1. FC Union Berlin: Es regiert das Prinzip Hoffnung

1. FC Union Berlin: Es regiert das Prinzip Hoffnung

Der 1. FC Union Berlin setzt im Bundesliga-Endspurt den letzten Impuls, um noch die Klasse zu halten. Marco Grote soll es als Trainer richten. Ein Ausblick.

Marco Grote soll es in dieser Saison ein zweites Mal richten und den 1. FC Union Berlin zum Klassenerhalt führen.
Marco Grote soll es in dieser Saison ein zweites Mal richten und den 1. FC Union Berlin zum Klassenerhalt führen.Luciano Lima/IMAGO

Es ist noch nicht lange her, da war der 1. FC Union Berlin in Fußball-Deutschland der Verein, auf den sich eigentlich alle einigen konnten. Klar, ein paar kritische Stimmen gab es immer, hier und da eine Personalentscheidung, die nicht allerorts als brillant erachtet wurde. Oder eine Zukunftsvision, die nicht für jedermann sofort innovativ klang, sondern von manchem Betrachter eher mit Argwohn begleitet wurde. Insgesamt aber, und darauf kommt es doch an, herrschte Konsens darüber, dass im Südosten Berlins rund um das Stadion An der Alten Försterei richtig gute Arbeit geleistet wird. Im inneren Kreis des Klubs war es Stolz, von außen betrachtet in erster Linie Bewunderung, mindestens anerkennender Respekt.

In dieser Saison aber sind dunkle Wolken aufgezogen. Eine Spielzeit, die mit dem Debüt in der Champions League und der Tabellenführung am zweiten Spieltag so verheißungsvoll begonnen hatte, droht mit dem Sturz in die Zweite Bundesliga zu enden. Die Eisernen liegen bei noch zwei ausstehenden Partien auf dem 15. Tabellenplatz, der zwar zur Rettung reichen würde, der aber nach 32 Spieltagen natürlich für alles andere als ruhige Nerven bei den Verantwortlichen sorgt.

Den kühlen Kopf zumindest, den es im Abstiegskampf zwingend braucht, lassen Präsident Dirk Zingler und Manager Oliver Ruhnert derzeit vermissen. Mindestens die Souveränität. Am Sonntag erklärte Zingler vor dem Spiel gegen Bochum, das Union letztlich mit 3:4 verlor, dass Trainer Nenad Bjelica die „volle Unterstützung“ habe. Die Saison, die Union spielen würde, wäre natürlich nicht gut, sagte Zingler, „das hat aber alles nichts mit Nenad Bjelica zu tun“. Und: „Das Entscheidende ist, dass die Spieler einem Trainer folgen und das ist bei uns der Fall.“ Ziemlich genau 24 Stunden nach diesen Aussagen wurde Bjelica am Montagnachmittag entlassen.

Es ist ein konfuses Bild, das der Verein spätestens in diesem Kalenderjahr abgibt. War die Trennung von Urs Fischer im November vergangenen Jahres nach einer schier endlos erscheinenden Negativserie zwar traurig, aber letztlich unvermeidbar, ernten Zingler und Co. für aktuelle Entscheidungen oder Aussagen häufig nur noch Kopfschütteln. Die Entlassung von Bjelica oder viel mehr die Aussagen des Präsidenten am Tag zuvor verstehen die Fans genauso wenig wie die Trennung vom Technischen Direktor Michael Parensen vor einigen Wochen. 15 Jahre war der Publikumsliebling im Verein, ohne in der offiziellen Mitteilung zum Abschied selbst noch einmal zu Wort zu kommen.

Es braucht Geschlossenheit und Vertrauen untereinander

Dass Ruhnert bei zahlreichen wichtigen Spielen in dieser Saison nicht im Stadion war, kommt für Außenstehende genauso überraschend wie die Tatsache, dass der Verein mit Noah Engelbreth am Saisonende einmal mehr einen der ambitioniertesten Jugendspieler abgibt. Der Kapitän der U19 wechselt im Sommer zu Hannover 96. Der Transfer ging am Montag im Wirbel um die Trennung von Bjelica fast ein wenig unter, rief bei zahlreichen Anhängern dennoch Frust, Unverständnis und Enttäuschung hervor.

Würde die Mannschaft auf dem Platz zumindest zuverlässig ihre Leistung bringen, würde all das deutlich weniger ins Gewicht fallen. Siege sind im Fußball durch nichts zu ersetzen und wenn der Erfolg da ist, wird wenig hinterfragt. Wenn das Team allerdings so spielt wie in den vergangenen Wochen, muss zumindest das Drumherum stimmen. Dann braucht es Geschlossenheit, Vertrauen untereinander und das bedingungslose Versprechen, dass jeder Einzelne alles für den Verein gibt. Bei Union, diesen Eindruck wird man nicht los, ist das im Frühling 2024 nicht der Fall.

Unzufriedene Spieler soll es unter Bjelica zuhauf gegeben haben. Die Information, dass der Vertrag mit dem Kroaten im Sommer unabhängig vom Ausgang der Saison aufgelöst werden sollte, gelangte in der vergangenen Woche an die Öffentlichkeit. Ein klares Statement des Vereins blieb in den Tagen danach aus. Bis eben Zingler sich am Sonntag äußerte, um am Montag konträr zu seinen Aussagen zu handeln.

Am Dienstag wiederum versuchte der 59-Jährige, das, was er am Mikrofon beim Streamingdienst Dazn erzählt hatte, verständlich einzuordnen. So sprach er von einem Missverständnis zwischen einem Treue- und einem Unterstützungsbekenntnis. „Ich habe in meiner 20-jährigen Amtszeit noch nie einem Mitarbeiter ein Treuebekenntnis abgegeben, weil ich das gar nicht kann.“ Die Unwahrheit habe er nicht gesagt, „natürlich habe ich gelesen, was geschrieben wurde (dass die Trennung von Bjelica spätestens zum Saisonende bereits beschlossene Sache war; Anm. d. Red.), aber es stimmte nicht und es stimmt auch heute nicht“.

Nun soll Marco Grote den 1. FC Union Berlin vor dem erstmaligen Abstieg in die Zweite Bundesliga bewahren. Der gebürtige Bremer, der die U19 auf den dritten Platz der Bundesliga Nord/Nordost geführt hat, war im November des vergangenen Jahres schon einmal interimsmäßig eingesprungen, hatte seinerzeit ein 1:1 gegen den FC Augsburg geholt und damit eine Serie von neun Bundesliga-Niederlagen am Stück beendet. Mehr zugetraut wurde ihm vor einem halben Jahr allerdings nicht.

Nur einen Tag nach dem Punktgewinn, den sich die Köpenicker durch den späten Treffer von Kevin Volland erkämpft hatten, wurde Bjelica offiziell vorgestellt. „Wir sind damals in der Abwägung aller Gespräche, die wir geführt haben, zu der Entscheidung gekommen, dass Nenad Bjelica der richtige Trainer für unsere Mannschaft ist“, sagte Zingler. „Das war unsere damalige Einschätzung.“ Die hat sich nun ganz offensichtlich geändert.

Zwei, die gut harmonieren: Marie-Louise Eta (l.) und Marco Grote
Zwei, die gut harmonieren: Marie-Louise Eta (l.) und Marco GroteMatthias Koch/IMAGO

An der Seite von Grote steht seit Montag – wie damals auch – Marie-Louise Eta. In einer Saison, in der es bei Union eigentlich keine Gewinner gibt, gab sie noch das beste Bild ab. Als die 32-Jährige zu Beginn des Jahres Bjelica wegen dessen Sperre nach einer Unsportlichkeit gegen Bayern-Profi Leroy Sané nicht nur an der Seitenlinie, sondern auch auf den Pressekonferenzen vor und nach den Spielen vertrat, machte sie eine gute Figur. Sympathisch, eloquent, aber vor allem mit einem hohen Maß an Fußball-Sachverstand erweckte sie den Eindruck, dass das mit dem 1. FC Union Berlin in dieser Saison doch noch alles ganz gut werden kann.

Zu Grote und Eta gesellt sich für die anstehenden Spiele beim 1. FC Köln (Sonnabend, 15.30 Uhr) und gegen den SC Freiburg (18. Mai, 15.30 Uhr) noch Sebastian Bönig. Bis vor einem halben Jahr war er Co-Trainer von Fischer und der Mann, der Mastermind hinter den so erfolgreichen Standardsituationen der Mannschaft. Die vielen Freistöße und Eckbälle, die bei Union zu Toren führten, waren immer auch eng mit seinem Namen verbunden. Nach der Trennung von Fischer hatte er sich eine Auszeit genommen, war vor zwei Monaten in einer anderen Funktion zurückgekehrt. Bönig sollte sich den ausgeliehenen Spielern widmen und deren Entwicklung begleiten. Als Vertrauensperson. Als Zuhörer. Als Kümmerer. Genau diese Personen braucht es rund um eine Profimannschaft. Es ist positiv, dass er zurück im Trainerteam ist. Dazu überredet werden musste er laut Zingler nicht.

Das Trio steht nun vor wegweisenden Tagen. Die schon angeschnittene Ausgangsposition mit Tabellenplatz 15 ist ein Plus, die Tatsache, den Klassenerhalt ganz allein in den eigenen Händen und vor allem in den Füßen zu haben, sollte den Spielern Selbstvertrauen geben können. Blickt man allerdings auf die desolate erste Halbzeit gegen Bochum zurück – unterirdische Phasen im Spiel gegen Bayern (1:5), haarsträubende individuelle Fehler, wie von Diogo Leite beim 0:2 in Augsburg oder die erschreckend harmlose Offensive, die mit Spieltag drei nach zwei 4:1-Siegen zum Bundesliga-Auftakt nie wieder in Gang gekommen ist – kann einem angst und bange werden. Gerade regiert das Prinzip Hoffnung.

Blickt man auf die vergangenen Bundesliga-Jahrzehnte zurück, sind Trainerwechsel kurz vor Toresschluss selten eine gute Idee gewesen. Vor drei Jahren installierte Werder Bremen den einstigen Meistercoach Thomas Schaaf vor dem letzten Spieltag und schmiss dafür Florian Kohfeldt raus. Eine 2:4-Niederlage gegen Borussia Mönchengladbach war das Resultat und damit verbunden das Abrutschen vom Relegationsrang auf einen direkten Abstiegsplatz. Nicht weniger öffentlichkeitswirksam war 2009 die Idee von Arminia Bielefeld, einen Spieltag vor Saisonende den inzwischen verstorbenen Jörg Berger für Michael Frontzeck als Trainer zu holen. Die Ostwestfalen fielen nach einem 2:2 gegen Hannover noch von Rang 16 auf Rang 18. 

Es geht aber auch anders. 2002/03 spielte Bayer Leverkusen, als Vizemeister in die Saison gestartet, eine furchtbare Runde. Nach 32 Spieltagen übernahm Klaus Augenthaler das Traineramt von Thomas Hörster, siegte mit 3:0 gegen den TSV 1860 München und 1:0 beim 1. FC Nürnberg, der Klassenerhalt gelang im Schlussspurt und verhinderte damit ein Novum. Noch nie musste eine deutsche Mannschaft, die zu Saisonbeginn in der Champions League gestartet war, am Ende den Gang in die Zweitklassigkeit antreten. Der 1. FC Union Berlin wäre der erste Klub, dem dieses Schicksal widerfahren würde.

Um das zu verhindern, muss das Trainer-Trio schnell einen Zugang zur Mannschaft finden. Nach dem Bochum-Spiel hatte Nenad Bjelica noch das ausgesprochen, was für alle längst offensichtlich war: „Das Problem liegt in den Köpfen, nicht in den Beinen.“ Eine fußballerisch neue Idee – böse Zungen würden behaupten, dass es keine neue, sondern überhaupt mal eine Spielidee bräuchte – muss her, aber vor allem das Vertrauen in die eigene Stärke. Fähige Spieler tummeln sich im Kader genug: Kevin Vogt, Rani Khedira, Danilho Doekhi, Torhüter Frederik Rönnow – ausnahmslos Profis, an denen man sich im Abstiegskampf aufrichten kann.

Ein Sieg am Sonnabend in Köln würde nicht nur einen direkten Konkurrenten in die Zweite Bundesliga schicken, sondern auch eine glänzende Ausgangsposition für das Saisonfinale vor heimischem Publikum schaffen. Der finale Spieltag wurde in den vergangenen Jahren immer mit Siegen gekrönt, allerdings ging es da auch dreimal in Folge um den Einzug in einen europäischen Wettbewerb. Und eben nicht darum, auch ein Jahr später weiterhin nach München oder Dortmund anstatt nach Elversberg oder Ulm zu reisen.