Schlüsselwörter

1 Einleitung

Strategische Wissenschaft, im englischen Strategic Studies genannt, stellt international gesehen einen der Kernbereiche der anwendungsorientierten Politikwissenschaft dar. Genauer gesagt handelt es sich um einen eher interdisziplinären, im Kern jedoch politikwissenschaftlichen Ansatz zur Erforschung strategischer Fragen und Probleme. In der Regel werden dabei als „strategisch“ all diejenigen politischen Prozesse und Ereignisse verstanden, wo infolge des direkten oder indirekten Einsatzes von Macht (und das heißt häufig, aber keinesfalls ausschließlich, durch den Einsatz militärischer Gewaltmittel) wesentliche politische Weichenstellungen erfolgen. Von daher hat sich strategische Wissenschaft immer sehr stark auf Kriege, Interventionen, die Anwendung militärischer Mittel bzw. deren Zähmung durch Rüstungskontrolle oder Abrüstung konzentriert, aber auch andere Formen von coercive diplomacy (bis hin zur Rolle von soft power) werden berücksichtigt. Der Bereich der strategischen Wissenschaft erfährt dabei eine Erweiterung. Gerade heute leben wir in einer Zeit, in der sich für hochkomplexe und verwundbare Gesellschaften strategische Herausforderungen und Sicherheitsgefährdungen anders darstellen als für den traditionellen europäischen Nationalstaat des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts und wo Mittel der Beeinflussung und Steuerung von externen Entwicklungen entsprechend differenziert zu begreifen sind. Von daher ist es nachvollziehbar, wenn sich heute die führenden Institutionen der Strategischen Wissenschaft weit über das klassische Metier des Kräftevergleichs, der Strategieeinschätzung und der Rüstungskontrolle hinausbewegen.

Strategische Studien werden heute weitgehend in angelsächsischen Ländern betrieben, greifen aber im Wege internationaler Gemeinschaftsbildung auch auf andere Länder aus. Sie bilden dort aber eher nur intellektuelle Inseln. In den USA, Großbritannien sowie anderen angelsächsischen Ländern (vor allem Australien) aber auch in kleineren Staaten (wie Israel und der Schweiz) gelten Strategic Studies als wichtiges intellektuelles Guthaben, um in einer internationalen Umwelt voller Risiken und Herausforderungen besser vorbereitet zu sein. Vor allem in den USA werden Strategic Studies durch große Stiftungen sowie durch staatliche Einrichtungen in Größenordnungen finanziert, die in Deutschland unvorstellbar sind. In Regierung, Kongress und den Medien sind Experten aus dem Bereich der strategischen Wissenschaft in der Regel gefragt, viele von ihnen schaffen es selber in hochrangige Regierungsämter. In Deutschland gibt es wenig Vergleichbares, obwohl die strategische Wissenschaft hier ihren Ausgang nahm, wenn man Clausewitz als den ersten modernen Strategiewissenschaftler bezeichnet.

2 Die Entwicklung der Strategic Studies

Die moderne wissenschaftliche Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen begann mit der Verarbeitung der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Die Entwicklung der Strategiewissenschaft ist dem gefolgt, hat dann aber eigene Wege eingeschlagen. Sie hat ihre hauptsächlichen Impulse aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, insbesondere der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs, dessen Verlauf sowie aus dem Ost-West-Konflikt genommen.

Erste Ansätze zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit strategischen Fragen findet man jedoch schon in früheren Zeiten. Genau genommen gibt es bereits eine lange Tradition der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Frage, wie und warum Gleichgewicht zwischen den großen Mächten zur Stabilität in den zwischenstaatlichen Beziehungen beiträgt, wie derartige Gleichgewichte funktionieren und welche Bedeutung militärische Macht darin einnimmt (Gulick 1967, Kap. I; Dehio 1963). Gemeinsames Anliegen dieser Studien war es, Fragen von Krieg und Frieden und von strategischem Wandel nicht durch Parteinahme oder Rückgriff auf normative Kategorien anzugehen, sondern nach der Wirksamkeit objektiver Gesetze oder nach den Auswirkungen historischer Entwicklungstrends zu fragen. Im Mittelpunkt standen immer folgende Fragen: Wie wird militärische Macht für politische Langzeitziele eingesetzt? Wie setzt sich militärische Macht gegen andere durch? Welche anderen Formen der Einflussnahme sind möglich? Und wie werden dadurch politische Entwicklungen eingeleitet, beeinflusst oder verändert?

Als Urväter der Strategic Studies kann man die Klassiker des strategischen Denkens ansehen, wenngleich deren Interesse zumeist auf der Kriegführung und der bedeutenden Rolle von militärischer (= strategischer) Führung sowie der geschickten Nutzung von Technologien, Terrain und auch Bündnispolitik lag (Paret 1986; Heuser 2010). Der erste Versuch einer allgemein wissenschaftlichen Analyse nicht nur von Kriegen, sondern auch von den Prozessen, die zu Kriegen führen, den Ursachen von Sieg und Niederlage, den Bedingungen unter denen Kriege beendet werden können sowie den Voraussetzungen der Friedensschaffung, kommt aus dem Preußen zur Zeit der Steinschen Reformen. Der Verfasser war ein preußischer General, der zeitlebens aber mehr als Instrukteur und Wissenschaftler wirkte, als dass er Schlachten gelenkt hätte: Carl von Clausewitz. In seinem Buch „Vom Kriege“, welches 1832 posthum erstmals erschien, legte von Clausewitz, der die napoleonischen Kriege als Offizier auf Seiten der russischen Armee miterlebt hatte, eine Analyse des Krieges vor, die von späteren Generationen weitgehend als Leitfaden für Feldherren interpretiert worden ist, die tatsächlich aber eine tief gehende strategische Analyse des Phänomens Krieg darstellte und insbesondere den Zusammenhang zwischen politischen Zielen und dem Einsatz kriegerischer Mittel herzustellen versuchte (Clausewitz 1832; Paret 1976; Heuser 2005).

Clausewitz Schriften müssen vor dem Hintergrund der post-revolutionären und Napoleonischen Kriege gesehen werden, die erkennbar gemacht hatten, dass das begriffliche Instrumentarium zum Verständnis von Kriegen (und zur Führung, zur Beendigung oder Vermeidung von Kriegen) verändert werden musste. Für Clausewitz standen – im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Antonie-Henry Jomini – nicht nur allgemeine Prinzipien der Kriegführung im Vordergrund, sondern auch die Abhängigkeit des Kriegswesens von den jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und technischen Umständen (Bassford 1991). Sein spezifischer Ansatz zeichnete sich dadurch aus, dass er die verschiedenen Faktoren zu beleuchten suchte, die dazu führten, dass politische Differenzen zu kriegerischen Entwicklungen führen würden, bzw. umgekehrt, welche politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen Kriege haben könnten. Großes Augenmerk legte er auf die Rolle der Massen und deren Motivation, er widmete sogar ein eigenes Kapitel dem Volkskrieg. Ihm war nicht entgangen, dass das revolutionäre Frankreich weitaus mehr Kampfkraft aus der Tatsache schöpfte, dass seine Soldaten für ihre Nation kämpften und nicht für einen Monarchen, der in Distanz zum Volke stand. Damit knüpfte er an Beobachtungen an, die schon Friedrich von Gentz im Jahr 1800 gemacht hatte (Gentz 1800).

Das Streben von Clausewitz nach Objektivität und Berechenbarkeit, seine tiefe Abneigung gegen die Gefahr der Entartung des Krieges und der damit einhergehenden Dynamik hin zu dem, was man heute den totalen Krieg nennt, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer weniger beachtet. Im Zeitalter des aufkommenden und dann überschäumenden Nationalismus und Imperialismus verkam die wissenschaftliche Beschäftigung mit strategischen Fragen zur parteilichen Kriegshistorie sowie zur Stilisierung der eigenen Seite als heldenhaft und sittlich und der anderen Seite als hinterlistig und verworfen. Wissenschaftliche Theorien wurden bestenfalls herangezogen, um apologetische Aussagen mit einer gewissen theoretischen Weihe zu versehen, darunter zumeist Theorien sozialdarwinistischen Charakters oder solche, die rassische oder geopolitische Elemente in den Vordergrund stellten.Footnote 1

Diese Ideologisierung der Wissenschaft hatte bedenkliche Folgen. Nur wenige Beobachter waren Ende des 19. Jahrhunderts in der Lage, die Veränderungen in der Militärtechnik und in den Militärdoktrinen vor dem Hintergrund der Industrialisierung und Nationalstaatsbildung in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Diejenigen, die das taten, kamen zu alarmierenden Schlussfolgerungen: Sie prognostizierten, dass angesichts der Entwicklungen in der Militärtechnik und im Lichte des Stands der Industrialisierung ein künftiger Krieg unter den europäischen Großmächten zu einem lang anhaltenden und blutigen Kräftemessen ausarten werde, an dessen Ende Millionen Menschen tot und alle Seiten erschöpft sein werden. Unter dieser kleinen Gruppe waren so unterschiedliche Köpfe wie Helmuth von Moltke der ÄltereFootnote 2, Friedrich Engels (Engels 1888; Wallach 1968) oder der russische Bankier und Eisenbahnpionier Jan Bloch (1899). Ihre Aussagen fanden leider in der Politik wenig Beachtung (Förster 1987, 1999).

Nach dem Ersten Weltkrieg überwog in England, Frankreich, Deutschland und vielen anderen Ländern bei den historischen und wissenschaftlichen Analysen zu den Ursachen, dem Verlauf und den Ergebnissen des Krieges weiterhin die apologetische Sichtweise (Ferguson 1998, S. 20–30). Dem stand zunehmend eine generell pazifistische, den Krieg als soziales Krankheitsphänomen betrachtende Sichtweise gegenüber, die zudem eine Skepsis gegenüber einer vertieften Befassung mit militärischen Fragen erkennen ließ (Erzberger 1918; Zimmern 1918; Angell 1913). Zwischen beiden Extremen sollte sich vor allem in Großbritannien eine Denkschule entwickeln, die von Militärhistorikern, Journalisten sowie pensionierten Soldaten geprägt wurde und deren Ziel es war, aus der Geschichte Lehren zu ziehen über den Einsatz und den Gebrauch militärischer Macht, die Bedeutung von Führung, Waffentechnik und das Zusammenspiel von Politik und Militär. Bei ihnen war eine an Clausewitz anknüpfende Skepsis bezüglich der Gefahren des Krieges stark ausgeprägt, aber auch das Bewusstsein, dass Kriege nicht einfach aus der Welt verschwinden werden und dass es sich lohnt Kriege und den Gebrauch militärischer Macht generell zu studieren, wollte man diese vermeiden. In Großbritannien waren es vor allem Basil Liddell Hart und J.F.C. Fuller, die als Begründer einer strategischen Wissenschaft galten.Footnote 3 In Deutschland gab es in Ansätzen eine vergleichbare Entwicklung: hier ist vor allem die ab 1901 erschienene Geschichte der Kriegskunst von Hans Delbrück (1901) zu nennen. Delbrück hatte allerdings darunter zu leiden, dass nicht nur das deutsche Militär seinen Studien kritisch gegenüberstand, sondern dass seine akademischen Kollegen der Meinung waren, dass die Erforschung der Kriegskunst keine akademische Disziplin sei – ersteres hat sich heute geändert, letzteres ist in Deutschland immer noch weit verbreitet.

Die Entwicklung, die zum Zweiten Weltkrieg führen sollte, sowie der Verlauf dieses Krieges haben die Vertreter der strategischen Wissenschaft zu einer Vielzahl von fruchtbringenden Studien veranlasst. Hier sind vor allem die kritischen Auseinandersetzungen mit der appeasement-Politik Großbritanniens, die Fehler in der Anfangszeit des Krieges sowie die Analysen zum Verlauf, zur Diplomatie der Alliierten und zum Ende des Krieges zu sehen. Die Arbeiten von Liddell Hart und Fuller zum Zweiten Weltkrieg bemühten sich um ein hohes Maß an Objektivität (Liddell Hart 1950, 1970; Fuller 1961).

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die Strategic Studies einen weiteren Impuls durch den Beginn des nuklearen Zeitalters. Strategische Wissenschaft war nun nicht mehr auf Großbritannien beschränkt. Vor allem in den USA setzte eine eigenständige Befassung mit strategischen Fragen ein, die aus dem Motiv genährt wurde, die Folgen der Einführung von Kernwaffen für die internationalen Beziehungen zu verstehen und den sich ab 1947 abzeichnenden Ost-West-Konflikt zu begreifen. Strategische Wissenschaft umfasste jetzt mehr als nur Versuche einer abgewogenen Kriegsgeschichtsschreibung in Kombination mit dem vertieften Verständnis von Rüstungstechnologien und der Analyse der Interaktion von Politik und Militär. Ihre akademischen Vertreter beschäftigten sich nunmehr mit einem breiten Spektrum von Fragestellungen und bemühten sich, strategische Fehlentscheidungen der Vergangenheit in Lehren für die Gegenwart und die Zukunft umzusetzen. Dabei wurde auch eine für akademische Disziplinen ungewöhnliche Annäherung an die Politik vollzogen. Vor allem in den USA wurden Strategic Studies in den Prozess der politischen Entscheidungsbildung eingebaut, denn es galt in einer Situation strategischer Unübersichtlichkeit nach Maßstäben für eine kluge Politik zu suchen. In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lag das Hauptaugenmerk auf der Rolle nuklearer Waffen für die westliche Verteidigung sowie auf der Analyse der strategischen Ziele der Sowjetführung und deren Umsetzung im Rahmen der Militärpolitik. Auch wurde die Neuorganisation des Westens zu einem eigenen Gegenstand der Analyse (Atlantische Allianz, Europäische Integration). Die Konsequenzen des ab Ende der 50er-Jahre absehbaren nuklearstrategischen Patts zwischen den USA und der Sowjetunion für die internationale Stabilität und für die Verteidigung des Westens führten dazu, dass die Beschäftigung mit Rüstungskontrolle und Abrüstung zu einem zentralen Themenbereich der strategischen Wissenschaft wurde.

Damit veränderte sich das Gesicht der strategischen Wissenschaft, sie wurde stärker politisiert und erhielt ihr Profil mehr und mehr durch amerikanische Debatten. Aber auch in Frankreich regten sich mit dem Soziologen Raymond Aron und dem General André Beaufre ernst zu nehmende Autoren, die an der internationalen strategischen Debatte partizipierten (Aron 1963; Beaufre 1964). In Großbritannien blieb eine starke community bestehen, die nicht zuletzt unter dem Einfluss von Liddell Hart (der 1970 starb) zusammenwuchs und politisch und akademisch Früchte trug. Besonders wichtig war die Gründung des Institute for Strategic Studies (ISS) in London durch den ebenfalls von Liddell Hart beeinflussten Journalisten und Labour Politiker Alastair Buchan, den Labour Politiker (und späteren Ministerpräsidenten) Denis Healey und den britischen Militärhistoriker Michael Howard (Skaggs 1985). Das ISS, welches bald zu einem internationalen Institut werden sollte (International Institute for Strategic Studies – IISS), ist seit den 1960er-Jahren das internationale Zentrum der politisch-strategischen Debatte. Auf dem Kontinent entstand ansonsten nur eine kleine Strategic Studies community, die sich in Deutschland mit Namen wie Wilhelm Cornides, Lothar Rühl, Uwe Nerlich, Karl Kaiser und Helga Haftendorn sowie in der Schweiz mit den Namen Curt Gasteyger, Daniel Frei und Kurt Spillmann verband.

3 Themenfelder der Strategic Studies

Aus dem breiten Bereich der strategischen Wissenschaft ragen eine Reihe von Themen hervor, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit Gegenstand wissenschaftlicher Analyse waren und sind. Mit dem Wandel der Zeit änderten sich Schwerpunkte, Fragestellungen und Herangehensweisen. Dennoch ist eine gewisse Konstanz bei der Verfolgung bestimmter Themen zu beobachten.

3.1 Strategie und Technologie

In erster Linie standen und stehen Fragen im Mittelpunkt, die den Zusammenhang zwischen Strategie (das heißt den direkten und indirekten Gebrauch militärischer Machtmittel) und technologischer Entwicklung behandeln. Dies war das durchgehende Thema der bahnbrechenden Arbeiten von J.F.C. Fuller und Basil Liddell Hart in den 1920er- und 1930er-Jahren über die Konsequenzen der Mechanisierung von Streitkräften (Fuller 1923, 1928; Liddell Hart 1927). Im Gegensatz zu den meisten Militärführern und Militärexperten der Zeit, hatten beide behauptet, dass mit der Einführung von Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und Kampfflugzeugen völlig neue Formen der Kriegführung möglich würden, die die bisher bekannten Traditionen in Frage stellen und siegreiche Kriegführung bei einem ungleich geringeren Kräfteeinsatz ermöglichen würden (Reid 2008). Lediglich der deutsche General Guderian und der 1937 hingerichtete sowjetische Feldmarschall Tuchatschewski schienen ihre Gedanken zu teilen. Die Skeptiker wurden erst durch die Erfolge der „Blitzkriegstrategie“ der deutschen Wehrmacht bei ihren Feldzügen gegen Polen und Frankreich überzeugt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatten alle größeren Streitkräfte die Ratschläge von Fuller und Liddell Hart weitgehend beherzigt.

Nach dem Ende des Krieges ging die Debatte über die Bedeutung technologischen Wandels für die konventionelle Kriegführung und die damit verbundenen strategischen Konsequenzen weiter. Die Erkenntnisse über die strategischen Konsequenzen der Mechanisierung der Kriegführung sollten für mindesten drei Jahrzehnte das militärische und militärpolitische Denken des Westens (wie des Warschauer Paktes) im Bereich der konventionellen Kriegführung bestimmen, um erst in den 1980er-Jahren durch die zunehmende Bedeutung von Informationstechnologie und Sensorik für die Kriegführung abgelöst zu werden. Heute liegt ein Hauptaugenmerk der Strategic Studies auf der so genannten Revolution in Military Affairs bzw. genauer gesagt auf der zunehmenden Nutzung moderner Informationsverarbeitungstechnologien. Insbesondere die großen Fortschritte, die die USA auf diesem Gebiet gemacht haben und weiter machen, sowie die Konsequenzen für andere Staaten stehen dabei im Mittelpunkt (Fitschen 2007; O’Hanlon 2000; Mey 2001).

3.2 Strategietheorie

In diesem Rahmen wurde auch der Begriff „Strategie“ immer weiter gefasst und von einem rein militärischen zu einem politisch-militärischen Begriff entwickelt. Wichtige Vordenker dieser sich entwickelnden allgemeinen Strategie-Debatte waren auch hier wieder Basil Liddell Hart und Alastair Buchan (Liddell Hart 1967; Buchan 1968). Sinnstiftend war zum einen der von Liddell Hart geprägte Begriff der „indirekten Strategie“, was bedeutet, dass sowohl auf dem „Schlachtfeld“ wie in der strategischen Politik oftmals indirekte Ansätze Erfolg versprechender sind als direkte Versuche, die Kräfte des Gegners herauszufordern. Noch wichtiger aber war die von Buchan und anderen betriebene Analyse strategischer Herausforderungen (und damit verbundener strategischer Antworten), die auf ein breites, sowohl militärische wie nicht-militärische Herausforderungen einbeziehendes Gefahrenspektrum abzielt und verschiedene politische sowie technologische Rahmenbedingungen mit einbezieht (Heuser 2010). In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff der Grand Strategy entwickelt, der alle politischen und militärischen Maßnahmen eines Staates umfasst, die dazu geeignet sind, das Überleben dieses Staates in der Auseinandersetzung mit internationalen Herausforderungen zu gewährleisten.Footnote 4

3.3 Umgang mit totalitären Diktaturen und autoritären Staaten

Ein weiteres Thema ist der Umgang westlich-demokratischer Gemeinwesen mit totalitären (oder halb-totalitären) Diktaturen. Ausschlaggebend waren die Erfahrungen der britischen und französischen Politik im Umgang mit Hitler in den späten 1930er-Jahren, die Churchill seinerzeit zu dem Urteil veranlassten, dass der Zweite Weltkrieg vermeidbar gewesen wäre, hätten die westlichen Mächte dem Streben Hitlers rechtzeitig und entschieden widerstanden. Die Fehler dieser Politik zu vermeiden, insbesondere im Umgang mit der Sowjetunion unter Stalin und dessen Nachfolgern, war ein wichtiges Anliegen der strategischen Wissenschaft zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren. Ziel der meisten Analysen war es, Schwächen der westlichen Politik aufzudecken, insbesondere das zu vermeiden, was Walter Lippmann den westlichen Demokratien in den 1950er-Jahren vorgehalten hatte: dass sie in wichtigen Situationen entweder zu hart und zu nationalistisch reagiert hätten oder aber viel zu nachgiebig gegenüber Diktaturen gewesen wären (Lippmann 1955).

Die in den 1950er- und 1960er-Jahren von Vertretern der strategischen Wissenschaft entwickelten Vorstellungen zum Umgang mit diktatorischen oder gar autoritären Regierungen unterlagen aber einer permanenten Erosion, weil die Entspannungspolitik sowie der graduelle Wandel des sowjetischen Systems von einer totalitären zu einer autoritären Diktatur viele der Grundannahmen relativierten, die auf den Erfahrungen der 1930er- und 1940er-Jahren beruhten. Vor allem nach dem Amtsantritt Michail Gorbatschows gab es innerhalb der strategischen Wissenschaft eine Kontroverse zwischen denen, die diese Politik für einen Propagandatrick hielten und solchen, die dem damaligen Generalsekretär der KPdSU ein ernsthaftes Anliegen unterstellten.Footnote 5 Bei der Mehrzahl der strategischen Experten überwog in den späten 1980er-Jahren die Skepsis mit Blick auf die Ernsthaftigkeit des sowjetischen Entspannungswillens. Erst die Ereignisse des Jahres 1989 und die deutsche Wiedervereinigung von 1990 schafften Klarheit.

3.4 Theorie und Praxis der Abschreckung

Während der Zeit des Ost-West-Konfliktes stand die Frage im Mittelpunkt, mit welcher politisch-militärischen Strategie des Westens am besten der sowjetischen Bedrohung entgegen gewirkt werden könnte. Zentrales Thema war das der Abschreckung, die als eine Strategie westlicher Demokratien galt, mit einem relativ geringen Aufwand gegenüber Gegnern demonstrieren zu können, dass man zum einen nicht an einem Krieg interessiert sei, zum anderen aber auch nicht bereit, gegenüber einem gewaltbereiten Staat nachzugeben (Beaufre 1964; Brodie 1973; George und Smoke 1974). Der Gedanke der Abschreckung war schon älteren Datums und rührte aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg her (Overy 2008). Nunmehr boten Kernwaffen die Perspektive der Kriegsvermeidung durch glaubwürdige Abschreckung zu vertretbaren Kosten. Beginnend in den 50er-Jahren wurde die Nuklearwaffenstrategie zu dem zentralen Thema der strategischen Wissenschaft.Footnote 6 Während in den ersten Jahren die Frage im Mittelpunkt stand, welche Auswirkungen die Einführung von Kernwaffen auf die Kriegführung generell haben werden (Brodie 1946), rückte schon bald die Frage in den Vordergrund, wie mit Kernwaffen unter Bedingungen einer Überlegenheit der USA die effektivste Abschreckungswirkung erzielt werden konnte (Kissinger 1957). Ab dem Ende der 50er-Jahre stand hingegen die Frage im Mittelpunkt, wie unter Bedingungen nuklearer Verwundbarkeit der USA eine ausreichende Abschreckungswirkung gegen einen sowjetischen Angriff aus Westeuropa aufrecht erhalten werden könne (Wohlstetter 1959; Snyder 1961; Schelling 1966). Die 70er- und 80er-Jahre erlebten Debatten über die Fähigkeit zur Überlegenheit bei nuklearstrategischen Angriffsmitteln als Voraussetzung der westlichen Verteidigungsstrategie, was zum Teil zu kritischen Auseinandersetzungen über die Frage führte, ob und wie weit sich Wissenschaftler an derartigen Debatten beteiligen sollen (Kaplan 1983). Dabei wurden auch Analysen angefertigt, die die Führungsfähigkeit und die politische Kommunikation unter Bedingungen eines bereits nuklear gewordenen Krieges thematisierten.Footnote 7 Viel Raum wurde aber auch der Entwicklung einer Allianzstrategie angesichts einer sowjetischen Politik beigemessen, die danach strebte trotz gegenseitig gesicherter Abschreckung militärische Optionen in Europa zurück zu gewinnen (Nerlich und Bomsdorf 1982a, b; Nerlich und Thomson 1986; Ruehl 1987). Hier wurden insbesondere die schwierigen Zusammenhänge zwischen Politik und Militärstrategie deutlich, die sich mit der NATO-Strategie der flexiblen Verteidigung ergaben (Stratmann 1981).

Mittlerweile nimmt das Abschreckungsthema wieder einen großen Stellenwert in der strategischen Wissenschaft ein. Hier stehen in erster Linie die Abschreckung Russlands und Chinas sowie weiterer problematischer Akteure (wie den Iran) vor militärischen Aggressionen oder hybriden Kriegen im Mittelpunkt. Die neue Abschreckungsdebatte ist allerdings auf regionale Konfliktlagen fokussiert und versucht die Mehrdimensionalität der Herausforderung in den Vordergrund zu stellen (deWijk 2018; Bergeron 2018; Mallory 2019). Wesentlich für diese Debatte ist auch das Bemühen, die Rolle von Kernwaffen in einem Abschreckungsdispositiv so gering wie möglich zu belassen (Hlatky und Wenger 2015).

3.5 Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungspolitik

Ein wichtiges Feld der strategischen Wissenschaft ist immer der Bereich der Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungspolitik bei Massenvernichtungswaffen gewesen, wobei zurzeit des Ost-West-Konflikts immer ein enger Nexus zwischen Rüstungskontrolle und der Strategie der USA und der NATO bestand (Yost 1981). Rüstungskontrolle wurde vor allem in der Hochphase des Ost-West-Konflikts zu einem zentralen Thema, besonders die nukleare Rüstungskontrolle (Bull 1961). Unter Rüstungskontrolle versteht man alle Maßnahmen und Arrangements, die den Zweck haben, militärische, strategische und politische Probleme, Instabilitäten und Gefährdungen zu reduzieren, die aus Waffen, Rüstung und/oder Rüstungstechnologien resultieren. Es ist typisch für die Strategic Studies, dass sie Rüstungskontrolle und nicht Abrüstung in den Vordergrund stellen. Rüstungskontrolle ist die pragmatische Alternative zur utopischen Idee der Abrüstung, ohne dass damit ausgeschlossen werden soll, dass Abrüstung tatsächlich machbar ist (wie etwa bei Chemiewaffen). Rüstungskontrolle unterscheidet sich von dem Ziel der Abrüstung in der Hinsicht, dass nicht in jedem Fall die Abschaffung von Waffen das beste Mittel sein muss, um rüstungsbedingten Risiken zu begegnen.Footnote 8

Während zu Zeiten des Ost-West-Konflikts die nuklearstrategische Rüstungskontrolle im Vordergrund stand (d. h. die Frage, wie ein Nuklearwaffenkrieg aus Versehen oder aus einer falschen Krisenentscheidung heraus verhindert werden kann und Wettlaufrisiken eingedämmt werden können), war die Endphase des Ost-West-Konflikts vor allem durch die Bemühungen um konventionelle Rüstungskontrolle charakterisiert. Eine Vielzahl von Studien der strategischen Wissenschaft haben diese Bemühungen begleitet, unterstützt und oft auch konzeptionell weiter entwickelt (Hartmann et al. 1994). Daneben nahmen auch stets die Bemühungen um die Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen einen großen Raum in den Strategic Studies ein. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich das Schwergewicht der wissenschaftlichen Beschäftigung auf Fragen der Nichtverbreitungspolitik verlagert, wobei heute die Themenstellungen anders sind als noch in den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Galten damals die Hauptsorgen Staaten wie Deutschland oder Japan, stehen heute vor allem Schwellenstaten aus Asien, dem Mittleren Osten, Lateinamerika und Afrika im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (Krause 1998).

Mit den Veränderungen des internationalen Umfeldes seit Mitte des vergangenen Jahrzehntes tritt allerdings erneut das Thema Rüstungskontrolle in den Vordergrund.

3.6 Coercive diplomacy

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist die Debatte über Abschreckung und Rüstungskontrolle weiter gegangen. Allerdings bewegen sich beide Diskussionen in unterschiedliche Richtungen. Während Rüstungskontrolle mehr und mehr ein Instrument präventiver Diplomatie wird, die vor allem der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel sowie der Verhinderung der Ausbreitung von Kleinwaffen und der Kontrolle neuer Technologien dient, ist die Abschreckungsdebatte Teil einer breiteren Debatte über coercive diplomacy, d. h. einer Außenpolitik der westlichen Staatengemeinschaft, die verschiedene Zwangsinstrumente einsetzt, um auf Akteure zu reagieren, die internationale Sicherheitsprobleme darstellen. Mit coercive diplomacy sind im Prinzip alle Maßnahmen umschrieben, mit denen Staaten versuchen auf andere staatliche (oder auch manchmal nicht staatliche) Akteure einzuwirken, die eine Bedrohung der internationalen Sicherheit oder des Friedens darstellen oder darstellen werden (George 1991; George und Simons 1994). Dazu können Maßnahmen militärischer Art gehören, vor allem solche, die auf dem Prinzip der Abschreckung aufbauen (Freedman 2004), und solche, die nicht-militärischer Art sind, die aber erhebliche Zwangselemente enthalten, wie ökonomische, finanzielle, politische und auf Individuen bezogene Sanktionen (Dobbins 2007; Drezner 1999; Gottemoeller 2011). Während die Debatte über Abschreckung noch sehr begrenzt ist und sich vor allem mit Möglichkeiten befasst, wie asymmetrischen Bedrohungen in „maßgeschneiderter“ Weise entgegengewirkt werden kann (Kamp und Yost 2009), ist die Debatte über Sanktionen sehr viel weiter gediehen und umfasst eine Vielzahl von Themen. In erster Linie geht es um die Aufarbeitung bisheriger Sanktionspolitik, insbesondere um die Frage der Effektivität von Sanktionen – die sehr unterschiedlich eingeschätzt wird.Footnote 9 Darüber hinaus geht es um die Einschätzung der neuen Instrumente, die sich vor allem unter Bedingungen der Globalisierung für die USA und andere westliche Staaten bieten (Brzoska 2001; De Jonge-Outdraat 2000; Giumelli 2011). Aber auch die Frage steht im Vordergrund, welche Rolle die Vereinten Nationen angesichts des Aufstiegs neuer Mächte im Bereich der Sanktionspolitik noch spielen können und welche unterschiedlichen Vorstellungen innerhalb der westlichen Allianz zu berücksichtigen sind (Niblett und Mix 2006; Doxey 2007).

3.7 Analysen regionaler Konflikte

Neben der Beschäftigung mit der Sowjetunion und mit Rüstungskontrolle und anderen Instrumenten zur Wahrung von Stabilität haben Analysen regionaler Konflikte stets einen großen Stellenwert in der strategischen Wissenschaft eingenommen. Dies betraf in erster Linie die weltpolitischen Konfliktzonen während des Ost-West-Konflikts: den Nahen und Mittleren Osten, Ostasien, Südasien, Lateinamerika aber auch Südosteuropa und – wenngleich erst später – Afrika südlich der Sahara. Gegenstand der meisten Studien waren die lokalen und regionalen Konfliktursachen – die häufig mit post-kolonialen Verwerfungen zu tun hatten – sowie die Rolle auswärtiger Interventionsmächte. Manche regionalen Konflikte wurden erst dadurch für die strategische Wissenschaft interessant, weil sie die Parteien des Ost-West-Konflikts mit einbezogen (Holbraad 1979).

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat die Bedeutung regionaler Studien im Rahmen der strategischen Wissenschaft deutlich zugenommen. Nunmehr werden regionale Konflikte nicht mehr im Rahmen eines größeren strategischen Zusammenhangs analysiert, sondern als Konflikte sui generis bzw. als Teil einer Neuordnung einer Region (oder als Symptom eines Ordnungszerfalls). Das Besondere an vielen strategischen Regionalanalysen ist, dass sie eine Untersuchung der komplexen Konfliktursachen mit einer Analyse der Konfliktdynamik kombinieren. Die Absicht ist es dann, Gefahrenpotenziale zu bestimmen (Ausbreitung auf andere Akteure, Eskalation der Gewalt, viele Menschenopfer) sowie Möglichkeiten der politischen Lösung aufzuzeigen.

3.8 Konfliktprävention, -regelung und Friedenskonsolidierung

Seit Beginn der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts gibt es eine ganz neue Sparte der strategischen Wissenschaft, die sich mit den internationalen Bemühungen um die Regelung von regionalen Konflikten, deren Prävention sowie um die Konfliktnachsorge (Friedenskonsolidierung, state building) befassen (z. B. Kühne 1993; Carnegie Commission on Preventing Deadly Conflict 1997). Im Mittelpunkt stehen dabei die Vereinten Nationen, die in allen Bereichen ihre Aktivitäten enorm ausgeweitet haben, wobei die Bilanz teilweise sehr unterschiedlich ausfällt.Footnote 10 Die meiste Aufmerksamkeit liegt im Bereich der Friedenskonsolidierung, d. h. den Versuchen nach einem Konflikt (insbesondere nach einem Bürgerkrieg) Staatlichkeit herzustellen oder wieder zu etablieren. Die Erfahrungen der vergangenen drei Jahrzehnte in diesem Bereich sind durchwachsen und werden in der Literatur sehr unterschiedlich bewertet.Footnote 11

3.9 Globalisierung und der Aufstieg oder Abstieg von Regionen

Ein weiteres Feld der regionalen Analysen besteht darin, das strategische Entwicklungspotenzial von Regionen zu analysieren, in denen große wirtschaftliche Entwicklungsprozesse stattfinden. Anhaltspunkt für derartige Analysen sind die Vergleiche mit dem Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In Europa fand zu diesem Zeitpunkt eine so gewaltige Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft statt, dass alle bis dahin existierenden Strukturen der politischen und gesellschaftlichen Regelung und der internationalen Ordnung erodierten und 1914 der bis dahin blutigste Krieg der neueren Geschichte ausgelöst wurde (Polanyi 1977). Heute kann man in Ostasien (bzw. Asien-Pazifik) vergleichbare Prozesse beobachten, die durch den gewaltigen wirtschaftlichen Aufstieg erst Japans, dann der asiatischen Tigerstaaten und nunmehr Chinas angeregt werden. Besonders das seit 40 Jahren anhaltende gewaltige wirtschaftliche Wachstum der VR China stachelt derzeit die Fantasie vieler strategischer Experten an, denn hier findet dank der Größe und Bedeutung Chinas eine Transformation statt, die strategische Verschiebungen von geradezu tektonischem Charakter erkennen lässt.Footnote 12 Daneben ist zu beobachten, dass die wirtschaftliche Entwicklung anderer Schwellenstaaten (Indien, Brasilien, Mexiko, Indonesien) mehr und mehr Parallelen mit derjenigen Chinas aufweist und somit weitere strategische Transformationen stattfinden können, die das Bild der internationalen Politik nicht nur in Asien, sondern auch global ändern werden.

Eine weitere Region, deren Entwicklung vielen strategischen Analytikern Sorge bereitet, ist der Nahe und Mittlere Osten. Hier ist die Ausgangslage eine andere. Nicht die Möglichkeit der tektonischen Verschiebung dank erfolgreicher wirtschaftlicher Entwicklung ist hier das Hauptproblem, sondern gerade das Ausbleiben einer solchen. Die wirtschaftliche Entwicklung in der Region schließt trotz des kontinuierlichen, massiven Zuflusses finanzieller Ressourcen während der vergangenen 30 Jahre breite Schichten der Bevölkerung nicht mit ein. Der sogenannte „Erweiterte Mittlere Osten“ hat heute insofern Ähnlichkeiten mit dem Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts, als dass hier extrem gewaltsame und nihilistische Ideologien entstehen, die das Potenzial zu einer neuen Form des Totalitarismus haben.Footnote 13 Die größte Sorge bereitet dabei das Aufkommen extremster Formen des Terrorismus, die auch vor dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen nicht zurück schrecken könnten (Allison 2004).

3.10 Asymmetrische Kriegführung und Terrorismus

Im Zusammenhang mit der Verfolgung regionaler Entwicklungen ist auch das Interesse der strategischen Wissenschaft an Fragen der asymmetrischen Kriegführung und des internationalen Terrorismus zu sehen. Besonders der Vietnam-Krieg, der für die USA unter anderem verloren ging, weil die politische Unterstützung im eigenen Land wegbrach, erregte das Interesse vieler strategischer Experten und führte zu einer Vielzahl von Studien, die Strategien und Taktiken asymmetrischer Kriegführung (Guerilla-Kriegführung) aufgriffen (Galula 1958; Thompson 1972; O’Balance 1975). Nach dem Ende des Vietnam-Krieges war es eine Zeit lang ruhig um diese Art von Studien, erst die negativen Erfahrungen der US-Streitkräfte im Libanon und in Somalia sowie die Ereignisse des 11. September 2001 haben erneut die Aufmerksamkeit auf Fragen der effektivsten Formen zur Bekämpfung von Terroristen und irregulären Kombattanten gelenkt. Heute beschäftigen sich strategische Experten in vielen Ländern mit diesen Fragen. Im Zentrum dieser Analysen stehen Analysen der Denkweisen der vorwiegend salafistischen Terroristen und Jihadisten,Footnote 14 der Strukturen und des Aufbaus der entsprechenden Organisationen und Milizen.Footnote 15 Auch Bedrohungsanalysen nehmen mittlerweile großen Raum ein.Footnote 16 Zunehmend stehen auch die jeweiligen regionalen Schauplätze im Mittelpunkt, in denen terroristische Milizen und Organisationen in Kriege mit Staaten verwickelt sind.Footnote 17 Große Aufmerksamkeit finden mehr und mehr Fragen der Bekämpfung terroristischer Milizen und Bewegungen in Staaten, die Gegenstand internationaler Bemühungen zur Friedenskonsolidierung sind, wobei der Übergang von counter-insurgency zu counter-terrorism fließend ist.Footnote 18 Mehr und mehr werden dabei auch kritische Fragen zur Entwicklung der Kriegführung generell aufgeworfen, die zunehmend auf Spezialkräfte und Abstandswaffen (wie Drohnen) abzielen und wo die Unterschiede zwischen Krieg und Verfolgung von Straftätern verschwimmen (Robinson 2013; Horlohe 2011).

3.11 Analyse „neuer Kriege“

Eng damit zusammen hängt die Analyse der so genannten „Neuen Kriege“, d. h. der vornehmlich in Afrika, Asien und Lateinamerika stattfindenden Kriege geringer Intensität, die dennoch jahrzehntelang andauern und zum Verfall ganzer Staaten und Regionen (vor allem in Afrika) führen können. Diese neuen Kriege haben bereits mehr Menschenopfer gefordert als alle „normalen“, zwischenstaatlichen Kriege der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Sie werden mehr und mehr zum Regelfall. Kennzeichen der neuen Kriege sind, dass diese weniger zwischen Staaten, sondern primär innerhalb instabiler oder gescheiterter Staaten stattfinden und dass die Kriegführung häufig durch irreguläre, leicht bewaffnete Verbände (befehligt von warlords) erfolgt. Ähnlich wie im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts bilden sich dabei selbstperpetuierende Formen des Krieges, die kaum durch externe Intervention zu unterbinden sind. Dort wo sich diese Kriege in rohstoffreichen Gebieten abspielen, kommt es zu transnationalen Strukturen, die derartige Konfliktmuster langfristig aufrechterhalten und dazu beitragen, dass Kriegführen für viele warlords und „Befreiungsbewegungen“ zu einem einträglichen Geschäft wird. Die Akteure der neuen Kriege halten sich in der Regel nicht an Grundsätze des humanitären Völkerrechts, sondern zeichnen sich häufig durch massive und systematische Übergriffe auf die Zivilbevölkerung aus. Gegenüber internationalen Interventionen werden häufig asymmetrische Strategien eingesetzt (Münkler 2002; Kaldor 2000; Daase 1999).

3.12 Maritime Sicherheit

Im Zusammenhang mit den oben genannten Entwicklungen nehmen auch Fragen maritimer Sicherheit und Strategie einen zunehmend größeren Stellenwert ein. Hierbei ist das Zusammentreffen unterschiedlicher Entwicklungen von Bedeutung, die in ihrem Zusammenwirken die bislang bestehende maritime Überlegenheit des Westens (weitgehend der USA) und die damit verbundene Garantie der Freiheit der Seeschifffahrt zumindest tendenziell beeinträchtigen (Bruns et al. 2013). Hierzu gehören die wachsenden maritimen Fähigkeiten Chinas, Indiens und anderer Schwellenmächte und die damit verbundenen Herausforderungen und Bedrohungen (Yoshihara und Holmes 2013; Gold et al. 2013) sowie die Bedrohungen der Seefahrt durch Piraterie vor den Küsten Somalias, Nigerias und Südostasiens (Hesse 2011; Nelson 2012; Haywood und Spivak 2012) und die Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft um die Sicherung der Seefahrtswege.

3.13 Management von Allianzbeziehungen

Ein wichtiger Bereich der heutigen Strategiewissenschaft ist dass Management von Allianzbeziehungen. Dies reflektiert die besondere Rolle der NATO als einem Bündnis, für das es in der Geschichte keine Parallele gibt. Das Neue an der NATO war und ist, dass diese eine Form der permanenten Kooperation (und integrierten Kommandobildung) darstellt (Krause 1996). Dadurch wurde etwas erreicht, was es bislang so nicht gegeben hatte: dass sich eine Gruppe demokratischer Staaten gegen einen entschlossenen und überlegenen Gegner behaupten und diesen sogar ohne einen Schuss abgegeben zu haben auch „besiegen“ konnte. Dennoch war die NATO nie eine Institution, in der Harmonie und ständige Kooperation herrschten. Im Gegenteil, es gab immer wieder Krisen und grundsätzliche Kontroversen, die die Grundlagen des Vertrages und der Organisation in Frage zu stellen schienen. Dies war besonders zu den Zeiten virulent, in denen die nuklearstrategische Garantie der USA für die europäische Sicherheit als unzuverlässig galt und große Debatten in Europa und den USA darüber ausbrachen, wie auf diese Lage zu reagieren sei. An diesen Debatten wirkte eine Vielzahl von strategischen Experten mit, die diese strukturierten und teilweise später auch mitgestalteten.Footnote 19

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts haben sich die Fragestellungen und Herausforderungen der strategischen Wissenschaft im Bereich des Allianzmanagements verschoben. Erst einmal stand die Frage im Vordergrund, ob die Allianz nach dem Wegfall der Bedrohung überhaupt noch einen Sinn habe. Dies war ein wichtiges Anliegen in den 1990er-Jahren, als es angesichts der regionalen Konflikte auf dem Balkan um die Frage ging, ob es angebracht sei, die Nordatlantische Allianz einzuschalten.Footnote 20 Seit dem Streit über den Irak-Konflikt in den Jahren 2002 und 2003 zieht sich ein tiefer Graben durch die Allianz. In der Hauptsache geht es hier um Fragen der internationalen Ordnung: Soll diese primär an den Vereinten Nationen und den Beschlüssen des Sicherheitsrates (bzw. dem Nichttätigwerden des Sicherheitsrates) orientiert sein oder kann und soll eine Gruppe demokratischer Staaten sich auch dann dazu aufschwingen, die internationale Ordnung zu verteidigen, wenn das dafür zuständige Organ handlungsunfähig ist?

Seit 2014 wird in der strategischen Wissenschaft darauf verweisen, dass sowohl Russland wie auch China sich auf regionale Kriege an ihren Peripherien vorbereiten, mit denen die USA und ihr Bündnissystem herausgefordert werden sollen (Roberts 2020). Dabei käme es zu einer Wiederbelebung der Rolle von Kernwaffen als Instrument der Eskalationskontrolle (Kroenig 2018; Brauß und Krause 2019). In diesem Zusammenhang besinnt sich die NATO seit 2014 auf die Wiederbelebung der Bündnisverteidigung angesichts einer regional begrenzten militärischen Bedrohung Russlands gegen NATO-Mitglieder (Meyer zum Felde 2018). Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat gezeigt, wie berechtigt diese Befürchtungen waren und sind. Eine neue allianzinterne Konfliktlinie entsteht derzeit infolge der zunehmenden militärischen Herausforderung der USA durch China im ostasiatischen Raum. Dies erfordert nicht nur, dass die europäischen Allianzpartner eine größere militärische Verantwortung für die Verteidigung der Bündnispartner in Europa übernehmen (Colby 2021), sondern auch Partei für die USA in ihrem Konflikt mit China nehmen.

3.14 Bewahrung internationaler Ordnung

In den vergangenen Jahren hat die Beschäftigung mit grundsätzlichen Fragen internationaler Ordnung deutlich zugenommen. Damit wird eine Debatte wieder aufgenommen, die schon in den 1940er-Jahren aufkam, dann aber unter dem Eindruck des Ost-West-Konflikts wieder verebbte.Footnote 21 Im Wesentlichen geht es darum, international eine Form des geregelten Miteinanders zu finden, die den Frieden sichern kann. Von „internationaler Ordnung“ kann man dann sprechen, wenn die Mitglieder eines internationalen Systems einen gewissen Grad an Gemeinsamkeit entwickelt haben, so dass sie zu einer Art „anarchischer Gesellschaft“ werden. Innerhalb dieser bestehen bestimmte Regeln, die das Überleben des Systems und seiner Akteure sowie in der Hauptsache die Wahrung des Friedens garantieren sowie helfen, andere als gemeinsam erachtete grundlegende Ziele (wie Wohlstand durch Freihandel) zu verfolgen. Dieses Konzept internationaler Ordnung wurde in den 1970er-Jahren von Hedley Bull eingeführt und von Gordon Craig und Alexander George weiter entwickelt (Bull 1977; Craig und George 1984). Demnach müssen drei Elemente gegeben sein, um von einer internationalen Ordnung zu sprechen: (1) eine gemeinsame Übereinkunft zwischen den beteiligten Staaten über die Ziele und Perspektiven; (2) das Vorhandensein einer Systemstruktur, die der Herstellung der Ziele dient und (3) die Existenz und Wirksamkeit akzeptierter Verfahrensregeln (Normen, Usancen und Institutionen).

Derzeit bewegt sich die Debatte zwischen zwei verschiedenen Polen: zwischen einem institutionalistischen Verständnis von Ordnung, wie es vor allem die Europäer bevorzugen und einem liberalen Konzept von Ordnung, welches sich mit Elementen realistischer Theorie mischt und hegemoniale Züge trägt und eher in den USA zu Hause ist (Krause 2005, 2008; Ikenberry 2011). Die erstgenannte Denkschule bevorzugt ein strikt legalistisches Verständnis von internationaler Ordnung, die letztere betont die besondere Bedeutung der Hegemonie der USA für die internationale Ordnung und die Voraussetzungen, unter denen diese Hegemonie erhalten werden kann (Ikenberry 2001). Ein wesentlicher Ansatzpunkt von Analysen ist die Frage nach der Wirksamkeit internationaler Organisationen oder des Multilateralismus generell (Glennon 2003; Krause und Ronzitti 2012).

In den vergangenen Jahren steht der Erhalt der westlich geprägten, regelbasierten internationalen Ordnung im Mittelpunkt vieler Analysen im Bereich der strategischen Studien. Vor allem die fundamentale Herausforderung dieser Ordnung durch China unter Xi Jinping bereitet die meiste Sorge. Hierzu zählt in erster Linie der Versuch, internationale Institutionen im Bereich Handel, Finanzbeziehungen, Investitionen, Kommunikation und Verkehr in einer Weise umzustrukturieren, dass die Interessen und Vorlieben der kommunistischen Führung Chinas berücksichtigt, der Einfluss der USA und des Westens zurückgedrängt und vor allem Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechtsschutz sowie die Achtung der Souveränität kleinerer Staaten zurückgefahren werden.

Ein wesentliches Element der Krise der internationalen Ordnung besteht auch darin, dass sich der Westen als Gesellschaftsformation in einer Krise befindet (Krause 2017; Fukuyama 2018). Besonders die Amtszeit von Donald Trump als US-Präsident hat erkennen lassen, wie die innere Krise der USA zu einer Erschütterung des internationalen Ordnungsgefüges werden kann (Daalder und Livingstone 2018). Von daher markieren Analysen zum Zusammenhang westlicher Gesellschaften und internationaler Ordnung ein neues Aufgabenfeld der strategischen Studien.

3.15 Gefahr und Einhegung großer Kriege

Mit der Krise der internationalen Ordnung, dem Aufstieg Chinas auch als Militärmacht sowie dem Wiederauftritt Russlands als strategischer Gegner des Westens (Adomeit 2021) setzt sich ein Teil der strategischen Wissenschaft heute auch mit dem Thema auseinander, ob wieder die Möglichkeit eines großen Krieges gibt, und wenn ja, wo und unter welchen Umständen ein großer Krieg entstehen, wie er verhindert oder gegebenenfalls beendet werden kann (Krause 2020). Im Wesentlichen werden dabei Kriege zwischen den USA und China über die Vorherrschaft in Ostasien in Betracht gezogen (Friedberg 2011; Allison 2017). In den USA ist zudem eine wissenschaftliche Debatte darüber zu beobachten, ob es weiterhin sinnvoll ist, mit großen militärischen Kräften in Ostasien zum Schutz der Verbündeten und strategischen Partner präsent zu bleiben, oder ob es besser wäre die eigenen Kräfte zurückzuziehen und diese im Krisenfall wieder zurückzuführen (Montgomery 2014).

4 Theoretische und methodische Einordnung

Angesichts dieser Vielfalt der Themen (und angesichts der Tatsache, dass dies zumeist eng mit der politischen Praxis verbundene Themen waren und sind) nimmt es nicht Wunder, dass die theoretische und methodische Fundierung der strategischen Wissenschaft anders aussieht als im derzeitigen mainstream der universitären Politikwissenschaft.

Im Gegensatz zu den Hauptströmungen der Politikwissenschaft, die sich in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts stark institutionalistisch ausrichtete, hatten Vertreter der strategischen Wissenschaft von Anbeginn an eine stärkere Tendenz zu Theorien des Realismus bzw. zu Varianten des Realismus. Dies ist nicht weiter verwunderlich, geht doch der politische Realismus davon aus, dass Machtbeziehungen einen zentralen Stellenwert in der internationalen Politik einnehmen. Allerdings finden sich bei Autoren der strategischen Wissenschaft heute viele, die auch andere theoretische Ansätze mit einbeziehen, insbesondere auch Ansätze der Politischen Ökonomie und des Institutionalismus.

Im Gegensatz zu den heute vorherrschenden Formen des politikwissenschaftlichen Realismus (vor allem dem Neorealismus und den verschiedenen Varianten von offensivem und defensivem Neorealismus) und des liberalen Institutionalismus haben die meisten Vertreter der strategischen Wissenschaft die szientistische Wende der Politikwissenschaft nicht oder nur partiell mitgemacht. Bei vielen steht das Bemühen im Vordergrund, mit hermeneutischen Methoden ein umfassendes und komplexes Verständnis politischer und historischer Entwicklungen zu entwickeln. Insbesondere gilt es das komplexe Ineinanderwirken von sozialen, wirtschaftlichen, politischen und technologischen Entwicklungen zu erschließen (strategische Bewertung) und auf dieser Basis politische Optionen zu formulieren. Dabei wird durchaus auch mit formalen Verfahren gearbeitet, etwa mit der Systemanalyse oder auch mit Verfahren der Operations Research (Kugler 2006). Manche Autoren haben Verfahren entwickelt, wie Themen der strategischen Wissenschaft mit qualitativen Fallanalysen zu behandeln sind (George und Bennet 2005; van Evera 1997). Allerdings ist bei Vertretern der Strategic Studies häufig eine große Skepsis über die Möglichkeit zu finden, mit wissenschaftlichen Methoden allgemein gültige Regeln zu erschließen. Kaum ein in der Politikberatung engagierter Strategieexperte wird der in der universitären Wissenschaft und Grundlagenforschung weit verbreiteten Argumentation folgen wollen, wonach es allgemeine Gesetze des menschlichen Verhaltens gäbe, die mit methodisch anspruchsvollen formalen Verfahren zu analysieren Aufgabe der Wissenschaft sei. In der strategischen Wissenschaft ist das hauptsächliche Interesse daran, Erkenntnisse zu gewinnen, die in einer bestimmten Periode Entwicklungen von strategischer Relevanz zu erklären vermögen.

Ein anderer Unterscheidungspunkt ist die außerordentlich weit ausgebildete Interdisziplinarität in der strategischen Wissenschaft. Diese ist geradezu konstitutiv für die strategische Wissenschaft und gilt als ihr Markenzeichen. Das Besondere an den Strategic Studies ist gerade, dass dort Politikwissenschaftler, Historiker, Ökonomen, Juristen, Physiker, Soziologen, Islamwissenschaftler, Slawisten, Indologen, Sinologen und viele andere Disziplinen zusammenwirken und dass an diesem Austausch auch Praktiker aus Politik und Militär mitwirken.

5 Zentren der strategischen Forschung

Auch heute befinden sich die wichtigsten Zentren der strategischen Forschung in angelsächsischen Ländern, in erster Linie in den USA, Großbritannien und Australien. Dabei ist zu unterscheiden zwischen jener Wissenschaft, die an Universitäten betrieben wird und jener, die an eigenen Forschungsinstituten stattfindet, welche sich zumeist in den jeweiligen Hauptstädten befinden.

Das unbestrittene Zentrum der strategischen Wissenschaft ist das bereits erwähnte IISS in London. Es ist dies weniger wegen seiner Eigenschaft als Forschungsinstitut – es ist kleiner als viele amerikanische Einrichtungen. Das IISS ist jedoch eine Mitgliedervereinigung, die über 2500 individuelle und fördernde Mitglieder hat und deren Veröffentlichungen, Konferenzen und sonstigen Aktivitäten den Kern der strategischen Wissenschaft in einem globalen Verbund darstellen. Das Institut gibt die jährlich erscheinende Reihe Military Balance heraus, ein Überblick über die Streitkräfte aller Staaten der Welt, ihre Verteidigungsausgaben sowie andere relevante Daten. Außerdem veröffentlicht es jedes Jahr einen strategischen Überblick (Strategic Survey), der die wichtigsten strategischen Ereignisse des vergangenen Jahres zusammenfasst. Das IISS gibt außerdem eine Zeitschrift (Survival) sowie verschiedenen Schriftenreihen (Adelphi Papers, Strategic Comments) heraus.

Das IISS ist zwar ein internationales Institut (was in der Zusammensetzung seines Council ebenso reflektiert wird wie in der Mitarbeiterschaft), es wäre aber undenkbar ohne ein damit sympathisierendes Umfeld sowohl in der britischen Politik wie in der akademischen Welt. In Großbritannien gibt es mehrere, zum Teil seit vielen Jahrzehnten oder Jahrhunderten bestehende Lehrstühle an angesehene Universitäten, die sich mit Themenfeldern der Strategic Studies beschäftigen. Als zwei Beispiele seien hier nur der Chichele-Lehrstuhl am All Soul’s College der Oxford University oder das Department for War Studies am King’s College in London genannt.

Was die USA betrifft, so hat die strategische Wissenschaft Schwierigkeiten, sich an Universitäten zu halten, weil hier die szientistische Revolution in den vergangenen drei Jahrzehnten dazu geführt hat, dass viele Lehrstühle und Institute verschwunden sind oder heute Inhalte in der Forschung verfolgt werden, die nichts mehr mit Strategic Studies zu tun haben. Lediglich an Ivy League-Universitäten finden sich heute noch Schulen, die zumeist mit privaten Geldern finanzierte strategische Wissenschaft in großem Maße und auf hohem Niveau anbieten. Hier sind in erster Linie das Belfer Center und das Weatherhead Center der Kennedy School of Government der Harvard Universität zu nennen sowie die Paul Nitze School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University (Washington und Bologna). Auch die Georgetown University und die George-Washington Universität (beide Washington, D.C.) sowie die Stanford University in Kalifornien und die Princeton University betreiben noch Strategic Studies im nennenswerten Umfang.

In der Hauptsache werden Strategic Studies heute an Forschungsinstituten in den USA betrieben, die zumeist privat, teilweise aber auch staatlich finanziert werden. Hier sind vor allem die in Washington, D.C. ansässigen think tanks wie die Brookings Institution, das Center for Strategic and International Studies (CSIS), der Atlantic Council, das Center for a New American Security und die Carnegie Endowment zu nennen, von denen lediglich das CSIS und der Atlantic Council ausschließlich Strategic Studies betreibt, während die beiden anderen Institutionen auch auf anderen Feldern arbeiten. Die RAND Corporation (Santa Monica und Washington, D.C.) ist der größte think tank in den USA, auch hier ist nur ein Teil der Wissenschaftler mit strategischer Wissenschaft beschäftigt, aber in der Regel sind das mehr als an den meisten europäischen Instituten. Die RAND Corporation arbeitet weitgehend, jedoch nicht ausschließlich, auf der Basis von Regierungskontrakten. Daneben gibt es eine Vielzahl von kleineren und mittleren Instituten in den USA, zumeist in der Bundeshauptstadt oder im darum liegenden „beltway“ gelegen. Einige von ihnen sind politisch ausgerichtet (wie die konservative Heritage Foundation oder die linksliberale Arms Control Association und die Federation of American Scientists. Viele sind relativ locker politisch angebunden (wie das Nixon Center und das Stimson Center) und versuchen mit allen politischen Kräften zusammen zu arbeiten (wie das Center for a New American Security – CNAS). Aber auch in Kalifornien und Georgia finden sich vereinzelt Universitäten, an denen in großem Umfang und mit interessanten Ergebnissen zu strategischen Fragen geforscht wird (Monterey Institute of International Studies, University of Atlanta).

Im kontinentalen Europa liegen die Dinge anders. Nur in wenigen Ländern hat die strategische Wissenschaft an den Universitäten Fuß fassen können, dafür gibt es aber eine Reihe von think tanks und Forschungsinstitutionen, an denen strategische Wissenschaft betrieben wird. In Deutschland ist an erster Stelle das 1964 von Klaus Ritter in Ebenhausen bei München gegründete Institut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu nennen, welches für Jahrzehnte den wesentlichsten deutschen Beitrag zur internationalen strategischen Debatte leistete (Zunker 2007). Ähnliches gilt für das Ende der 1950er-Jahre von Wilhelm Cornides gegründete Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn (Eisermann 1999). Beide Institute befinden sich inzwischen in Berlin und sind stärker in den politischen Prozess eingebunden als dies früher der Fall war. Das Deutsche Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit der SWP ist das größte Institut dieser Art in Deutschland und Westeuropa und hat über 150 Mitarbeiter und einen Etat von über 12 Millionen Euro (2017). Im Vergleich zu dem, was in Deutschland für die Wirtschaftsforschung ausgegeben wird (über 70 Millionen Euro pro Jahr), ist das aber gering. Hier gibt es sechs große Institute, einige sind größer als die SWP. Die SWP versteht sich primär als Beratungsinstitut für Bundesregierung und Bundestag, ihre Ergebnisse sind aber der Öffentlichkeit zugänglich. Allerdings ist nur ein Teil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit strategischen Fragestellungen beschäftigt. Das Forschungsinstitut der DGAP, welches überwiegend privat finanziert ist, sieht seine primäre Aufgabe darin, in der politischen Debatte mitzuwirken. In Frankfurt gibt es zudem das Forschungsinstitut der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, das sich primär der Friedensforschung verpflichtet sieht, aber auch Themen behandelt, die zum Bereich der strategischen Forschung gehören (Rüstungskontrolle, Nichtverbreitungspolitik).

In Frankreich gibt es seit 1993 ein kleines Forschungsinstitut, welches sich mit strategischen Fragestellungen befasst und die Regierung berät, die Fondation pour la recherche stratégique in Paris. In anderen europäischen Ländern gibt es außenpolitische think Tanks, die unter anderem auch Fragen strategischer Natur aufgreifen. In Skandinavien gibt es sicherheitspolitische Forschungsinstitute, die teilweise vom Militär finanziert werden.

Was die strategische Wissenschaft an Universitäten betrifft, so sind die Schweiz, die Niederlande und Dänemark zu nennen. In der Schweiz hat die Forschungsstelle für Sicherheitspolitik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich sich einen guten Namen etabliert. Sie stellt heute das größte sicherheitspolitische Forschungsinstitut an einer Universität in Westeuropa dar. Alles andere bleibt bescheiden: In Dänemark gibt es seit einigen Jahren an der Süddänischen Universität Odense einen Lehrstuhl für War Studies. In den Niederlanden gibt es in Groningen einen Lehrstuhl, der sich mit Sicherheitspolitik befasst. Die einzigen universitäre Forschungsinstitute für strategische Studien in Deutschland befinden sich an der Universität Bonn (CASSIS) und der Universität Kiel (Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, ISPK). In Hamburg gibt es das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der dortigen Universität (IFSH), welches sich primär als Einrichtung der Friedensforschung versteht, aber auch Forschung betreibt, die strategische Fragen aufgreift.

In der Regel ist es schwer, Sicherheitspolitik oder strategische Studien an deutschen Universitäten zu betreiben. Oft tun sich Widerstände auf, wenn nur versucht wird strategische Wissenschaft zu betreiben. Seit einigen Jahren gibt es darüber hinaus Initiativen zur Einführung von Zivilklauseln an deutschen Universitäten, deren Ziel es ist, die wissenschaftliche Beschäftigung mit strategischen Fragen zu verhindern (Krause 2013). In der heutigen deutschen Politikwissenschaft gibt es strategische Wissenschaft praktisch nur noch als rudimentäres Phänomen, hier als wissenschaftliche Beschäftigung mit Sicherheitspolitik bezeichnet (Schwarz 1978; Wehling 1995). Das liegt an den Vorurteilen gegenüber allen Forschungen, in denen es ums Militärische geht (ausgenommen man betreibt Friedensforschung). Insofern hat sich seit Hans Delbrück nicht viel geändert.

An deutschen Universitäten herrscht zudem ein Verständnis von Politikwissenschaft wie auch von Sozialwissenschaften im Allgemeinen vor, welches primär Wert auf szientistische Verfahren und methodische Strenge legt. Dies führt in der Tendenz dazu, dass mehr und mehr Wissenschaftler kleinere und überschaubarere Fragestellungen aufgreifen, denn nur so ergeben sich Gelegenheiten, die angestrebte Vertrautheit mit formalen Verfahren und (nicht selten auch quantitativen) Methoden zu demonstrieren. Strategische Fragestellungen werden dabei praktisch ausgeschlossen oder in methodische Verfahren eingepresst, die der Sachlage unangemessen sind. Politikwissenschaft mit sicherheitspolitischem Schwerpunkt wurde und wird an einigen wenigen deutschen Universitäten von Politikwissenschaftlern betrieben. An der Universität Potsdam kann man einen stark militärhistorisch ausgerichteten Studiengang Militärwissenschaften studieren, an der Universität Hamburg bietet das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in Zusammenarbeit mit der Führungsakademie der Bundeswehr einen Masterstudiengang an.

Strategische Wissenschaft wird in Deutschland klein geschrieben und findet sich häufig marginalisiert. Dabei wäre gerade die kontinuierliche Begleitung der Außen- und Sicherheitspolitik durch eine international vernetzte strategische Wissenschaft wichtig für ein Land, welches eine zunehmende Rolle in der internationalen Politik zu spielen beabsichtigt. Strategische Wissenschaft hilft, strategische Irrtümer zu vermeiden.

Lediglich im Bereich der Bundeswehr gibt es nennenswerte Ressourcen, die auch unter den Begriff der strategischen Wissenschaft fallen, in erster Linie ist hier das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften in Potsdam zu nennen. Dieses Institut arbeitet die deutsche Militärgeschichte systematisch auf und hat viele verdienstvolle Studien produziert. Einrichtungen wie die Max-Planck-Gesellschaft, die Leibniz-Gesellschaft oder die verschiedenen Akademien der Wissenschaften haben bislang keinerlei Interesse daran gezeigt, strategische Wissenschaft als eine akademische Disziplin in Deutschland einzuführen. Der Nettoeffekt dieser Vernachlässigung ist, dass das, was den interdisziplinären Charakter von strategischer Wissenschaft ausmacht – das Miteinander von Militärgeschichte, Politikwissenschaft, Regionalwissenschaft, strategischer Analyse und auch technischer Einschätzung – in Deutschland nicht funktioniert und auch kaum Nachwuchs herausgebildet wird.

Keine der großen Stiftungen gibt Geld für die systematische Förderung strategischer Studien aus, die Mittel des Bundes für entsprechende Forschungseinrichtungen sind rückläufig. Im Gegensatz dazu erfreut sich die Friedensforschung seit 2000 einer regelmäßigen, wenngleich auch bescheidenen finanziellen Förderung durch eine eigens eingerichtete Stiftung, aber Friedensforschung lässt sich kaum als strategische Wissenschaft bezeichnen. Dass es aber noch Interesse in Deutschland an diesen Fragen geben muss, wird deutlich, wenn man sich die Mitgliederstruktur des International Institutes for Strategic Studies (IISS) anschaut, welches heute den Kernbereich der strategischen Wissenschaft darstellt. Deutsche stellen ein großes Kontingent an Mitgliedern. Auch das Interesse unter deutschen Studierenden ist groß; die meisten aber finden nur an ausländischen Universitäten in Großbritannien, den USA, Australien sowie zunehmend auch in Asien (z. B. Singapur) den Stoff, den sie zu studieren wünschen.Footnote 22