppe ausgewählt; es zieht alle Gewalt nun auf sich. Die Gruppe findet wieder zusammen in der Stigmatisierung und Ausstoßung des einen, dem alle Schuld an Spannungen und Misslingen zugeschrieben wird. Wenn man im Fußballspiel nichts Gescheites zustande bringt und womöglich verliert, war es natürlich der Schiedsrichter. Wenn ich mir den Kopf anstoße, war es der, der die Schranktüre offengelassen hat.Footnote 35

Wie ist aber die ewige Wiederkehr des Gewaltmechanismus zu durchbrechen? Hier nun wendet sich Girards freudianisch motivierte Gewalttheorie in eine Gewalt- und Opfertheologie. In Jesus Christus sieht Girard den gewissermaßen ultimativen Sündenbock (und in seinem geschichtlichen Auftreten deshalb eine Zeitenwende), der, vollkommen unschuldig (Pilatus: „Ich finde keine Schuld an ihm“), die Gesellschaft durch zugespitzte Reden und unkonventionelles Handeln herausfordert und sich nun im Gerichtsverfahren und im Prozess der Hinrichtung vor aller Augen sogar selbst bewusst zum Sündenbock macht. So nimmt er alle Schuld der Gesellschaft auf sich, versöhnt die Gesellschaft und integriert sie: Schaut mich an! Ich leide für euch alle ganz und gar unschuldig. Jetzt kann von euch keiner mehr sagen, er habe nicht gewusst, wie schnell Gewalt ausbrechen und sich auf den Einen, den Unschuldigen hin ausrichten kann, eine Gewalt, für die ihr doch selbst verantwortlich seid. Ich bin das Ein-für-allemal-Opfer. Das ist mein Anspruch. – Girard sieht im freiwilligen Opfer Jesu Christi also eigentlich einen Akt der Aufklärung über die Entstehung gesellschaftlicher Gewalt. Das ist von Adorno/Horkheimers These, der Mythos sei selbst eine erste Etappe der Aufklärung, nicht ganz fern.

Beide, und darauf kommt es mir an, Burkert wie Girard, schreiben also Religion, genauer: dem religiösen Bewusstsein, ein reflexives und aufklärendes Moment zu, das keineswegs nur mit Monotheismus und Polytheismus zu tun hat, sondern mit der Evolution der Doppelstruktur des menschlichen Bewusstseins selbst, die freilich höchst ambivalent ist. Um 1800 hat das Kleist besonders intensiv poetisch durchdacht und nach ihm viele weitere. Sie macht uns zu schaffen, stürzt uns in Selbstzweifel, verunsichert uns.Footnote 36 Sie erlaubt uns aber auch, uns selbst auf Zukunft hin zu entwerfen, Fiktionen zu bilden, zu planen, uns von außen zu betrachten, uns zu korrigieren; kurz: uns zu transzendieren. Der evolutionäre Gewinn des selbstbezüglichen Bewusstseins ist mindestens ebenso groß wie der Verlust. Die Frage ist also nicht allein, welche Bedeutung der Schritt zum Monotheismus hat, sondern vielmehr, wie die Unruhe des selbstreflexiven und mit sich selbst nicht einigen Bewusstseins einigermaßen erträglich gemacht werden kann. „Was bist du so unruhig, meine Seele, und was stürmst du so in mir?“, heißt es in Psalm 42. Und da ist das Angebot des Monotheismus doch überzeugend: „Ich bin der Herr, dein Gott“ (Jes 48,17). Augustinus beginnt seine Confessiones mit diesem Zusammenhang der unruhigen Selbstreflexion des Subjekts mit dem radikalen Bezug auf den einen Gott: „Du treibst ihn [den Menschen; WB] an, dass er seine Freude daran finde“, sich selbst in seiner Subjektivität zu reflektieren und zu überschreiten, nämlich „dich zu loben, denn auf dich hin hast du uns gemacht, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“Footnote 37 Ich soll zwar keine anderen Götter neben dir haben. Aber an dich kann ich mich immer auch wenden in meiner Not und meiner Unruhe. Der eine Gott ist der ‚Ich bin immer da und immer genau für dich da‘. Er kennt mich sogar in meiner tiefsten Subjektivität, also darin, was sonst eigentlich gar nicht mitteilbar ist. Der Beginn von Psalm 139: „HERR, du hast mich erforscht und erkannt./Du kennst mein Sitzen und mein Aufstehen, du verstehst mein Trachten von fern./Mein Wandeln und mein Liegen – du prüfst es. Mit allen meinen Wegen bist du vertraut./Denn das Wort ist (noch) nicht auf meiner Zunge – siehe, HERR, du weißt es genau.“Footnote 38 Du, konkreter Mensch in deiner Einzigartigkeit, brauchst also auch nicht noch andere Götter neben mir aufzusuchen, die für anderes gut sein könnten, weil ich für alles gut und zuständig bin. In mir hast du für immer ein umfassendes, ewiges, gültiges Gegenüber für das, was du im Kern bist: „eins und doppelt“, gespalten, reflexiv und damit auch schuldbewusst.Footnote 39 An mir kannst du zum Ich werden, weil ich der bin, der für dich immer da ist als der grundsätzlich andere. Und doch bist du mein Ebenbild (1. Mose 1,26f.) und bist damit ein für alle Mal in deiner unverfügbaren Würde anerkannt.Footnote 40 Das Ebenbild vieler Götter kann man schwerlich sein. Die anthropologische Kernaussage des Alten Testaments hat eine zutiefst humane Botschaft.

Meine weitergehende These ist also: Auf die Selbstreflexivität des menschlichen Bewusstseins ist der Monotheismus die angemessenere Antwort als der Polytheismus. Die polymythische, polytheistische „archaische“ Gewalten- und Arbeitsteilung bändigt dagegen nicht nur den Schrecken der sonst ungestaltet und unerklärt bleibenden Wirklichkeit, wie Blumenberg sagt.Footnote 41 Sie empfiehlt sich auch dann, wenn es nicht primär um den je individuellen Lebenssinn und die grundsätzliche Anerkennung des Subjekts in seiner Besonderheit und seinem Geheimnischarakter geht, sondern wenn verschiedene, konkrete religiöse Funktionen in der lebensweltlichen Praxis bedient werden müssen. In die Welt der christlich-katholischen Heiligenkultur transformiert: 14 spezialisierte Nothelfer leisten eben mehr und vor allem in den Nöten des Lebens viel Konkreteres als ein Gott, der abstrakt für alles zuständig sein soll. ‚Chefin‘ der Heiligen gewissermaßen und oberste Fürsprecherin ist aber Maria. Zentraler ikonographischer Ausdruck dieser Hierarchie ist die sacra conversazione: Maria mit dem Kind, umgeben von den Heiligen. Maria kann auch sonst noch auf ganz vielgestaltige Weise dargestellt werden. In Maria findet die interne Polymythisierung des Christentums ihren höchsten Ausdruck: eine Person in vielerlei Gestalt. Wer sich die bis heute für die religiöse Praxis hochbedeutsame Geschichte der Marienverehrung genauer anschaut, wird nicht immer unterscheiden können, ob da zu Maria als der obersten Fürsprecherin gebetet wird oder ob Maria selbst angebetet wird. Es spricht für die religionspolitische Klugheit Luthers, dass er die Marienverehrung keineswegs unterdrücken wollte. So sympathisch die Darstellung Gott-Vaters in vielen Fresken und Altargemälden oft sein mag, dieser gütige ältere Herr: Kann man ihm wirklich zutrauen zu helfen, wenn ein Bein bei der Holzabfuhr gequetscht wird oder das Pferd lahmt?Footnote 42 Die religiöse Wahrheit der Evangelien ist konkret und praktisch: Es sind genau 153 Fische, die die Jünger fangen, als ihnen Jesus erscheint (Joh. 21, 11).Footnote 43 Die Wundergeschichten Jesu lassen sich als eine solche polyfunktionale Wirksamkeit des Meisters selbst verstehen, des Mensch und also erfahrbar und konkret gewordenen Gottes, die Jesus selbst freilich immer als ein nur vordergründiges Verständnis relativiert. Und trotzdem tut er die Wunder. Wenn kein Wein beim Fest mehr da ist, schafft er ihn herbei. Auch die christliche Religion hat polytheistische und polymythische Neigungen, aus denen heraus sie ganz Konkretes zu erzählen und zu zeigen hat und praktischer werden kann als ein strikter, autoritativ geforderter Monotheismus. Von Beginn an ist die Geschichte des Christentums selbst deshalb auch eine mythologische Pluralisierungsgeschichte, die die Reformation wieder zur Raison des einen Gottes in seiner Absolutheit zu rufen versucht. Darum das reformatorische Insistieren auf der letzten Abhängigkeit des Menschen von der Gnade Gottes.

Kurz: Polytheismus und Polymythologie sind etwas für die Lebenspraxis und für Kunst und Poesie, Monotheismus ist etwas für die begriffliche Arbeit von Theologie und Philosophie.

4 Das polymythische Projekt um 1800 – eine ästhetische Lösung für ein Grundproblem der anbrechenden Moderne?

Genau das kann man nun an den drei, vier Jahrzehnten von etwa 1770 bis etwa 1810 ausgezeichnet beobachten: Sie stellen für den westlichen intellektuellen Diskurs um Religion eine Art ‚Sattelzeit‘ zur religiösen Moderne dar.Footnote 44 Für ihn, nur für ihn, den intellektuellen Diskurs, sind jetzt die Zeiten definitiv vorbei, in denen man mit einer gewissen Selbstverständlichkeit vom Glauben, wie er institutionell organisiert wurde, vom Glauben des Subjekts und von den religiösen Riten und Kulten sprechen konnte. Die Sattelzeit des (westlichen) Subjekts ist auch die Sattelzeit der Religion des Subjekts, vorsichtiger gesagt: des Bedeutungsgewinns subjektiver religiöser Vorstellungen und Überzeugungen.

Im Grunde zeichnet sich schon um 1800 ein religiöser und weltanschaulicher Synkretismus und Eklektizismus ab,Footnote 45 wie er dann für die ‚vagierende‘, nicht kirchlich-konfessionell gebundene Religiosität um und nach 1900 erst recht kennzeichnend ist. Das ist einer der vielen Gründe, die Moderne schon mit der frühen Romantik beginnen zu lassen: Ein ganzes Tableau von wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Positionen breitet sich um 1780, 1790 aus, in England, Frankreich, Deutschland. Man muss nur zugreifen und klug und geschickt kombinieren. Der Beginn der Moderne erweist sich als eklektische Konstellation. Damit will ich aber den Anbruch der religiösen, ästhetischen und philosophischen Moderne überhaupt nicht kulturkonservativ abwerten. Hölderlin zum Beispiel wird angeregt vom schwäbischen Chiliasmus, von Pietismus, Kabbalismus, Spinozismus, Platonismus, und entwickelt nicht zuletzt daraus eine poetische Deutung von Geschichte und Gegenwart, wie sie die Literaturgeschichte zuvor nie gesehen hat. In diesem Synkretismus treibt er die poetische Sprache an den Rand des poetisch Sagbaren und irgendwie noch dem Verstehen Zugänglichen. Warum ich gerade Hölderlin erwähne, wird sich gleich noch genauer zeigen.

In der Geschichte der literarischen Utopie spielt die Regelung von Religionsfragen eine wichtige Rolle, in der politischen Philosophie der frühen Neuzeit auch. Wieviel Autonomie darf Religion beanspruchen? Wann droht sie zu einer politisch relevanten Gegenmacht zu werden, die Ordnung und Integration des Gemeinwesens gefährdet? Spinoza und Hobbes unterscheiden zwischen einem öffentlichen religiösen Kult einerseits, der Sache des Staates zu sein hat, und individueller Religiosität andererseits. Der Staat muss das Monopol auf die öffentliche, institutionelle Seite von Religion haben. Geistliche und weltliche Gewalt müssen um der Erhaltung des Friedens und der Vermeidung des Bürgerkrieges willen in einer Hand zusammenfallen, wenn der Rückfall in den für alle bedrohlichen, weil rechtlosen Naturzustand dauerhaft verhindert werden soll. An Sinn und Nutzen für den Staat muss sich öffentliche Religion orientieren. So Spinoza im Tractatus Theologico-Politicus von 1670.Footnote 46 Was aber nicht kontrolliert werden kann, die persönliche Religiosität, die persönlichen religiösen Gefühle und Auffassungen, sollte der Staat gar nicht erst zu kontrollieren versuchen. Er muss es auch solange nicht, wie diese religiöse Privatsphäre (und genau sie zeichnet sich hier ab) nicht öffentliche Relevanz beansprucht und sich nicht in Widerspruch bringt mit dem öffentlich und politisch Gebotenen.

1913 wurde in Berlin das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus bekannt (entstanden ist es um 1796/1797). 1917 hat es Franz Rosenzweig ediert, der ihm auch diesen Titel gab.Footnote 47 Es liegt zwar in Hegels Handschrift vor. Aber inzwischen ist es weitgehend Forschungskonsens, dass alle drei Stiftsfreunde, Hegel, Hölderlin und Schelling, daran beteiligt waren, obwohl es erst nach ihrer gemeinsamen Zeit im Tübinger Stift verfasst wurde.Footnote 48 Zwischen 1795 und 1800, also in der Phase, als die Terreur, in die die Französische Revolution übergeht und mit der sie sich selbst zu verraten beginnt, in Deutschland mit wachsendem Entsetzen wahrgenommen wird, entstehen einige geistig ungeheuer wagemutige, experimentell denkende Entwürfe, die Poesie und Poetologie, Philosophie, Religion, Gesellschaft und Politik in einen ‚systematischen‘ Zusammenhang bringen wollen. Die wichtigsten darunter sind: erstens Hölderlins fragmentarischer, in seiner inneren Ordnung umstrittener Versuch, dem die Forschung behelfsweise den Titel Über Religion gegeben hat (ebenfalls 1796/97); zweitens das bereits genannte Systemprogramm; drittens Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie, die er in sein Gespräch über die Poesie einbaut (1800 im Athenäum erschienen); und viertens Novalis’ provokante Rede Die Christenheit oder Europa (1799). Alle diese Texte kann man auch als ziemlich großformatige, hochfahrende Projekte verstehen, die in der deutschen Literatur der Gegenwart durch den Schriftsteller Karl-Heinz Ott jüngst schwer unter Beschuss geraten sind.Footnote 49

In Hölderlins Fragment Über Religion wird gefordert, „daß ein höherer mehr als mechanischer Zusammenhang, daß ein höheres Geschick zwischen“ den Menschen sein müsse: „Jene unendlicheren mehr als notwendigen Beziehungen des Lebens können zwar auch gedacht, aber nicht nur bloß gedacht werden“. Die Vernunft müsse deshalb sinnlich werden. Das fordert auch das Systemprogramm, und darum sei eine ‚neue Mythologie‘ nötig. Die alte Religion könne das nicht mehr leisten; sie sei verbraucht, auch in ihrer sinnlichen Überzeugungskraft. Ermöglicht werden muss deshalb eine neue, überzeugende Anschauung, in der sich auf ästhetische Weise Gemeinschaft herstellt. Was bedeutet, dass dieser Zusammenhang in der gesellschaftlichen Praxis nicht mehr existiert.Footnote 50 Es geht also, wie Hölderlin sagt, um „jene[n] höhere[n] Zusammenhang“, der aisthetisch, d. h. mit den Sinnen erfahrbar sein müsse.Footnote 51 Modern könnte man mit einem Begriff von Cornelius Castoriadis sagen: um ein ästhetisch verbindliches, ‚kollektives Imaginäres‘.Footnote 52 Historisch gesehen, heißt das: eben um das Projekt einer neuen Mythologie, die, in Formeln von heute, wieder ‚bunter‘, ‚diverser‘, lebendiger werden müsse als die der alt gewordenen Religion.Footnote 53 Dazu braucht es aber die Kunst, weil die etablierten monotheistischen Religionen genau das nicht mehr leisten. „In der Überführung“, so der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser, „des Imaginären als eines Diffusen in bestimmte Vorstellungen“, wie es in den Fiktionen der Kunst der Fall sei, „geschieht ein Realwerden des Imaginären“.Footnote 54 Was in der Kunst geschieht, ist demnach viel mehr als nur ‚Repräsentation‘, sondern sinnlich erfahrbare Verwirklichung von etwas, was sonst nicht fassbar und vorstellbar wäre – für Hölderlin, Novalis und Friedrich Schlegel eben eines sich symbolisch darstellenden, sich zeigenden neuen Zusammenhangs der Gesellschaft. Nur: Wie soll das gehen? Das bleibt bei den Projektemachern offen. Es ist kein Zufall, dass Novalis auf eine poetische Runderneuerung des alten, ritual-religiösen Katholizismus in seiner Universalität drängt, der schon immer, seit der Gegenreformation aber besonders, auf seine visuell-ästhetische Überzeugungskraft setzt, und dass Schlegel und Brentano etwas später gleich ganz zum Katholizismus zurückkehren.Footnote 55

Damit werde, so Hölderlin, zugleich eine lebendige Selbst- und Sozialerfahrung des Menschen möglich. Hölderlin:

Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, daß mehr als ein Maschinengang, daß ein Geist, ein Gott, ist in der Welt, aber wohl in einer lebendigeren, über die Notdurft erhabenen Beziehung, in der er stehe mit dem was ihn umgibt. (Über Religion, S. 565)

Dieser beklagte „Maschinengang“ ist eine Metapher für die Konsequenzen des Positiv-Werdens von Religion. Positiv zu werden heißt, dogmatisch zu werden, sich in Regeln und Gesetzen zu institutionalisieren. Die Metaphorik des Mechanischen und Maschinellen wird in der selbst schon aufklärungskritischen Spätaufklärung (und auch später) immer wieder in kritischer Absicht eingesetzt, wenn deutlich werden soll, wie sich das Soziale und das Politische nicht entwickeln dürfen und was mit ihnen womöglich doch schon geschehen ist.Footnote 56 Was aus dem spätaufklärerischen Ideal des ‚ganzen Menschen‘ geworden ist bzw. wie weit entfernt die Deutschen um 1800 davon sind, wird in der berühmten Scheltrede von Hölderlins Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797/99) unmissverständlich gesagt.

Besonders das Älteste Systemprogramm kann mit seiner zentralen Formel – „Monotheismus der Vernunft und des Herzens“ und „Polytheismus der Einbildungskraft“ – als ein Schlüsseltext dieser selbstreflexiv gewordenen Aufklärung an der Schwelle zur Frühromantik gelten und in meinem Zusammenhang Aufmerksamkeit beanspruchen. Man könnte diese Formel des Systemprogramms vielleicht so verstehen: Wir müssen uns darauf verlassen, dass uns ein gemeinsames Vermögen der Vernunft und des „Herzens“ – man darf also wohl sagen, auch im Blick auf das Folgende: ein Vermögen der Liebe, die Hölderlin in seiner Ode Die Liebe emphatisch anruft – gegeben ist.Footnote 57 Das gilt auch in Sachen ‚Religion‘. Wir sind, sagt diese Formel, ‚natürliche‘ Wesen, die eine lebendige, vielfältige Einbildungskraft und Erfahrungsfähigkeit haben und sie auch brauchen. Durch sie und in ihr kann nicht nur ein kollektiver Zusammenhang ästhetisch entstehen, eine ästhetische Gemeinschaft, sofern diejenigen, die eine hinreichende Gestaltungskraft haben, dafür auch die Verantwortung übernehmen. Dank unserer Einbildungskraft individualisiert sich Religion aber auch. Denn jeder muss das Ästhetische immer in sich selbst realisieren. Dass man in Religion immer mit beidem rechnen muss, sagte ich eingangs schon. Wie grundlegend dieses Problem ist, wird leicht unterschätzt. Denn Religion ist, noch einmal, mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert unabweisbar zu einer Sache des Subjekts geworden, wie Schleiermacher in seinen Reden Über die Religion (1799) entwickelt. Das steht ihrem Sitz in der Gemeinschaft und ihrer Bedeutung für die Gemeinschaftsbildung aber nicht unbedingt entgegen. Die vierte Rede Schleiermachers trägt den Titel Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum. Berühmt geworden ist Schleiermachers Formel vom „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (aus der zweiten Rede).Footnote 58 Sie besagt auch, dass Religion auf ein Sensorium im Subjekt selbst nicht verzichten kann, also ein umfassendes, nicht nur intellektuelles Verständnis für Religion im Subjekt. Genau das, was Hölderlin und die Verfasser des Systemprogramms im Sinn haben. Religion ist Sache unserer menschlichen Aisthesis, unseres Spürens, Schmeckens und Fühlens – unserer aisthetischen, ästhetischen Erfahrung und Begabung. Mystik und Pietismus haben davon längst ‚gewusst‘,Footnote 59 bevor die späte Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts dies theoretisch-philosophisch zu reflektieren beginnt.

Dieser für den bildungsbürgerlichen Religionsdiskurs seit dem 19. Jahrhundert wichtige Aspekt der Individualisierung von Religion ist für die gesamte Moderne grundlegend. Kult und Ritual sind dagegen vergemeinschaftende religiöse Praktiken. Wenn ihnen aber keine Semantik zugrunde liegt und sich in ihnen realisiert, sind sie eben nicht mehr als bloß ‚positiv‘ gewordene, äußere Verrichtungen. Also bedarf es der Liebe – bei Hölderlin wie bei anderen Autoren später ebenfalls (Rilke; Stefan George, dem man das vielleicht gar nicht unbedingt zutraut; Hugo von Hofmannsthal; Georg Heym, der selbst einen wenig bekannten Text über Religion verfasst hatFootnote 60). Aber die Liebe selbst muss sich auch zeigen und sozial erfahrbar machen; sonst bleibt sie ein abstraktes Postulat. Das ist schon für das Neue Testament wichtig: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ (Joh 13,35). – Erst recht kann das, was Religion, vielleicht eher noch: das Religiöse, für mich mit meinem Bewusstsein und meinem Selbstverhältnis, ja meinem Selbstgefühl ist, von den gemeinschaftlichen Ritualen und Kulten allein her nicht entschieden werden.Footnote 61

Die Subjektivierung von Religion muss jedoch, so Hölderlin – und nun folge ich dem Gedankengang des Fragments Über Religion noch etwas genauer –, nicht notwendig zur völligen Zersplitterung der religiösen Vorstellungen führen; sie darf das auch gar nicht. Denn Menschen leben in gemeinsamen geschichtlich-kulturellen ‚Sphären‘, in denen sich der ‚höhere Zusammenhang‘ unter ihnen in ihrer sozialen Praxis zeigt. So wird aus ihm mehr als ein bloßer moralischer ‚Gedanke‘ und ein bloß „mechanischer“ Zusammenhang:

So kann man von den Pflichten der Liebe und Freundschaft und Verwandtschaft, von den Pflichten der Hospitalität, von der Pflicht, großmütig gegen Feinde zu sein, man kann von dem sprechen, was sich, für die oder jene Lebensweise, für den oder jenen Stand, für dies oder jenes Alter oder Geschlecht schicke. (Über Religion, S. 564)

In dieser Formulierung wird ein wenig klarer, was Hölderlin mit dieser ziemlich vagen Formel vom ‚höheren Zusammenhang‘ denn meinen könnte: eine in sich differenzierte, angemessene und humane soziale Praxis. In der Liebe „überschreitet ein Wesen die ‚Sphäre‘ seiner Individualität“.Footnote 62

Man darf aber nicht vergessen, dass Hölderlins Über Religion ein Fragment ist. Allein schon die Anordnung der Textteile ist bis heute strittig. Dennoch sieht es in der zitierten Passage zunächst so aus, als wolle Hölderlin gewissermaßen nur konkretisieren, was man heute als den sozialen Kitt bezeichnen würde, den Lessing im Gefühl des Mitleids sieht, das bei ihm durch das Theater kultiviert und sogar habitualisiert werden soll.

Doch dann vollzieht Hölderlins Versuch eine dialektische Volte: Sogar die soziale Praxis des Mitleids und der Liebe ist immer in der Gefahr, ‚positiv‘ zu werden. Hölderlin fährt fort:

[W]ir haben aus den feinern unendlichern Beziehungen des Lebens zum Teil eine arrogante Moral, zum Teil eine eitle Etiquette oder auch eine schale Geschmacksregel gemacht, und glauben uns mit unsern eisernen Begriffen aufgeklärter, als die Alten, die jene zarten Verhältnisse als religiose […] betrachteten […]. (Über Religion, S. 564)

Über diese „arrogante Moral“ hinauszukommen wäre diese so notwendige, „eben die höhere Aufklärung“: „Jene zartern und unendlichern Verhältnisse müssen also aus dem Geiste betrachtet werden, der in der Sphäre herrscht, in der sie stattfinden.“ (Über Religion, S. 565; meine Hervorheb.) Erneut eine schwierige Formulierung, mit der Hölderlin das Verbindende, das ‚Religiose‘, das zu jeder Zeit und so auch zu seiner Zeit nottue, immer zugleich geschichtlich zu denken versucht. Es ist deshalb unmöglich, einfach nur zu den Formen und Praktiken der ‚Alten‘ zurückzukehren bzw. sie naiv wiederbeleben zu wollen. Also auch keine Rückkehr zu den alten Mythen und zur alt gewordenen christlichen Religion. Beide müssen sie für etwas Neues aber das mytho-semantische ‚Material‘ liefern. Seine poetische Konstruktion des kommenden Gottes ‚Dionysos-Christus‘ ist dafür zentral. Das ‚Religiose‘ muss also zu jeder geschichtlichen Zeit und in jeder geschichtlichen ‚Sphäre‘ neu aus dem je eigenen geschichtlichen ‚Geiste‘ heraus verstanden und damit, so wäre hinzuzufügen, von uns in unserer geschichtlichen Zeit auf die uns gemäße Weise gemacht werden.Footnote 63 Nur so kann, wenn überhaupt, ‚das Religiose‘ zum wahren ‚Medium‘ des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhangs zwischen den Menschen werden.

Könnte es das wirklich? Das Problem ‚Religion‘ kann auf jeden Fall nicht ein für alle Mal durch eine institutionalisierte, ‚positive‘ Religion gelöst sein. Darum zieht Hölderlin vielleicht auch den vageren Begriff des ‚Religiosen‘ dem der ‚Religion’ vor. Dieses ‚Religiose‘ impliziert kommunikative Beweglichkeit und Prozesshaftigkeit, meint also gerade nicht die stabile Ordnung und Statik vormoderner, kirchlich verfasster bzw. institutionell organisierter Religion mit ihrem stabilen mythischen System. Das öffnet Hölderlins Entwurf für die anbrechende Moderne und ähnelt doch einer Quadratur des Kreises.

Ich will die Rekonstruktionen hier abbrechen: Die schöne Formel des Systemprogramms vom „Monotheismus der Vernunft und des Herzens“ und vom „Polytheismus der Einbildungskraft“ fordert die ganze Anstrengung des Menschen selbst heraus, diese zwei Welten in sich irgendwie in Übereinstimmung zu bringen und in der gesellschaftlichen Praxis wirksam werden zu lassen. Er ist dabei immer in der Gefahr, sich zu überfordern. Alain Ehrenberg hat das einmal auf die passende Formel vom ‚erschöpften Selbst‘ gebracht, das in der Moderne ständig drohe.Footnote 64 Das gilt vielleicht auch für die Anstrengungen in Fragen der Religion. Die junge Romantik, die wohl erstmals ständige Bewegung, unendlichen Progress, unabschließbare, fragmentarische Sinnerfahrungen als Kennzeichen der neuen Epoche, die mit ihr anbreche, begriffen hat, hatte nicht zufällig eine besondere Neigung zum ritualreligiösen Katholizismus. In der Tat sind, man kann es heute überall beobachten, die grundsätzliche, moderne, zukunftsoffene Prozesshaftigkeit und Konflikthaftigkeit, das oberste Kommunikationsprinzip moderner Demokratien, anstrengend. Autoritäre Staaten bevorzugen darum einen Reaktionstyp darauf: einfache Antworten auf hochkomplexe Fragen.

Wäre da nicht die Wiederbelebung des alten Polytheismus bzw. der Polymythien eine mögliche Lösung? Kann man Mythen machen?Footnote 65 Schillers sentimentalisch gefärbtes Großgedicht Die Götter Griechenlands scheint es nahezulegen. In der Entstehung und Entwicklung der Ethnologie im 19. Jahrhundert zeichnet sich ab, wie daraus auch ein wissenschaftliches Programm werden kann. Die moderne Faszinationsgeschichte für andere, vielgestaltige Religionen ist lang. Dennoch muss man sich vor einer sentimentalischen Verklärung von Religion überhaupt und also auch vor einer Verklärung von Polytheismus und Polymythie hüten, zu der die Moderne seit Schiller und der Frühromantik neigt.

Die Verklärung der Polymythie, die man noch bei Hans Blumenberg und Odo Marquard durchhören kann, scheint heute eine Art von Wiederauferstehung in einer sentimentalischen Verklärung von Diversität zu feiern. Diversität lässt sich als eine neue Spielart von Polymythie verstehen. Aber ‚bunt und vielfältig‘ muss nicht per se gut sein. Diversität allein hält nämlich keine Gesellschaft zusammen. Je bunter und je vielfältiger Gesellschaften sind, desto mehr Elemente sind im kulturevolutionären Spiel. Das kann neue, zukunftsweisende Ideen und Praktiken hervorbringen, die wir ohne Zweifel unbedingt brauchen. Aber es ist doch immer auch ein Machtspiel, in dem der gerade Stärkere triumphiert. Der Stärkere ist jedoch, banal zu betonen, nicht unbedingt der Bessere bzw. der für die Menschheit Bessere! Das polymythische Ideal der Zeit um 1800, wenn wir uns denn auf es besinnen wollten, offeriert letztlich eine primär poetisch-ästhetische Perspektive, die die Literatur und die bildende Kunst seit dem Orientalismus und z. B. seit Gauguin zwar bereichert hat. Aber mehr sollte man ihm nicht zumuten. Schon zu Zeiten Hölderlins, Schlegels, Schillers ging es eher um eine Neubestimmung der sich nun autonom begreifenden Künste,Footnote 66 denn um Religion und religiöse Mythologie.

Und jetzt müsste ich wieder auf Habermas und Hans Küng zurückkommen: Wir haben keine andere Wahl, wenn diese Welt nicht ganz aus den Fugen geraten soll. An all der bunten Diversität der (religiös-rituellen) Kulturen der Welt (und der Künste) dürfen wir trotzdem unsere Freude haben; und wir sollten ihnen ihr kulturelles Recht zugestehen. Aber wir müssen immer auch danach fragen: „Was ist den Menschen gemeinsam“?Footnote 67 Das war schon eine Grundfrage der Aufklärung, und die Künste können sie mit ihren Mitteln nicht beantworten. In Zeiten unauflösbarer globaler Vernetzungen und Abhängigkeiten und angesichts der heraufziehenden Klimakatastrophe ist vielmehr ein ‚Weltethos‘ notwendig. Ein, wenn man so will, ‚Monotheismus‘ universeller, gemeinsamer Grundwerte ist zwingender denn je.