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1 Einleitung

Vorstellungen oder Fantasien menschlicher Gemeinschaften über ihre jeweilige natürliche, soziale und politische Umwelt waren immer schon sehr vielfältig; aber dass die Welt, in der sie lebten, eine bestimmte Ordnung hatte, das haben Menschen zu allen Zeiten angenommen. In die frühen Auffassungen oder Bilder von Weltordnung war immer der Kosmos einbezogen, spielten andere Akteure als die Menschen, also Tiere, Fabelwesen, Geister und vor allem Götter und Göttinnen, eine wichtige Rolle. Die mythisch oder religiös geprägten historischen Weltbilder haben sich freilich mit der Moderne fast überall weitgehend säkularisiert.

Weltordnungskonzepte befassen sich nicht nur damit, wie die Welt tatsächlich strukturiert oder organisiert ist, sondern auch damit, wie sie sein oder wie sie verändert werden sollte. Dabei lässt sich gar nicht so leicht einvernehmlich entscheiden, was denn überhaupt eine gute (Welt-)Ordnung wäre. Das reicht von Minimalbedingungen für Koexistenz bis zu einer Ordnung, die Kooperation institutionalisiert und Konflikte so weit einhegt, dass alle Nationen in mehr Frieden und Wohlstand leben und Minimalstandards für Menschenwürde einhalten (Hurrell 2007, S. 2 und 5). In der Friedensforschung werden öfter als zentrale Kriterien für eine (Welt-)Friedensordnung Schutz vor Gewalt (Frieden), Schutz vor Repression (Freiheit), Schutz vor Not (Wohlstand) und Schutz vor Chauvinismus (Identität) genannt (z. B. bei Senghaas 2004). Das Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 war ein besonderer historischer Moment, der ähnlich wie die Umbrüche von 1815, 1919 oder 1945 Überlegungen über großräumige Neuordnungen Schubkraft verlieh. Viele Beiträge aus dem Völkerrecht und den Internationalen Beziehungen (IB) konzentrierten sich noch in den frühen 2000er-Jahren darauf, wie unter den neuen verheißungsvollen Bedingungen Frieden, Recht, Gerechtigkeit, Partizipation und der Schutz der Ressourcen und der Umwelt aus einer kosmopolitischen Perspektive gedacht und umgesetzt werden könnten. Im Laufe der letzten 15 Jahre haben sich die Chancen für Weltverbesserung jedoch wieder erheblich verschlechtert, und der Eroberungs- und Zerstörungskrieg Russlands gegen die Ukraine seit Februar 2022 stellt zentrale Grundlagen einer stabilen Weltordnung wie die Anerkennung der Souveränität und territorialen Integrität von Staaten erneut dramatisch in Frage.

Die Weltordnungskonzepte, die wir diskutieren, stehen in enger Verbindung mit der politischen Theorie und den Theorien der Internationalen Beziehungen (hier: Realismus, Liberalismus, Institutionalismus, Marxismus und Postkolonialismus). Sie sind eingebettet in den Prozess der Globalisierung, der den Entwürfen für eine politische Ordnung der heutigen Welt die empirischen Voraussetzungen liefert. Wir konzentrieren den Blick dabei auf die (asymmetrische) Entwicklung des neuzeitlichen Staatensystems zusammen mit der Entfaltung des kapitalistischen Weltmarkts und der Weltgesellschaft/International Society sowie auf Herausforderungen und Perspektiven für Global Governance.

2 Souveränitätsbasierte Weltordnungen

2.1 Die Welt der Staatenkonkurrenz

Seit der europäischen Neuzeit ist eine Welt von Staaten, die miteinander in Konkurrenz stehen, die vorrangige Ordnungsvorstellung. Die längste Zeit davor lebte die Menschheit entweder in vorstaatlichen, von Umfang und Bevölkerungszahl begrenzten Sozialverbänden oder in Großreichen bzw. Imperien. Idealtypisch verfügen Staaten über erkennbare und fixierte Grenzen, zumindest beanspruchen sie einen fest umrissenen Raum. Durch den europäischen Staatenbildungsprozess entstanden Gesellschaften, die ihren Bürgern Sicherheit und Ordnung, vor allem Schutz vor Bürgerkrieg, prospektive auch Wohlstand versprachen. Nach außen hin sind Staaten souverän, d. h. letztendlich sind sie in ihren Entscheidungen (zu Krieg und Frieden) frei und nur dem Imperativ der Selbsterhaltung verpflichtet. Nach konventioneller Lesart haben sich dieser Prozess und die damit verbundenen Ordnungsvorstellungen in einem europäischen Kontext entwickelt. Dieses souveränitätsgebundene Weltordnungsmodell aus Europa wurde demnach mit dem Kolonialismus und Imperialismus universalisiert, in erster Linie mit militärischer Gewalt der „Kolonialherren“, in zweiter mit der Sozialisation der sich in den kolonisierten Gebieten herausbildenden einheimischen politischen Eliten (Reinhard 2016, S. 1255–1321). Im Ergebnis seien aus dem Entkolonialisierungsprozess überall Staaten entstanden, die sich am europäischen Souveränitätsmodell orientieren. Zu dieser Entwicklung gehört das Völkerrecht, das zunächst fast ausschließlich für die europäischen Staaten galt, die sich für zivilisiert hielten (vgl. Koskenniemi 2010), nicht für die „Wilden“ und „Halbwilden“. Mittlerweile ist es vor allem ein universales Staatenverkehrsrecht (Vitzthum und Proelß 2019).

Das staatenzentrierte Weltordnungsmodell beruht auf der Annahme, dass die Lösung für ein Grundproblem menschlichen Lebens, nämlich für die Möglichkeit, dass ein Mensch einem anderen nach dem Leben trachtet (der potenzielle „Kampf aller gegen alle“) vor allem in der Einrichtung des Staates mit einem Gewaltmonopol liegt. Was im innergesellschaftlichen Bereich nach langen, z. T. auch gewaltsamen Auseinandersetzungen erreicht wurde, die Etablierung einer souveränen Staatsgewalt, lässt sich allerdings auf zwischenstaatlicher Ebene allenfalls konzeptionell als „Weltstaat“ denken, aber faktisch nicht realisieren. Dennoch gibt es eine Art Ordnung, denn auch in der Welt der Staaten gibt es Regeln, vereinbarte oder auf Konvention beruhende.

Die IB-Theorie des Realismus geht davon aus, dass die Konkurrenz um Macht und Sicherheit, die sich aus der „Anarchie“ der Staatenwelt ergibt, prinzipiell nicht überwindbar, sondern allenfalls einhegbar ist und dass Frieden immer gefährdet bleibt und Staaten deshalb zu ihrer Sicherheit und bei Strafe des Untergangs auf Machtpolitik setzen müssen; und zwar alle Staaten, unabhängig von ihrer inneren Verfasstheit (Masala 2016; Mearsheimer 2018). Der Logik dieses Weltordnungsmodells entspricht im Extrem-, früher oft der Normalfall, der zwischenstaatliche Krieg um gegensätzliche „nationale Interessen“. Dabei kann die Staatenkonkurrenz auch aus geopolitischen grand games um Rohstoffe und Einflusszonen bestehen. Dass dennoch nicht ständig Krieg herrscht, liegt an zwei Verhaltensmustern, die die Weltpolitik bestimmen. Zum einen pendelt sich gewissermaßen hinter dem Rücken der Staaten immer wieder ein Machtgleichgewicht ein (Waltz 1979), das sie zu einem vorsichtigen Verhalten veranlasst; zum anderen kann Hegemonie, d. h. die beherrschende Stellung eines Staates, Kooperation in Form von Bündnissen oder internationalen Regimen ermöglichen (vgl. u. a. Gilpin 1981; Walt 1987; Hasenclever et al. 1997). Die Gewährleistung der staatlichen Autonomie durch militärische Rückversicherung bleibt in diesem Modell jedoch Grundlage der internationalen Politik.

Der realistischen Sicht auf Weltordnung liegt vielfach eine utilitaristische Ethik der politischen Klugheit zugrunde, sie ist keineswegs eine Kriegs-, sondern weitgehend, wenn auch nicht durchgängig, eine Kriegsvermeidungs- und Friedenstheorie (Lebow 2003; Masala 2011; vgl. aber auch Vitalis 2015 und Specter 2022). Allerdings basiert sie auf einer Vorstellung von der Welt, die sich am Muster der europäischen Politik des 18. und 19. Jhdts. orientiert, in der z. B. Allianzwechsel, z. T. sogar während Kriegen, üblich waren und Außenpolitik als „Billardspiel“ von gesellschaftlichen Einflüssen weitgehend unbeeinflusst blieb. Die europäische Gleichgewichtspolitik des 19. Jhdts., die Realisten als Vorbild ansehen, war nur um den Preis möglich, dass im „Rest der Welt“ die europäischen Staaten um Einfluss und Kolonien auf Kosten der einheimischen Bevölkerung konkurrieren konnten. Das Denken in den Kategorien des Realismus ist somit auch ein spezifischer Reflex auf die europäische Mächterivalität, der durch die Erfahrungen mit Nationalsozialismus, Stalinismus, dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg im 20. Jhdt. sowie aktuell durch Russlands Krieg gegen die Ukraine immer wieder neu bekräftigt wurde. Trotz dieser „eurozentrischen“ Perspektive sind Machtrivalitäten zwischen Staaten, auch in Asien oder Afrika, zumindest teilweise mit dem realistischen Paradigma erklärbar (vgl. etwa Henderson 2017), selbst dort, wo Staatlichkeit zerfällt und Anomie herrscht.

Offensive Machtpolitik ist keineswegs das einzige Problem im Realismus. Grundsätzlich können auch zwei defensiv orientierte Mächte oder rivalisierende bewaffnete Gruppen, die nur auf ihre Sicherheit bedacht sind, aber dafür eben auch bewaffnete Vorsorge treffen, nicht nur in eine Sicherheitskonkurrenz, sondern auch in eine am Ende nicht mehr kontrollierbare Eskalationsspirale geraten. Hinzu kommt, dass Staaten oft nicht sicher sind, ob sie sich in einem reinen Sicherheits- oder eben doch in einem realen Machtkonflikt befinden. So stehen sich auch im Falle des Krieges gegen die Ukraine zwei Argumentationslinien gegenüber. Die eine betont, der Westen hätte viel früher gewarnt sein können, habe sich aber leichtfertig in seiner Friedensdividende und in seinem mit russischen fossilen Brennstoffen abgesicherten Wohlstand eingerichtet und gerne am Geld der russischen Oligarchen, die ihr eigenes Land gnadenlos ausbeuteten, mitverdient. Nicht nur die ukrainische Führung, sondern auch einige westliche Politiker sagen heute, es sei ein Fehler gewesen, die Ukraine nicht in die NATO aufzunehmen. Die andere Position hält dagegen, die NATO habe seit der deutschen Wiedervereinigung ihre Macht immer weiter nach Osten verschoben und sich dabei fahrlässig über berechtigte, zum Teil historisch bedingte russische Sicherheitsbedenken und Warnungen hinweggesetzt. Sie trage somit eine erhebliche Mitverantwortung für die aktuelle Krise. Sorgen um die eigene Sicherheit gab es freilich auf beiden Seiten; vor allem bei den Völkern in Osteuropa, die aufgrund ihrer historischen Erfahrungen und aktueller russischer Probleme mit schweren Krisen im Demokratisierungsprozess und mit alten und neuen gewaltsamen Nationalitätenkonflikten Sicherheit in Europa eher vor als mit Russland suchten und sich durch die kriegerische Aggression gegen die Ukraine jetzt bestätigt finden.

Sieht der Realismus, dem meist ein skeptisches Menschen- und Geschichtsbild zugrunde liegt, zwischenstaatliche Kooperation in der Weltpolitik als prinzipiell instabil an, so geht das Weltordnungskonzept des Institutionalismus zwar ebenfalls von der Denkfigur einer „Anarchie“ der Staatenkonkurrenz aus, es betrachtet sie aber als durch Interdependenz und internationale Institutionen abgemildert. Der Institutionalismus, der manchmal zum Liberalismus gerechnet wird, manchmal als eine eigenständige Theorietradition gilt, nahm in den 1970er-Jahren einen großen Aufschwung. Er verspricht sich von der wirtschaftlichen und kommunikativen Globalisierung, den wachsenden transnationalen Aktivitäten gesellschaftlicher Akteure und den damit verbundenen politischen und rechtlichen Absprachen erhebliche friedensfördernde Wirkungen (z. B. Keohane und Nye 2001; Keohane 1984). Kooperation zwischen Staaten gibt es auch ohne hegemonialen Druck und nicht selten sogar zwischen Ländern, die in Konkurrenz oder gar in Konflikt miteinander stehen. Allerdings ist sie kein Selbstläufer und von politischen Beziehungen abhängig. Institutionen können eine eigene Schwerkraft – oder Schwerfälligkeit – entfalten, die sie Krisen überstehen lassen (Middelaar 2021). Sie können aber auch in Frage gestellt oder zerstört werden, wenn Staaten ihre als vital angesehenen Interessen nicht mehr durch internationale Kooperation gewährleistet sehen. Der Brexit und der amerikanische Rückzug aus zahlreichen wirtschaftlichen und politischen Vereinbarungen und Verabredungen unter Donald Trump sind wichtige jüngere Beispiele dafür. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die darauf folgenden Sanktionen des Westens stellen die institutionalistische Programmatik noch weit grundsätzlicher in Frage. Allenthalben, auch im Verhältnis zu China, rücken existenzielle Risiken wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Staaten in den Vordergrund; denn in „Interdependenz“ steckt nicht ja nur das „inter“, sondern auch die „Dependenz“.

2.2 Liberale (Welt-)Friedensordnungen

Neben dem Realismus haben in den westlich orientierten Ländern liberale Weltordungskonzepte immer eine bedeutende Rolle gespielt, auch wenn sie, wie gerade jetzt wieder, durch machtpolitisch geprägtes Verhalten autokratischer oder totalitärer Regime herausgefordert werden oder in ihrer eigenen konkreten Politik stärker machtpolitisch ausgerichtet waren und noch sind als sie nach außen vorgeben. Auch der Liberalismus in den Internationalen Beziehungen geht von der Souveränität der Staaten aus, er verbindet sie jedoch mit Vorstellungen von einer universalen Friedensordnung, die auf der Triade von Freihandel, Demokratie und internationalen Institutionen beruht.

Freihandel, Fortschritt und Frieden

Schon die europäische Aufklärung und vor allem Immanuel Kant waren der Auffassung, die „Handelsfreiheit“ führe zur Kooperation zwischen den Völkern, weil sie auf wechselseitigem Eigennutz beruhe (1795/2002, S. 33). Kants Hoffnungen auf die positiven Wirkungen des Freihandels für Fortschritt und Frieden wurden vor allem vom Liberalismus des 19. Jhdts. geteilt. Handel sei im Grunde nur eine erweiterte Form der Arbeitsteilung bzw. der Spezialisierung, von der alle profitierten. Handel habe aber auch zivilisierende und pazifizierende Effekte: Austausch fördere die Verständigung, die Begegnung oder die Verbindung wirtschaftlicher Akteure baue Vorurteile ab. Positive Bewertungen wirtschaftlicher Tätigkeit veränderten die politische Kultur, das Gewicht des Militärs und militaristische Einstellungen gingen zurück. Intensive wirtschaftliche Beziehungen werde man schließlich nicht mehr durch Krieg aufs Spiel setzen, weil das zu kostspielig wäre (hierzu und zum Folgenden Schlotter 2013).

Die positive Bewertung des Freihandels wird vor allem von Staaten vertreten, die über Konkurrenzvorteile gegenüber anderen verfügen. So fand die Freihandelstheorie in Großbritannien, dem im 19. Jhdt. ökonomisch am weitesten entwickelten Land, besonders starken Anklang; Kritik kam hingegen u. a. von Friedrich List, einem deutschen (national-)liberalen Unternehmer und Wirtschaftstheoretiker. Die fortschritts- und friedensfördernde Wirkung des Freihandels könne man nicht bei asymmetrischem Entwicklungsstand unterstellen; so würde die überlegene britische Ökonomie die noch weitgehend agrarisch geprägten Staaten des Deutschen Zollvereins niederkonkurrieren und nicht zur wirtschaftlichen Entfaltung durch Industrialisierung kommen lassen. Außerdem sei England selbst durch Schutzzölle groß geworden. Damit hatte List als einer der Ersten eine bis heute durchgängige Problematik der Moderne, nämlich das Entwicklungsdilemma, formuliert (dazu Senghaas 1977, 1982, 2012). Die Dependenz-Theorie, die ihre hohe Zeit in den Diskussionen der 1960er- und siebziger Jahre über eine neue Weltwirtschaftsordnung hatte, argumentierte ganz ähnlich. Die politische Umsetzung blieb jedoch aus verschiedenen internen wie externen Gründen vielfach erfolglos (O’Brien und Williams 2020, S. 272–275); große Teile des Globalen Südens sind weiterhin vom Export von Rohstoffen und Agrarprodukten abhängig. Die negativen Folgen solcher Asymmetrien zeigen sich bis heute bei starken Preisschwankungen und bei den sogenannten Strukturanpassungsmaßnahmen, mit denen die betroffenen Länder unter Liberalisierungs- und Flexibilisierungsdruck gesetzt werden, während die reichen Länder durchaus an ihrem Agrarprotektionismus festhalten (zu Widersprüchen des liberalen Internationalismus Jahn 2013).

Auch der positive Zusammenhang zwischen Handel und Frieden gilt nur unter bestimmten Voraussetzungen. Schon der Erste Weltkrieg zeigte, dass intensive wirtschaftliche Beziehungen nicht genügen, um einen großen Krieg zu verhindern. Umgekehrt wurde mit der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg auch deutlich, dass Protektionismus, wirtschaftliche Abschottung und (vermeintlich) autarke Großräume auf der Grundlage militärischer Eroberung auf Dauer keine stabile Alternative zum Freihandel bieten. In der Konsequenz setzte deshalb die amerikanische Grand Strategy für die Nachkriegsplanung auf das Modell eines embedded liberalism (Ruggie 1982). Im Prinzip herrschte in der von den USA hegemonial gelenkten westlichen Welt Freihandel vor, jedoch eingeschränkt durch die souveränen Staaten, die ihre eigene Wirtschafts-, vor allem Außenwirtschafts- und Geldpolitik betreiben konnten; freilich unter Aussparung „sozialistischer Experimente“, die dem Systemgegner Sowjetunion möglicherweise Vorteile verschafft hätten. So scheint sich die Friedenswirkung des Handels erst im Verhältnis zwischen „wohlgeordneten Völkern“ – dazu rechnen nicht nur Demokratien, sondern auch stabile Autokratien (Rawls 2002) – entfalten zu können, in der Regel unter dem Schirm eines hegemonialen Staates. Schwieriger ist eine Antwort auf die Frage, ob sich grundsätzlich eine konfliktdämpfende Rolle der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Demokratien und Autokratien feststellen lässt. Die Idee vom „Wandel durch Handel“, eine während des Ost-West-Konflikts verbreitete Politikvision, hat sich seit der Jahrtausendwende jedenfalls nicht mehr bestätigt.

So war Ernst-Otto Czempiel, einer der großen Pioniere der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland, in einem seiner letzten Bücher noch wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass der fortschreitende Übergang zur Marktwirtschaft in China als „unvermeidliches Beiwerk“ ein demokratisches Herrschaftssystem erzeugen werde (Czempiel 1999, S. 140). Und heute sagt Thomas de Maiziere, in den Kabinetten von Angela Merkel u. a. Kanzleramts- und Verteidigungsminister, gerade die Deutschen als Exportnation hätten immer nach der Maxime gelebt, dass Wirtschaftsbeziehungen und gegenseitige Abhängigkeiten zu mehr Stabilität führten. Jetzt lernten sie, dass auch das eine Illusion gewesen sei. Hier war die liberale Fortschritts- und Friedenstheorie also in zweifacher Hinsicht zu optimistisch. Nach wie vor ist richtig, dass Handelsbeziehungen tendenziell die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen reduzieren; aber sie sind keine Garantie für Demokratisierung (China und Russland wollen beide Handel, aber keinen Wandel) und sie können zu heiklen Abhängigkeiten führen.

Ebenso gilt, dass die Durchsetzung des Freihandels in den Ländern des Globalen Südens Konflikte befördern oder sogar zu zwischenstaatlichen Kriegen führen kann; von Lists Beobachtung, dass dadurch u. U. das Entwicklungsdilemma zementiert werde, ganz zu schweigen.

Der demokratische Frieden

Schon der Republikanismus der Aufklärung ging davon aus, dass die Verbreiterung der politischen Partizipation und Repräsentation die Kriegsneigung herrschender Eliten zügeln werde, weil mehr Menschen die Gelegenheit bekämen, über Aktivitäten mitzubestimmen, deren Lasten und Risiken sie im Zweifel selbst zu tragen hätten und nicht mehr auf andere abwälzen könnten. So war für Immanuel Kant die Französische Revolution der entscheidende Anlass, eine Friedenstheorie zu entwerfen, die sich auf eine enge Verbindung zwischen der Demokratisierung der Einzelstaaten und einer internationalen positiven Rechtsordnung stützt (Eberl 2021b, S. 131). Eine starke Republik, die „ihrer Natur nach“ zum ewigen Frieden geneigt sein müsse, könne sogar den Mittelpunkt für eine föderative Vereinigung mit anderen Staaten abgeben, um gemeinsam „den Freiheitszustand der Staaten gemäß der Idee des Völkerrechts zu sichern“ und so den „Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung“ zwar nicht völlig beseitigen, aber doch aufhalten und reduzieren (Kant 1795/2002, S. 19–20).

Als mit reichlichen Daten gesichert gilt heute die Aussage, dass Demokratien intern weniger gewalttätig sind als Nicht-Demokratien. Freilich gibt es auch hier teilweise dramatische Probleme. So landeten bei einer weltweiten Umfrage vom Juni 2018 unter fast 550 Fachleuten die beiden größten Demokratien auf einer Liste der zehn für Frauen gefährlichsten Länder: Indien auf Platz eins und die USA auf Platz 10; die Plätze zwei bis neun belegten islamisch geprägte Länder (Krell 2019, S. 23). Nicht nur personale Gewalt durch Akteure des Staates wie etwa der Polizei, sondern auch Diskriminierung oder soziale Ungleichheit generell haben auch in Demokratien oft tödliche Konsequenzen. Die Friedensbilanz der Demokratien nach außen ist zwar positiv, hat aber auch hier ihre Schattenseite (zur Bilanz vgl. Gleditsch 2020). Von 1950 bis heute hat sich die Wahrscheinlichkeit, in einem zwischenstaatlichen oder einem Bürgerkrieg umzukommen, um den Faktor siebzehn verringert. Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hat der demokratische Frieden, denn Demokratien führen so gut wie nie Krieg gegeneinander. Für ein demokratisches Russland hätte es also keinen Grund gegeben, sich von den Osterweiterungen der NATO und den Demokratiebewegungen in seinem „nahen Ausland“ bedroht zu fühlen.

Aber Demokratien führen Kriege gegen Autokratien, und zwar nicht nur zur Verteidigung. Manchmal gelingt es Demokratien, ihre Bürger und Bürgerinnen auch dann für den Krieg zu mobilisieren, wenn sie nicht wirklich bedroht oder gar angegriffen worden sind. Kann ein Regime als Schurkenstaat dargestellt werden, dann fühlen sich auch Demokratien u. U. dazu berechtigt, gegen ihn militärisch vorzugehen (Geis 2006 oder Müller 2014). Heute richtet die politische Theorie angesichts der Krisentendenzen in vielen Demokratien erneut die Frage an den Liberalismus, ob er sich nicht doch zu sehr darauf verlasse, dass die Bürgerinnen und Bürger ihr Verhalten tatsächlich an der normativen Prämisse der Gewaltfreiheit oder an ihren Kosten-Nutzen-Kalkülen ausrichten. Und selbst dem Frieden unter Demokratien kann man nicht trauen. Realisten oder Marxisten weisen gerne darauf hin, dass Demokratien oft sehr enge Beziehungen zu Diktaturen unterhalten, auf der anderen Seite auch gegen demokratisch gewählte Regierungen vorgegangen sind. Nimmt man das Nord-Süd-Verhältnis hinzu, dann gerät selbst für stabile und reife Demokratien die Unschuldsvermutung erheblich ins Wanken (Krell und Schlotter 2018, S. 182–192).

So kann man also Demokratien nicht pauschal von Machtarroganz oder gar kriegerischer Militanz freisprechen. Allerdings verweisen Realisten gerne auch auf das Gegenteil, nämlich eine „Machtvergessenheit“ von Demokratien (so z. B. schon Schwarz 1985). Eine gängige Bezugsgröße dafür sind die dreißiger Jahre des 20. Jhdts. mit der Appeasement-Politik Englands und Frankreichs gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland, dessen Zusteuern auf einen großräumigen Eroberungsfeldzug viele Entscheidungsträger und weite Teile der Bevölkerung im demokratischen Westen viel zu lange nicht wahrhaben wollten (Bouverie 2021). Im Zusammenhang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine ist erneut eine Diskussion über ein mögliches Zuviel an Friedfertigkeit in Demokratien entstanden; also ein Defizit an Wehrhaftigkeit, wie man das früher zu nennen pflegte. So ging die politische Führung in der Bundesrepublik Deutschland zwar nicht alleine, aber doch dezidiert sogar dann noch von „gemeinsamen Grundüberzeugungen“ mit Russland aus, als Wladimir Putin sein Land schon weitgehend entdemokratisiert, alle Machtapparate mit Leuten aus dem Geheimdienst und dem Militär besetzt und in verschiedenen Kriegen brutale Machtpolitik demonstriert hatte. In Stellungnahmen aus der deutschen Zivilgesellschaft finden sich bis heute Aussagen, die bei Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht einmal zwischen Angriff und Verteidigung unterscheiden. Für einen äußerst ungewissen und wenn es dazu käme wahrscheinlich sehr einseitigen Frieden soll die Ukraine still- und ihren Kopf hinhalten.

Einfacher zu beurteilen ist der Zusammenhang zwischen Diktatur und Krieg. Die Kombination aus einem Mangel an originären politischen und wirtschaftlichen Leistungen der Regierenden zugunsten der Regierten mit zunehmender Aggression nach innen zur Unterdrückung von Opposition und zugleich nach außen zur Mobilisierung kompensatorischer Zustimmung ist in der Regentschaft des „lupenreinen Diktators“ Putin mit Händen zu greifen. Anstatt die Wirtschaft voranzubringen, versucht er das Nationalbewusstsein zu stärken, indem er die eigene Kultur glorifiziert und für alle Probleme im Lande den Westen verantwortlich macht. Zu den Gründen für Russlands Aggression gehören zweifellos sicherheitspolitische Motive; aber sie werden dominiert von Ängsten über die Ansteckung durch den demokratischen „Virus“ in Osteuropa, vor allem in den unmittelbar benachbarten ehemaligen Sowjetrepubliken, und von teilweise wahnhaften Phantasien über alte und neue Feinde angetrieben. Verknüpft werden sie mit geostrategischem Revisionismus, der großrussisch-nationalistische und imperialistische, ja sogar heilsgeschichtliche Tendenzen integriert.

Das „zivilisatorische Hexagon“ als Modell

Unter den kombinierten liberalen Friedensmodellen ist das „zivilisatorische Hexagon“ besonders bekannt geworden. Um die Sicherheit und die Entfaltungschancen jedes einzelnen Menschen zu gewährleisten, müssen in modernen, politisierten Gesellschaften, so Dieter Senghaas (2012), sechs miteinander verbundene Voraussetzungen gegeben sein. Grundlegend ist die Entprivatisierung der Gewalt durch ein staatliches Gewaltmonopol. Damit der Staat seinerseits seine Gewaltmittel nicht missbraucht, bedarf es zweitens der Gewaltenteilung und der Herausbildung von Rechtsstaatlichkeit. In solchen Gesellschaften ist drittens demokratische Beteiligung unverzichtbar. Eine vierte Bedingung für den inneren Frieden besteht in der Affektkontrolle, also der Selbstbeherrschung der einzelnen Staatsbürger und -bürgerinnen. Damit sind ein reflektierter Umgang mit Emotionen und die entsprechende Gestaltung von Sozialisationsprozessen gemeint. Als fünfte Voraussetzung nennt Senghaas anhaltende Bemühungen um soziale Gerechtigkeit, also vor allem keine Privilegierung durch Herkunft, sozialen Status oder Geschlecht; außerdem Verteilungsgerechtigkeit, im Minimum die Befriedigung der Grundbedürfnisse. Bleibt als sechstes Kriterium eine Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung. Eine zivilisierte Ordnung verzichtet außer in Grenzfällen wie der Verteidigung auch auf äußere Gewalt. Das erfordert aber nicht nur in der Politik, sondern auch bei den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Vereinigungen entsprechende Kompetenzen. Zivilisierte demokratische Konflikt- und Kompromissfähigkeit setzt oft lange historische Lernprozesse voraus.

Gerade bei einer Erweiterung des Modells auf die internationalen Beziehungen stellt sich angesichts schwerster Menschheitsverbrechen wie dem Holocaust, der Sklaverei oder im Kolonialismus die grundsätzliche Frage, ob die Moderne überhaupt über eine Zivilisationsperspektive verfügt (referiert nach Jaberg 2019). Der Zivilisationsbruch lässt sich ja nicht erst oder nicht allein am Holocaust festmachen; er liegt weniger im Rückfall als vielmehr im Kontinuum europäischer (und anderer) Gewalt (so Eberl 2021a, S. 508–509). Gegen diesen durchaus diskussionswürdigen Einwand lässt sich freilich die enorme Diversität der Moderne anführen, die ja auch viele Belege für humanitäre Fortschritte bietet (zum historischen Zivilisationsprozess allgemein Linklater 2016, 2021). Autoren und Autorinnen von komplexen Friedensprogrammen sind weit entfernt von der Behauptung, die Menschheit verhalte sich durchgängig zivilisiert. Dass die Umsetzung der Säulen des Hexagons nicht nur im „Süden“, sondern auch im „Osten“ und sogar im „Westen“ erheblich zu wünschen übrig lässt, ja teilweise nicht einmal ansatzweise gegeben ist, lässt sich nicht bestreiten (dazu Senghaas 1998). Für die Verhältnisse in vielen Ländern oder in ihren Außenbeziehungen ließe sich durchaus ein negatives Hexagon der Entmenschlichung oder Entzivilisierung formulieren (Jaberg 2019, S. 94–95, unter Berufung auf Tetzlaff 2003); eine Einschätzung, die u. a. durch die Entwicklungen der letzten Jahre in Russland mit seinem Aggressionskrieg gegen die Ukraine bestätigt wird.

3 Überstaatliche Weltordnungen

3.1 Imperien und Reiche

Die Grenzen zwischen staatenzentrierten Weltordnungsmodellen und überstaatlichen, imperialen sind fließend. So kann eine Welt von völkerrechtlich souveränen Staaten durch einen Hegemon gelenkt werden, der ihre eigene innen- und außenpolitische Handlungsfreiheit einschränkt (Anderson 2018). Große Reiche können auch so ausgestaltet sein, dass Untereinheiten oder Klientelstaaten über viel Autonomie verfügen (Menzel 2015). Noch vor über 100 Jahren lebte ein Großteil der Menschen in Vielvölkerstaaten, in Reichen oder – als Sonderfall – in Kolonien, die zu einem europäischen Empire gehörten (Münkler 2005). Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der österreichisch-ungarischen Monarchie der Habsburger sowie der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg schien das Ende der Imperien gekommen zu sein. Die Idee lebte jedoch wieder auf, als mit der Auflösung des sowjetischen Vielvölkerstaates und damit des bisherigen sozialistischen Systemgegners die Idee einer imperialen Weltordnung unter US-amerikanischer Führung wieder auf die Tagesordnung politisch-konzeptioneller Debatten kam (Sznaider und Speck 2003; Ferguson 2004). Mit der Ressourcenüberdehnung der USA und der schweren Belastung ihrer außenpolitischen Glaubwürdigkeit aufgrund der Kriege in Afghanistan und im Irak ist die Debatte über das Empire USA verstummt; nicht zuletzt auch deshalb, weil sich unter der Präsidentschaft von Donald Trump ein Rückzug aus der weltpolitischen Rolle des bisherigen Hegemons abzeichnete. Dagegen werden im gegenwärtigen chinesischen Denken über Außen- und Weltpolitik Ideen von „Alles unter dem Himmel“ (Zhao 2020) und vom „sanften Aufstieg“ und einer „harmonischen Welt“ diskutiert, die von China maßgeblich mitgestaltet werden soll. Damit knüpft die Debatte an jahrtausendealte Vorbilder in der chinesischen Vergangenheit an (Yan 2011). Das Narrativ für den Angriff auf die Ukraine in der russischen Politik und Öffentlichkeit, es gehe um die Wiederherstellung der „russischen Welt“, die jahrhundertelang vom Westen gedemütigt worden sei, und um einen Existenzkampf gegen die Einkreisung durch die NATO bzw. insbesondere gegen die globale Hegemonie der USA ist ein weiteres Beispiel für eine Renaissance imperialen Denkens – und imperialer Praktiken. Typisch dafür ist die Behauptung, die Ukraine habe außerhalb Russlands keine Existenzberechtigung, womit u. a. die gnadenlose Zerstörung der Infrastruktur, der wirtschaftlichen Zentren und der Landwirtschaft des Landes, ganz zu schweigen von den Kriegsverbrechen an der Bevölkerung, gerechtfertigt wird.

Vorstellungen von einer imperial geprägten Weltordnung gehören zum Repertoire politischer Ideen seit den frühen Großreichen. In ihnen manifestiert sich eine Vision vom gesellschaftlichen und politischen Zusammenleben der Menschen, das sich gerade nicht in Territorialität und durchrationalisierter Einheitsstaatlichkeit ausdrückt, sondern in Pluralität und z. T. abgestufter Autonomie nachgeordneter politischer Einheiten; Herrschaft wird vom Zentrum zur Peripherie schwächer. Imperien beanspruchen die Beherrschung der zur jeweiligen Zeitepoche bekannten Welt (vgl. Darwin 2010; Burbank und Cooper 2012; Menzel 2015). Vom Selbstverständnis gibt es gegenüber Imperien keine Gleichen. Ihre Eliten formulieren ein Sendungsbewusstsein, das ihnen eine zivilisatorische Sonderrolle zuspricht. Es drückt sich aus in religiösen oder religiös aufgeladenen politischen Formen wie z. B. einem sakralen Königtum in den Alten Reichen Mesopotamiens und in Ägypten, einer politisch-zivilisatorischen Einmaligkeit unter dem vergöttlichten Kaiser im Imperium Romanum, der Verbreitung von Freihandel und Zivilisation im British Empire oder in den Vereinigten Staaten. Sie alle beanspruchen, als exzeptionelle Vormacht ein Vorbild für die ganze Welt zu sein (vgl. als Überblick über die historischen Reiche und Imperien Gehler und Rollinger 2014). Zum imperialen Selbstverständnis gehört untrennbar der Barbarendiskurs. Außerhalb der Zivilisation leben „Barbaren“, die sich nicht an die Regeln einer gesitteten Ordnung halten; eine Abgrenzung von Zivilisation und Barbarei, die auch im Diskurs nach dem 11. September 2001 über den Kampf gegen den islamistischen Terror eine Rolle spielte. Auch die Etikettierung von Regierung und ukrainischer Bevölkerung durch die russische Propaganda als „Nazis“, die einen „Völkermord“ an der russischen Bevölkerung in der Ost-Ukraine begingen, gehört zum Barbarendiskurs in einem imperialen Weltbild.

Auf Grund ihrer organisatorischen Leistungsfähigkeit für die Verwaltung einer arbeitsteiligen Wirtschaft und Gesellschaft sind Imperien in ihrer Blütezeit anderen politischen Einheiten militärisch überlegen; hinzu kommt eine zivilisatorisch-kulturelle und/oder wirtschaftliche Anziehungskraft für diejenigen, die außerhalb des Imperiums leben oder (noch) nicht zu seinem herrschenden Zentrum gehören. Insgesamt besteht jedoch eine starke Asymmetrie zwischen Zentrum und Peripherie in allen Bereichen von Politik, Wirtschaft, Kultur und Militär. Imperien sind Herrschaftsverbände, die über eine große Anzahl von vor allem religiös, kulturell und ethnisch heterogenen Gruppen Macht ausüben, zumal sie in ihrer „imperialistischen Phase“ in der Regel über Eroberung zustande gekommen sind. Sie sind von imperialistischer Herrschaft zu unterscheiden, die auf Gewalt setzt und die Machtverhältnisse zwischen Eroberern und Eroberten zementieren möchte, wie z. B. im Kolonialismus. Sie können nicht auf Dauer bestehen, wenn sie nur über Gewalt herrschen, und stabile Reiche zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie die Loyalität der Mehrzahl ihrer Untertanen durch die zivilisatorische Anziehung und das Angebot des sozialen Aufstiegs über die Anpassung an die sozialen Normen und Regeln der imperialen Macht gewinnen.

Über Imperien wie auch über imperialistischer Herrschaft schwebt stets das Damoklesschwert der Rebellion von Bevölkerungsgruppen, die sich vom Zentrum ausgeschlossen fühlen, daher von ihm unabhängig werden wollen – oder von außen die Grenzen bedrohen. Historisch betrachtet sind viele Imperien entweder durch interne Machtkämpfe oder durch den Einfall vor allem nomadischer Völker, die am Reichtum einer meist städtischen Zivilisation partizipieren wollten, bedroht. Mit dem Aufkommen von Nationalstaaten und nationaler Selbstbestimmung im 19. Jhdt. wurden Imperien, die von ihrer Natur nach Vielvölkerreiche waren, häufig von ihren Gegnern als „Völkergefängnis“ bezeichnet. Deshalb durchzieht alle Imperien eine Geschichte der Aufstandsbekämpfung und der Pazifizierungskriege – vor allem an der Peripherie –, mit denen die imperiale Herrschaft und damit „Frieden“ wiedergestellt werden sollen. Solche Kriege zeichnen sich dadurch aus, dass für sie Regeln wie die des seit Beginn des 20. Jhdts. bestehenden humanitären Kriegsvölkerrechts nur eingeschränkt eingehalten werden (Barth und Osterhammel 2005; Walter 2014). Eng verbunden mit Interventionen zur Sicherung der Herrschaftsordnung ist die Thematik der „imperialen Überdehnung“. Militärische Bestrafungsaktionen sind nicht immer erfolgreich, Imperien verstricken sich oft in langwierige Feldzüge ohne eindeutigen Sieg oder Niederlage. Irgendwann sind auch die Mittel eines Imperiums erschöpft oder – wie in modernen Gesellschaften – schwindet die Unterstützung durch die Bevölkerung. Deshalb durchzieht die Debatte über Imperien stets das Narrativ vom Aufstieg und Niedergang (vgl. Menzel 2015, S. 1015–1137; Lebow 2018, S. 95–174).

Ein Vergleich des staatlichen mit dem imperialen Weltordnungsmodell kommt nicht zu eindeutigen Ergebnissen. Imperiale Ordnungen können über die Gewährleistung rechtlicher Ordnung und innerer Sicherheit in größeren Räumen wirtschaftlichen Austausch und damit Wohlstand für mehr als nur die Herrschaftseliten ermöglichen. Sie bauen auf Gewalt auf, sie können allerdings, wenn sie sich konsolidiert haben, ausgedehnte Kriege verhindern – allerdings unter der ständigen Gefahr von lokalen Aufständen gegen die „Fremdherrschaft“. Gerade die Nicht-Berücksichtigung nationaler Selbstbestimmung macht Imperien anfällig für asymmetrische Gegengewalt.

Die Hegemonie der westlichen Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion, die sich u. a. in der Durchsetzung einer (neo-)liberalen Weltwirtschaft und der Meinungsführerschaft liberal-demokratischer Vorstellungen von einer Weltordnung für das ausgehende 20. und beginnende 21. Jhdt. niederschlug, hat einerseits zu Wohlstandsgewinnen im „Zentrum“ beigetragen und in der bisherigen „Peripherie“, wie z. B. in China, Südostasien oder Indien, zum Entstehen einer (konsumfreudigen) Mittelschicht. Andererseits geschah dies um den Preis einer Vergrößerung der Einkommensschere sowohl zwischen globalem Norden und globalem Süden als auch innerhalb beider Sphären (Milanovic 2016). Wenn – wie in kritischen Analysen des globalen Kapitalismus (siehe Abschn. 3.2) – für Verelendung, Bürgerkriege und Staatszerfall die westliche Hegemonie oder das US-Empire verantwortlich gemacht werden, sieht die Bilanz noch negativer aus. Den Kriterien von Gleichheit und Selbstbestimmung hingegen entsprechen Staatenordnungen mit ihrer polyzentrischen Struktur mehr als hierarchische Ordnungen. Ob damit die Welt friedlicher und gerechter wäre, ist schwer abzuschätzen. Staatenordnungen sind kriegsträchtig – im europäischen Staatenbildungsprozess in der Neuzeit war dies in extremer Weise der Fall. Allerdings kann systemische Kriegsanfälligkeit durch zwischenstaatliche Kooperation, z. B. in internationalen Organisationen, abgemildert werden. Wenn dagegen imperiale Ordnungen zerfallen, geht dies in der Regel nicht ohne Krieg und Gewalt ab, zumal wenn die Führungsschichten im bislang herrschenden Zentrum das Imperium zusammenhalten oder wiederherstellen wollen. Manche Expert(inn)en gehen davon aus, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine und weitere Instabilitäten im ehemals sowjetischen Herrschaftsbereich Ausdruck eines solchen Verfallsprozesses sind, ähnlich wie beim Auseinanderbrechen des Osmanischen Reiches und Österreich-Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg. Zwar hat Russland keinen Krieg verloren, aber nach der Auflösung der Sowjetunion, für Putin die größte geostrategische Katastrophe des 20. Jhdts., außer mit Nationalitätenkonflikten und autokratischer bis totalitärer Herrschaft noch mit anderen gravierenden internen Problemen zu tun; insbesondere mit jetzt schon dramatischen Klimaschäden und mit der auf Dauer nicht tragfähigen fossilen Grundlage seiner Ökonomie (dazu Gustafson 2021). „Russia’s attack on Ukraine begins to look like the convulsion of a dying state“, schreibt eine Rezensentin (Pinkham 2022).

3.2 Globaler Kapitalismus

Überstaatliche Weltordnungskonzepte sind oft mit Theorien verbunden, die die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie als zentrale Voraussetzung für die Analyse der internationalen Beziehungen ansehen. Dabei reicht das Spektrum von marxistischen Ansätzen bis zu Vertretern der Kritischen Politischen Ökonomie, die davon ausgehen, der globale Kapitalismus sei noch reformierbar. Gleichwohl stehen hier generell die Schattenseiten des Kapitalismus im Binnen- wie auch im historischen Nord-Süd-Verhältnis und im Zuge der Globalisierung im Zentrum der Argumentation; und zwar mit vielen internen Kontroversen z. B. über das Verhältnis zwischen Staatenwelt und kapitalistischer Globalisierung, über die Rolle von Klassenkämpfen oder die Möglichkeit alternativer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen. Wichtige ältere Referenzarbeiten, auf die sich aktuelle politisch-ökonomischen Analysen oft beziehen, sind bspw. Immanuel Wallersteins Weltsystemtheorie mit der Betonung der Ökonomie in der kapitalistischen Entwicklung (2004) oder Texte, die sich auf Antonio Gramsci berufen und von einem differenzierten transnationalen Herrschaftsmodell ausgehen (vgl. den Überblick von Teschke und Wenten über marxistische und neo-marxistische Analysen in diesem Band). Die neuere Diskussion hat sich durch die jüngsten Finanz- und Umweltkrisen noch weiter aufgefächert.

Weltordnung zwischen globalisiertem Kapitalismus und staatlich gebundener Demokratie

So befindet sich in einer viel diskutierten, auch viel kritisierten umfassenden Analyse von Wolfgang Streeck der globalisierte Kapitalismus als Ergebnis eines längeren Prozesses der Neoliberalisierung und Finanzialisierung in einer anhaltenden doppelten Systemkrise. Zum einen stagniere die Weltwirtschaft schon seit Ende der 1990er-Jahre und steige die Verschuldung, ebenso dramatisch nehme die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen zu. Zum anderen öffne sich die Schere zwischen den politischen Gestaltungsmöglichkeiten durch Staat und Gesellschaft auf der einen und einer entgrenzten Ökonomie auf der anderen Seite. In der Summe liefen diese Entwicklungen auf eine „Konterrevolution gegen den Sozialkapitalismus der Nachkriegsära“ (Streeck 2018, S. 153) hinaus. Inflation, Staats- und Privatverschuldung, Finanzialisierung und Kreditfluten schafften Wohlstandsillusionen, die durch immer neue Krisen entlarvt würden und mit tiefen Einschnitten in soziale Bürgerrechte, mit der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und mit vielfältiger Kommerzialisierung der Daseinsvorsorge verbunden seien. So verfestige sich die grundlegende Asymmetrie der kapitalistischen Ökonomie: die Entlohnungsansprüche des „Kapitals“ gelten als notwendige Funktionsbedingungen des Gesamtsystems, die entsprechenden Ansprüche der „Arbeit“ jedoch als Störfaktoren. Den Versuch, die einzelstaatliche Einhegung des Kapitals durch Global Governance zu ersetzen, betrachtet Streeck als gescheitert (2021). Staaten und vor allem internationale Organisationen – wobei er insbesondere die Europäische Union im Blickfeld hat – setzten das durch, was den Interessen globaler ökonomischer Akteure, dem „Marktvolk“, diene, nicht denen der breiten Mehrheit der Bevölkerung, dem „Staatsvolk“, das sich zu Recht dagegen auflehne. So richte sich die kapitalistische Globalisierung gegen die Demokratie, aber auch die Demokratie, repräsentiert durch den „populistischen“ Volkswillen der Verlierer dieses Prozesses, gegen die Globalisierung. Als Alternative setzt Streeck auf einen Rückbau der ökonomischen Globalisierung zugunsten kleinerer Wirtschaftsräume und auf eine stärker nationenbasierte Ordnung kleiner und mittelgroßer Staaten.

Die oben im Kapitel über die Staatenwelt unter dem Stichwort Institutionalismus zum Teil schon genannten jüngeren Entwicklungen scheinen die hier genannte Kritik zu bestätigen. Nicht nur sicherheitspolitisch, auch ökonomisch steht die Globalisierung unter Druck; freilich nicht nur in Bereichen, die für die Geschichte des Kapitalismus nicht ungewöhnlich sind wie (zu) große soziale Ungleicheit oder Konjunktur- und Finanzkrisen. Schwere Seuchen z. B. sind nicht spezifisch kapitalistisch und dass Kriege nicht gut für wirtschaftliche Stabilität sind, war schon vor dem Kapitalismus so. Umgekehrt kann man sogar sagen, dass die Entstehung größerer wirtschaftlich verbunder Räume erst in den Nationalstaaten und dann international die Ernährungssicherheit historisch erheblich verbessert hat. Aber Streeck hat schon im Vorgriff auf die jüngsten Entwickungen nicht Unrecht, wenn er die Risiken globaler Ansteckungseffekte betont, wie sie jetzt bei den steigenden Energiepreisen, den damit verbundenen Inflationsrisiken und einem erneuten dramatischen Anstieg des Hungers in der Welt zu beobachten sind, die von einem eigentlich immer noch regionalen Krieg ausgehen. Selbst eine größere Weltwirtschaftskrise lässt sich nicht mehr ausschließen. Aber auch wenn durch diesen Krieg die Schattenseiten globaler Vernetzungen und Abhängigkeiten neues Gewicht bekommen haben, bleibt es angesichts reichlicher problematischer empirischer Erfahrungen doch höchst fragwürdig, sich auf die Rationalität der Politik kleinerer National- und Handelsstaaten zu verlassen. Und die Klimakrise überschreitet längst alle Raumgrenzen; wenn überhaupt, kann sie nur noch weltgemeinschaftlich verlangsamt oder gar gestoppt werden.

Kapitalismus und ökologische Krise

Schon bei Marx, der ja nicht nur ein Kritiker, sondern auch ein Bewunderer der „kapitalistischen Revolution“ war, heißt es immerhin, die Akkumulation des Kapitals untergrabe die „Springquellen allen Reichtums: die Erde und den Arbeiter“. Auch ohne solche Vorahnungen bei den Gründervätern, die sie nicht daran gehindert haben, selbst die „planmäßige Ausbeutung der Natur“ als unverzichtbares Fortschrittselement zu betrachten, liegt es für Neomarxisten nahe, das alte Thema der Ausbeutung von Menschen mit der Problematik der Ausbeutung der Natur zu verbinden, und zwar aus einer globalen Perspektive. Der Soziologe Stephan Lessenich (2016) knüpft mit dem Begriff der „Externalisierungsgesellschaft“ an das Theorem des ungleichen Tauschs zwischen Zentren (dem mächtigeren und wohlhabenderen „Norden“) und Peripherien (dem weniger mächtigen und ärmeren „Süden“) an. Der Reichtum der einen beruhe auf der Armut der anderen; ohne Armutskapitalismus kein Wohlstandskapitalismus. Die Externalisierungsgesellschaft verlagert bzw. exportiert die Kosten und Lasten des Fortschritts in den kapitalistischen Industriegesellschaften in den globalen Süden, Kosten, die entstehen würden, wenn man bestimme Sozial- und Arbeitsstandards sowie Auflagen zum Schutz der Umwelt „einpreisen“ würde. Die Externalisierung bezieht sich nicht nur auf Lohnarbeit; auch ökologische Kosten der Produktion werden dem Süden aufgehalst: entweder durch die Verlagerung umweltbelastender Produktion, den Import von durch die Externalisierung von Umweltkosten in den Süden künstlich verbilligten Gütern oder durch den Export von umweltschädlichen Abfällen aus der eigenen Produktion.

Außerdem belasten die Industriestaaten den Süden mit ihrem deutlich höheren ökologischen Fußabdruck, den sie der globalen Umwelt und der Atmosphäre schon hinterlassen haben und noch hinterlassen, auch wenn aufsteigende Ökonomien wie China hier nachziehen. Lessenich setzt auf eine globale Demokratisierung von unten und eine weltweite Allianz kapitalismuskritischer Kräfte, die einen Umbau der reichen Volkswirtschaften auf Postwachstumsökonomien und eine konsequente Umverteilung von oben nach unten und von innen nach außen erwirken soll; aber ganz sicher ist er sich da nicht. Zu kurz kommen bei Lessenich die häufig sehr engen Verbindungen zwischen den Eliten in den wohlhabenden Ländern und im Globalen Süden. Außerdem wird man seinen Buchtitel heute erweitern müssen zu Auch bei uns die Sintflut. Mit „uns“ sind dabei nicht nur Deutschland oder z. B. Italien gemeint, sondern alle Industriestaaten, die historisch allemal die Hauptverantwortung für Naturzerstörung und Klimawandel tragen und damit auch für die globale Verbreitung der damit verbundenen Probleme. Aber inzwischen ist es auch im „Norden“ zu heiß und zu trocken oder wird, so nur eine von vielen jüngeren Schlagzeilen, ja auch Australien durch Brände und Sturzfluten mehr und mehr unbewohnbar.

Zur politischen Ökonomie von Russlands Krieg

Verschiedene Ökonomen und Wirtschaftshistoriker gehen davon aus, dass es sich bei Russlands Krieg gegen die Ukraine um einen plumpen Fall von Ressourcen-Imperialismus handelt, mit dem sich die russische Rohstoff-Ökonomie den Zugriff auf die beträchtlichen ukrainischen Ressourcen (Gas, Kohle, Metalle und vor allem Getreide) und die damit verbundene globale Marktmacht sichern will (z. B. Hillenbrand 2022 oder Immerwahr 2022). Dazu passt, dass Dmitrij Medwedjew in seiner Zeit als Präsident selbst einmal Russland als „primitive Ökonomie“ bezeichnet hat, die auf Rohstoffen und endemischer Korruption basiere (zitiert bei Gloger 2021, S. 62). Die geringe Wachstumspotenz, gravierende Mängel in der Infrastruktur, die allgemeine Rechtsunsicherheit und die zu niedrigen Investitionen, schließlich die hohen Rüstungsausgaben und vor allem das Ausbleiben dringender Reformen, die allerdings die Machtelite bedrohen würden, sind für Wohlstandsdefizite und -verluste verantwortlich, die auch und gerade für autoritäre Regime zum Problem werden können.

Anregungen aus im weitesten Sinne marxistischer Sicht findet man in Thomas Pikettys Monumentalwerk über Kapital und Ideologie (Piketty 2020). Im Kapitel über die kommunistischen und die postkommunistischen Gesellschaften werden die Leistungen (z. B. tiefgreifende Modernisierung) und die Defizite (Rigidität gegenüber jeder Form von Privateigentum und übergroße Härte des Staates gegen fast alle Formen von Abweichung) schon der frühen Sowjetunion und die spätere Stagnation und schließlich der Verlust jeglichen moralischen Vorsprungs bei Bürger- und Menschenrechten einschließlich der Frauenemanzipation erörtert. Immerhin war die wirtschaftliche Ungleichheit in der UdSSR vergleichsweise gering. Das postkommunistische Russland dagegen, das keineswegs auf eine soziale Marktwirtschaft, sondern eher auf eine raubkapitalistische bis mafiöse Ökonomie zusteuerte, wurde innerhalb von zehn Jahren zu einem der Länder mit der größten Ungleichheit weltweit; auf den Sturz des Sowjetsystems folgte ein kleptokratischer Hyperkapitalismus (Piketty 2020, S. 758; zu Putins ultrakapitalistischem und militarisiertem Staatskomplex in beeindruckender empirischer Breite Belton 2022). Piketty bietet auch Überlegungen dazu an, warum der Westen bei dieser Entwicklung mitgespielt hat. Vielleicht deswegen, weil er von der Kapitalflucht reicher Russen profitierte. Er hätte Kapital- und Immobilienanlagen zweifelhafter Herkunft einfrieren oder mit hohen Strafen belegen können. Dass Großbritannien und Frankreich oder Deutschland da nicht mehr Engagement zeigten, hatte demnach auch damit zu tun, dass sie dann nicht gewusst hätten, wo sie aufhören sollten, wenn sie einmal begonnen hätten, bestimmte Formen der privaten Aneignung infrage zu stellen (Piketty 2020, S. 759–760).

4 Globale Vergesellschaftung und Global Governance

4.1 Weltgesellschaft und International Society

Ob es schon eine Weltgesellschaft gibt, ist bis heute umstritten. Der Gedanke einer Vergesellschaftung über die einzelnen Nationalstaaten hinaus ist den Weltordnungskonzepten in den Sozialwissenschaften aber keineswegs fremd. Allerdings ist er angesichts der Machtverschiebung zugunsten autokratischer, ja totalitärer Staaten und des damit einhergehenden militanten anti-globalistischen Nationalismus (von dem auch bisher dem Westen zugerechnete Staaten nicht frei sind) stärker unter Rechtfertigungsdruck gekommen. In der so genannten Englischen Schule spielt er eine zentrale Rolle, und auch in der Soziologie ist er ein wichtiges Thema. So begründete der Soziologe Niklas Luhmann schon 1975 in einem Epoche machenden Beitrag seine funktionalistische Systemtheorie der Weltgesellschaft mit der Möglichkeit weltweiter Kommunikation (S. 53):

Ein Argentinier mag eine Abessinierin heiraten, wenn er sie liebt; ein Seeländer in Neuseeland Kredit aufnehmen, wenn dies wirtschaftlich rational ist; ein Russe technischen Konstruktionen vertrauen, die in Japan erprobt worden sind; ein französischer Schriftsteller in Ägypten homosexuelle Beziehungen suchen; ein Berliner sich auf den Bahamas bräunen, wenn ihm dies ein Gefühl der Erholung vermittelt.

Was macht aus dieser weltweiten Kommunikation einen Weltzustand, so fragte Luhmann weiter. Einmal das „immense Anwachsen der Kenntnisse über Fakten des Lebens und der Interaktionsbedingungen aller Menschen“. Hinzu komme die universelle Verbreitung wissenschaftlichen Wissens und technologischer Errungenschaften mit einem weltweiten wissenschaftlich-technischen Kommunikationsnetz. Als drittes nannte er eine weltweite öffentliche Meinung, dann „weltweite wirtschaftliche Verflechtungen“ und „weltweite Möglichkeiten der Bedarfsdeckung“; er sprach sogar von einer „auf Weltfrieden beruhenden Verkehrszivilisation“, in der sich ein „urban erzogener Mensch gleich welcher Provenienz“ zurechtfinde. Die Weltgesellschaft sei dadurch entstanden, dass die Welt durch die Prämissen weltweiten Verkehrs vereinheitlicht worden sei (S. 54–55).

Gemeinsame Wertebezüge oder annähernde Gleichheit in den Lebensverhältnissen sind hier keine notwendigen Voraussetzungen für die Weltgesellschaft, die allein mit der „vollkommenen Erschließung des Erdballs“ begründet wird. Seit die Welt als ganze entdeckt sei und deshalb jede Art von Kommunikation vor diesem Hintergrund stattfinde und auch immer mehr auf ihn bezogen werde (Weltmarkt, Weltbürger, Weltliteratur, Weltmacht, Weltkrieg, Weltausstellung, Weltmeisterschaft) könne man nur noch von Weltgesellschaft reden. Einzelne nationale Gesellschaften gibt es aus dieser Perspektive nicht mehr (Albert 2016, S. 178). Die Weltgesellschaft konstituiert sich vor allem durch funktionale Differenzierung, nicht mehr nur durch Segmentierung (z. B. Sippe oder Stamm) und Stratifikation (z. B. durch Abstammung) wie die vormodernen Gesellschaften. Die wichtigsten funktionalen Ausdifferenzierungen der Weltgesellschaft sind die Systeme der Politik, des Rechts und der Ökonomie; weitere wären z. B. die Kunst oder der Sport. Diese wiederum unterscheiden sich funktional nicht nur voneinander, sondern differenzieren sich auch intern weiter. Eine solche Ausgliederung ist das Subsystem der Weltpolitik, das sich seit den Anfängen von 1648 aufgebaut und mit dem Berliner Kongress 1876 fest etabliert hat (ebda., S. 7). Zu den Ursachen der Wachstumsdynamik der Moderne mit ihren Verdichtungen, ihren intellektuellen und technischen Entwicklungen und ihren Konflikten, ihrer Mischung aus Zivilisierung und Barbarei sagt die funktionalistische Systemtheorie freilich wenig, wenn man von der These des kontinuierlichen Zwangs der Systeme absieht, Komplexität durch funktionale Differenzierung zu reduzieren, wodurch wieder neue Komplexität entsteht.

Das Weltordnungskonzept der Englischen Schule (dazu z. B. Buzan 2014), deren zentrale Kategorie nicht die Weltgesellschaft, sondern die (Global) International Society ist, hält an der Verbindung von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung fest. Sie konzediert, dass die Vergemeinschaftung der society of states immer wieder gefährdet ist, aber sie bleibt zumindest rudimentär vorhanden. Die Intensität der Sozialisierung oder Verregelung einer international society kann dünn, also eher „pluralistisch“ sein, aber eben auch dicht, dann eher in Richtung „solidaristisch“ oder „kosmopolitisch“ gehen. Die Struktur der International Society bilden ihre Institutionen, und zwar sogenannte Primär- oder Makroinstitutionen wie z. B. Souveränität, Territorialität oder Diplomatie, Mächtegleichgewicht und Völkerrecht. Sie unterliegen sozialem Wandel; sie können auch ganz verschwinden oder durch andere ersetzt werden. Die Verantwortung für den Planeten und damit der Umweltschutz ist z. B. eine noch junge Primärinstitution. Den Primär- oder Makroinstitutionen sind verschiedene sogenannte Sekundär- oder Mikroinstitutionen zugeordnet, gängige internationale Regime wie z. B. das Pariser Klimaschutzabkommen von 1995 oder auch internationale Organisationen wie die WHO oder der IWF. Damit bietet die Englische Schule, die sich in den IB dem Institutionalismus zuordnen lässt, eine eigenständige produktive Grundlage für eine Analyse historischer Prozesse in der Global International Society und deren Bewertung (siehe auch Abschn. 5).

4.2 Die Welt regieren ohne Regierung

Schon Immanuel Kant war sich in der Angelegenheit eines Weltstaats unsicher. Eigentlich müssten die Staaten nach der Vernunft einen „immer wachsenden Völkerstaat (civitas gentium) bilden“; da sie das aber nicht wollten, bleibe an Stelle der „positiven Idee einer Weltrepublik“ nur das „negative Surrogat“ eines (Staaten- bzw. Völker-)Bundes (Kant 1795/2002, S. 20). Außerdem hatte Kant Vorbehalte wegen des Despotie-Risikos. Mit Global Governance stehen freilich Formen einer kreativen globalen Staatlichkeit in statu nascendi zur Verfügung. Global Governance geht deutlich über die konstitutionelle Herrschaft im Rahmen der Einzelstaaten hinaus: durch die Anerkennung weltweiter Gemeinschaftsgüter, die nur gemeinschaftlich gesichert werden können, durch die Anerkennung individueller Rechte und der Rechte nicht-staatlicher Akteure unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in einem Staat, und durch das Einräumen von Möglichkeiten internationaler Autorität. Sie verbleibt dabei aber in einem pluralistischen und nur locker verknüpften Rahmen internationaler und transnationaler Autoritäten mit sehr wenig verbindlicher koordinierender Meta-Autorität und mit wenig Durchgriffsmöglichkeiten (Zürn 2018, S. 26, 45–50 und 60–61).

Die internationalen Institutionen stehen unter ständiger Beobachtung und müssen sich immer wieder neu legitimieren. Ihre Expertise wird oft geschätzt und anerkannt, aber fast alle Sachverhalte unterliegen unvermeidlicher Politisierung durch NROs oder durch aufstrebende Staaten, denen die Privilegierung der Großmächte oder des Westens ein Dorn im Auge ist. Durch Anpassungen an Forderungen oder die Einbeziehung von NROs können die Institutionen Kritik auffangen, auf der anderen Seite sind Blockaden wie etwa im Bereich der Welthandelsorganisation ebenso möglich wie Konkurrenz durch Gegen-Institutionalisierung (Zürn 2018; zur WHO Stephen 2019). Eine noch ziemlich junge Bilanz kam gleichwohl zu dem Ergebnis, die Vielzahl von Auseinandersetzungen addiere sich nicht zu einem „hohen Drama“. Trotz aller Herausforderungen werde die Institutionalisierung prinzipiell anerkannt (Stephen und Zürn 2019, S. 386–387). Andere Autoren und Autorinnen schätzten auch vor der Corona-Pandemie und Russlands Krieg gegen die Ukraine den Zustand der Global Governance schon deutlich kritischer ein (z. B. Daase und Deitelhoff 2021).

Inzwischen haben sich die günstigen Perspektiven für ein verträgliches oder sogar einvernehmliches Miteinander der großen Weltmächte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts endgültig zerschlagen, die Beziehungen zwischen den USA bzw. der NATO/EU und Russland haben einen neuen Tiefpunkt erreicht; ja sie führen sogar indirekt Krieg miteinander, und diesmal sogar in unmittelbarer Nachbarschaft eines der Hauptbeteiligten. Schon seit den neunziger Jahren hatten die beiden führenden Weltnuklearmächte die Strukturen der Rüstungskontrolle, die sie noch zu Zeiten der west-östlichen Entspannungspolitik und dann nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zunächst in einer erheblichen Breite weiter aufgebaut hatten, wieder nahezu völlig demontiert (Kühn 2022); jetzt rückt die nukleare Abschreckung einschließlich der damit verbundenen Aporien und Risiken wieder ins Zentrum ihrer Beziehung (Rudolf 2022). Russland hat den Übergang zur Demokratie nicht geschafft und entwickelt sich vom autoritären weiter zum totalitären Staat zurück. Die amerikanische Demokratie hat ihrerseits einen beispiellosen Einbruch hinter sich; ob er dauerhaft korrigiert werden kann, ist keineswegs sicher. Hinzu kommt eine Verfestigung des Totalitarismus in China, das parallel dazu seine geopolitische und geoökonomische Position weiter ausbaut und inzwischen von den USA als epochale Herausforderung wahrgenommen wird. In diesen Zusammenhang gehört auch das Thema der Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen, der Donald Trump mit der Aufkündigung des Abkommens mit dem Iran schon schweren und möglicherweise irreparablen Schaden zugefügt hatte. Russlands Angriffs- und Eroberungskrieg gegen einen Nichtnuklearwaffenstaat bedeutet eine weitere Schwächung des Prinzips der Nichtverbreitung.

In der Ökonomie ringen regionale und globale Governance schon länger mit gravierenden Problemen aus Deregulierung, Finanzialisierung und Globalisierung; sie werden jetzt durch Engpässe und Verteuerung wichtiger Rohstoffe und Nahrungsmittel dramatisch verschärft, Folgen nicht nur von Russlands Krieg gegen die Ukraine, sondern auch aus kombinierten Wirkungen mit anderen Krisenphänomene wie dem Klimawandel oder der Corona-Pandemie. Auch die Gesellschaftswelt gerät mehr und mehr in Bedrängnis. Nicht nur in China und Russland, auch in vielen anderen Ländern schlägt die Staatenwelt zurück. Die Euphorie über den arabischen Völkerfrühling, der im Dezember 2010 begann, hat sich schnell verflüchtigt; große Teile der islamisch geprägten Welt befinden sich schon seit längerem in einer schweren Gewalt- und Entwicklungskrise (dazu Koopmans 2020), nicht zuletzt aufgrund des modernen Dschihadismus (Schröter 2021). Die Welle der Demokratisierung der 1990er- bis in die ersten Jahre des letzten Jahrzehnts hat sich umgekehrt, die demokratischen Freiheitsrechte gehen wieder kontinuierlich zurück (Boese 2021). Laut dem Bertelsmann-Transformationsindex für 2020 sind weniger als ein Drittel der Schwellen- und Transformationsländer als gut oder sehr gut regiert einzustufen; in 76 von 137 Ländern herrschten in dem genannten Jahr schon massive Armut und Ungleichheit (2021).

In einer äußerst ernüchternden aktuellen Gesamtbilanz spricht einer der führenden Kenner der Global Governance-Thematik von „regelrechten Kaskaden globaler Interdependenzkrisen“, die die gesamte Weltordnung ins Taumeln gebracht hätten. Schon vor der Zeitenwende durch die russische Aggression habe das Reden von regelbasierten internationalen Beziehungen, die es nun wiederherzustellen gelte, die strukturelle Fragilität und Instabilität einer internationalen Ordnung verleugnet, die seit langem den Dynamiken der global hochgradig vernetzten Ökonomien, Gesellschaften und Ökosystemen nicht mehr gerecht geworden sei (Messner 2022, S. 61; zur Klimakrise Krell 2020, zu den Dimensionen der heraufziehenden „Weltunordnung“ Krell 2019, S. 27–33 und Neckel 2021).

5 Weltordnungskonzeptionen im Postkolonialismus

Die postkolonialistische Kritik an den „westlichen“ Weltordnungskonzepten wird allmählich auch in den etablierten Sozialwissenschaften einschließlich den IB rezipiert, sie hat sogar die öffentliche Debatte erreicht. Zu nennen wären hier etwa die Kontroversen über die Vergleichbarkeit des Holocaust mit Verbrechen aus der Kolonialzeit (Rothberg 2021) oder über das neue Humboldt-Forum in Berlin mit seinem geraubten „Prachtboot“ aus dem Südpazifik (Aly 2021). Die europäische Aufklärung steht zunehmend unter dem Verdacht des Eurozentrismus oder sogar des Rassismus (Hobson 2012; Dhawan 2014; Eberl 2021a).

In der Rezeption der postkolonialistischen Kritik in den IB hat sich die Englische Schule besondere Verdienste erworben. So „dekonstruieren“ jüngere Autorinnen und Autoren dieser Schule in einer Auseinandersetzung mit maßgebenden Beiträgen der Gründergeneration die eurozentrischen Prägungen ihrer Vorgänger (Dunne und Reus-Smit 2017a). Das in den IB bis heute vielfach noch gängige Narrativ ging davon aus, dass Europa zwischen 1492 und 1648 in eine dominante Position gelangte, weil es zunächst für sich antihegemoniale Institutionen und Praktiken etablierte und dann in einem kontinuierlichen Prozess „den Rest der Welt“ in europäische Normen und Institutionen hineinsozialisierte. Kulminiert sei dieser Prozess schließlich in einer „universal international society“, in der allen Völkern Souveränität auf der Basis formaler rechtlicher Gleichheit zuerkannt wurde. In diesem Narrativ würden freilich, so der Haupteinwand, zentrale Dimensionen der European expansion ausgeklammert: „Not noticing genocide, famine, dispossession, institutionalized racism. Not noticing that these were not consequences of modernization; they were frequently political choices and policy preferences which enabled and sustained empires“ (Dunne und Reus-Smit 2017b, S. 427).

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Gründung der IB als wissenschaftliche Disziplin wurden in der neueren Englischen Schule die gängigen westlichen Perspektiven einer kritischen Reflexion unterzogen, wie z. B. der Gründungsmythos der IB, die angeblich allein oder doch in erster Linie aus der Friedenssehnsucht nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sei (Acharya und Buzan 2019; vgl. auch Specter 2022). Dabei würden nicht nur die rassistische und imperialistische Vorgeschichte der IB unterschlagen, sondern auch die Nord-Süd-Dimension der Friedensverträge und des Völkerbundes, der trotz verbaler Konzessionen an Selbstbestimmung letztlich doch für eine Stabilisierung des Imperialismus der Großmächte und ihrer Beziehungen zu sorgen hatte. Gestützt wird die Erweiterung der Perspektive durch eine konsequente Einbeziehung der IB-Literatur aus und der Lage der IB in den verschiedenen Regionen des Südens. Die heutige nicht mehr vom Westen dominierte Welt sei mit Herausforderungen („shared fates“) konfrontiert, denen sich keine Großmacht und keine Region mehr entziehen könne. Für die traditionellen IB und die ihr zugrunde liegenden Weltordnungskonzepte heiße das, sich stärker dem Postkolonialismus und dem Feminismus selbstkritisch zu öffnen und dabei antikolonialistische, antirassistische und regionale kulturelle Perspektiven zu integrieren, die allzu lange ignoriert worden seien.

In diesem Zusammenhang wird in der Englischen Schule auch die Globalisierung neu interpretiert. John M. Hobson (2021) z. B. geht es um eine Neubestimmung dieses Prozesses einmal in seiner historischen Entfaltung und zum zweiten in der Gestaltungsmacht der entscheidenden Akteure und ihrer Beziehungen. Dabei setzt sich der Autor sowohl vom Eurozentrismus ab, der seiner Einschätzung nach selbst in der marxistischen Tradition dominiert, als auch vom Postkolonialismus, und zwar dort von „eurofetischistischen“ Tendenzen. Damit meint Hobson die Versuchung, von Verstrickungen und selbst zu verantwortenden Problemen im „Süden“ abzulenken und „den Westen“ für alle Leiden der ehemals kolonisierten Völker verantwortlich zu machen. Zugleich arbeitet er heraus, dass die europäischen Mächte sich im asiatischen Raum und in seinen Handelsverbindungen nicht allein durch Gewalt festsetzen konnten; sie waren immer auf Kooperation mit einheimischen Eliten und dortigen Kaufleuten und Finanziers sowie auf in der Region rekrutierte Soldaten angewiesen. Auch der europäische Sklavenhandel wäre ohne die Beteiligung afrikanischer Könige, lokaler Herrscher, Agenten und Mittelsmänner und die brutale Gewalt von Sklavenfängern nicht möglich gewesen.

Mit der Kombination der Begriffe Eurozentrismus und Eurofetischismus hat Hobson einen Ansatz entwickelt, der es erlaubt, sowohl Europa als auch den Globalen Süden aus einer kritischen Perspektive zu analysieren, die sich auf allgemein verbindliche Kriterien berufen kann. Das lässt sich auch am Beispiel des russischen Krieges gegen die Ukraine demonstrieren. Eine postkolonialistische Standardkritik am Eurozentrismus könnte hier bei dem gängigen Begriff der „Zeitenwende“ ansetzen, so wie das Stephan Lessenich in einem Kommentar getan hat. Nach wie vor regiere eine Politik der doppelten Standards. Den Krieg in Europa ächten, aber Kriege im Rest der Welt geschehen lassen. Auf die russische Lügenpropaganda verweisen, aber über den auf Lügen aufgebauten Zweiten Irakkrieg schweigen. Putins Gas dämonisieren, aber dafür in den Emiraten antichambrieren. Und dass anderswo für den riesigen Rohstoffbedarf gestorben wird – das sei ja nicht neu. Von einer Zeitenwende will Lessenich deshalb nicht sprechen. Sein zwanghafter Ressourcenhunger habe den Westen schon lang weltweit blind werden lassen für Autokratie und Ausbeutung, Massenelend und Menschenrechtsverletzungen (Lessenich 2022).

Dass am westlichen Ressourcenhunger auch Blut klebt, und zwar nicht nur historisch, wird niemand bestreiten wollen. Auch nicht, dass es während des Ost-West-Konflikts und danach große und langwierige Kriege gegeben hat mit Zerstörungen und Menschenverlusten, von denen der Ukraine-Krieg zum Glück noch weit entfernt ist; auch Konflikte, bei denen eine Eskalation in den Atomkrieg nicht ausgeschlossen werden konnte. Und entfernungsmäßig waren die Balkankriege der neunziger Jahre nicht weiter weg als Russlands Krieg gegen die Ukraine heute. Aus einer „südlichen“ Perspektive wäre weiter daran zu erinnern, dass es schon seit einiger Zeit Kriege (in Syrien, Äthiopien oder im Jemen) und andere Katastrophen (Hungerkatastrophen auf Madagaskar, in Ostafrika oder in Afghanistan) gibt, in denen das Leben von Hunderttausenden, wenn nicht Millionen von Menschen auf dem Spiel steht oder sogar schon verloren ist. Auch Hinweise darauf, dass die westlichen Demokratien noch in der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. Kolonialkriege geführt haben, die ihren eigenen Standards Hohn sprachen, mit schweren Kriegsverbrechen, für die niemand zur Verantwortung gezogen wurde, sind grundsätzlich berechtigt.

Blickt man auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine selbst, dann kommt eine weitere „postkoloniale“ Dimension in den Blick. So sprechen nicht nur ukrainische Schriftsteller, sondern auch deutsche Osteuropahistoriker von einer Rekolonisierungsstrategie Putins, die sich mindestens auf den ehemaligen sowjetischen Raum erstrecke. Das geht im Falle der Ukraine so weit, dass die Existenzberechtigung eines ukrainischen Nationalismus nicht nur aktuell, sondern auch rückwirkend historisch geleugnet, die Geschichte dabei auch heftig zurechtgebogen und die politische und territoriale Gegenwart mit politischen Manipulationen und physischer Gewalt korrigiert wird. Diese Diskussion ließe sich weitertreiben bis zur Geschichte und Aktualität eines innerrussischen Kolonialismus. Auch Russland selbst ist ja ein Vielvölkerstaat, der durch Eroberung und Kolonisierung entstanden ist und – wie die Tschetschenienkriege gezeigt haben – auch heute teilweise nur mit Gewalt zusammengehalten werden kann. Auch Imperien erfinden ihre Traditionen, sie seien keineswegs durchgängig toleranter und friedliebender als Nationalstaaten; das könne man an den völkermordenden Kaukasuskriegen Russlands schon im 19. Jahrhundert beobachten, merkt der Osteuropahistoriker Schulze-Wessel dazu an (2022).

Dass sich viele Länder des Südens, und zwar unabhängig vom Regimetyp, trotzdem nicht überall der westlichen Interpretation des russischen Krieges gegen die Ukraine anschließen, kann man durchaus als unglaubwürdig und opportunistisch kritisieren; immerhin handelt es sich ja eindeutig um eine Aggression mit Eroberungsabsicht, ja sogar um eine Art Kolonialkrieg. Die Distanz liegt aber nicht nur an der intensiven russischen Propaganda, die bis nach Asien, Afrika und Lateinamerika reicht. Sie hat auch mit den eigenen Notlagen zu tun, die durch den Krieg oft verschärft werden, und damit, dass sich der Westen selbst in vielen global relevanten Angelegenheiten vor allem für Krisen und Probleme interessiert, die ihn unmittelbar selbst betreffen. Auch lässt er bei globalen Gerechtigkeitskriterien und Reziprozität Fairness vermissen und verrät er oft seine eigenen humanitären Standards (vgl. wieder Messner 2022). Und wirtschaftlichen, politischen oder ideologischen Opportunismus gegenüber diesem Krieg gibt es auch im Westen mehr als genug.

6 Weltordnung und Zeitenwenden

Mit dem Eroberungs- und Zerstörungskrieg Russlands gegen die Ukraine ist der in vielerlei Hinsicht durchaus erfolgreiche Versuch, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue europäische Friedens- und Fortschrittsordnung einzurichten, schließlich an einem entscheidenden Punkt gescheitert. Das verdient vor allem deshalb den Begriff der Zeitenwende, weil damit ein neuer Systemkonflikt mit Wiederaufrüstungen und einer Wiederbelebung nuklearer Abschreckung verbunden ist, der wegen der von dem aktuellen Krieg ausgehenden Störungen der weltwirtschaftlichen Verflechtung der beiden Hauptkontrahenten zusätzlich das Wohlergehen und sogar das Überleben vieler Menschen in zahlreichen anderen Ländern bedroht. Nimmt man hinzu, dass diese Zeitenwende mit anderen zusammenfällt oder auch zusammenstößt, weil sich Korrekturversuche wechselseitig in die Quere kommen, dann kann man durchaus von einer Bedrohung für eine menschendienliche Weltordnung überhaupt sprechen. Die Zeitenwende mit dem längsten Vorlauf ist dabei der Klimawandel, eine sich in den letzten 50 Jahren deutlich verstärkende Nebenwirkung der industriellen Revolution. Deren Leistungen wie die Verbesserung der Menge und Qualität der Nahrungsmittel und der medizinischen Versorgung und das damit verbundene Wachstum der Weltbevölkerung einschließlich der Verlängerung der Lebenszeiten bleiben unbestreitbar. Ihre Grundlage, nicht nur aber vor allem fossile Energien, erweisen sich jedoch immer mehr als Bumerang. Hinzu kommen akute Zeitenwenden wie z. B. der Abbruch der mit dem Ende des alten Ost-West-Konflikts entstandenen jüngsten Demokratisierungswelle und die Zunahme autokratischer bis totalitärer Entwicklungen oder die teilweise klimatisch bedingte neue Welternährungskrise, die die Chancen auf eine Abschaffung des Hungers wieder gegen Null tendieren lässt. Nimmt man die Corona-Pandemie und den internationalen Terrorismus hinzu, kommt man gegenwärtig leicht auf zehn Menschheitsplagen.

Die Wissenschaftler, die die berühmte „Doomsday Clock“ der amerikanischen Zeitschrift Scientific American alle zwei Jahr nachstellen, überlegen schon, wie weit die verbliebenen 90 Sekunden bis Mitternacht (dort stehen die Zeiger seit 2023; nach dem Ende des Kalten Krieges standen sie noch auf 15 Minuten vor Zwölf) schon abgelaufen sind. Die Experten zählen übrigens nicht nur die Nuklearwaffen und die Klimakrise zu den Hauptgefahren, sondern auch „disruptive Technologien“, die für Fake News und Desinformation eingesetzt werden (Rosner 2022). Zu fragen ist also nicht nur, wie viele Opfer der Krieg Russlands gegen die Ukraine noch fordern wird, sondern auch was am Ende von ihm in den Köpfen der Überlebenden zurückbleibt. Es ist ja keineswegs nur Putins Krieg, sondern ein Krieg, der bislang von der Mehrheit eines 145-Millionen-Volkes mitgetragen wird, das über Jahrzehnte gezielt und massiv desinformiert worden ist. Wie soll es ohne einen radikalen Regimewechsel jemals zu einer wahren Aufarbeitung der eigenen Geschichte und der Übernahme von Verantwortung kommen können? Selbst im Falle eines politischen Wandlungsprozesses wären die Aussichten dafür angesichts der Militarisierung des Landes und der Zerstörung der russischen Zivilgesellschaft eher gering.

Die Russin Ljudmila ist aus ihrer Heimat geflohen, weil sie es nicht erträgt, in einem Land zu leben, in dem sie gezwungen wird zu lügen. Der Krieg in der Ukraine bringe schnelle Zerstörung und einen schnellen Tod, sagt sie. In Russland bringe er einen sehr langsamen Tod, denn die ganze Gesellschaft sei von Lügen durchdrungen und auch diese Lügen seien ein Gift, das töte (referiert bei Mühl 2022; ausführlich dazu Atai 2019). Und systematische Desinformation ist nicht nur ein Problem in Russland oder in anderen autoritären bis totalitären Regimen, vor allem in China. Auch in Demokratien sind Menschen anfällig für Verschwörungstheorien, manchmal ein Drittel der Bevölkerung oder sogar mehr. Gerade für Deutsche gibt es angesichts ihrer historischen Vergangenheiten keine Veranlassung, sich bei anderen Völkern über deren geopolitische „Kränkungen“, Lügengebäude von „Führern“, Massenbegeisterung für politische Pathologien oder Befürwortung von Gewalt gegen eingebildete innere oder äußere Feinde zu erheben. Aber solche Phänomene ohne Ansehen von Nation, Ethnie, Klasse oder Geschlecht generell kritisch zu diagnostizieren und zu bewerten, gehört in jedem Fall zu den Aufgaben politikwissenschaftlicher Reflexion über die Weltlage. Auch wenn dabei „realistisch“ in Rechnung zu stellen ist, dass die Voraussetzungen für eine humane Ordnung, die diesen Namen verdient, kurz- und wahrscheinlich auch längerfristig nicht gerade günstig sind.