Seit über einem Jahrzehnt schon befinden sich die Chargers in unruhigen Gewässern. Nicht nur kam der Umzug von San Diego nach Los Angeles für NFL-Verhältnisse relativ plötzlich, er hatte auch zur Folge, dass man seine Fan-Base zurückließ. Und sportlich befindet man sich ohnehin in einer recht chaotischen Phase.
Seit dem Abgang von Head Coach Norv Turner, der die Chargers 2007 letztmals ins AFC Championship Game geführt hatte, nach der Saison 2012, hat das Franchise vier Head Coaches verschlissen. Und das, obwohl man eigentlich durchweg mit einem Franchise-Quarterback - erst Philip Rivers und dann Justin Herbert - gesegnet war. Zuletzt musste Brandon Staley nach etwas mehr als zweieinhalb Spielzeiten und nach einer herben 21:63-Klatsche gegen den Division-Rivalen Raiders seinen Hut nehmen.
Wie seinem Vorgänger Anthony Lynn war auch ihm nur eine Playoff-Teilnahme vergönnt, die jedoch im Debakel endete. Nach einer 27:0-Führung kurz vor der Pause im Wild Card Game bei den Jacksonville Jaguars nach der Saison 2022 kassierte Staleys Truppe noch eine 30:31-Niederlage und flog raus. Dass Staley danach überhaupt noch eine weitere Saison bekam, war überraschend.
Staley fiel immer wieder mit teils abstrusen und riskanten Entscheidungen spät in Spielen und in Sachen 4th Downs und Two-Point Conversions auf, die nur bedingt analytisch gestützt waren. Und jene hatten auch einen Anteil an den häufigen späten Kollapsen seines Teams in engen Spielen, die gefühlt immer zugunsten der Gegner ausgingen. Letztlich dürfte es ihn aber vor allem den Kopf gekostet haben, dass der als Defensiv-Guru anerkannte Ex-Rams-Coach es nie geschafft hat, trotz zahlreicher teurer Neuzugänge auch eine dominante Defense auf die Beine zu stellen.
NFL: Neuer Anlauf mit Jim Harbaugh
Nun jedoch geht der Blick nach vorn bei den Chargers. Der Wunschtrainer von Teameigner Dean Spanos, Jim Harbaugh, ist da und mit ihm ein komplett neues sportliches Regime an der Macht. Der neue General Manager ist mit Joe Hortiz ein Ex-Funktionär der Baltimore Ravens, der zuvor mit Harbaughs Bruder John zusammengearbeitet hat. Und generell setzte Harbaugh konsequent auf seine Leute.
Offensive Coordinator ist nun Greg Roman, der die gleiche Rolle schon zu seiner erfolgreichen Zeit bei den San Francisco 49ers innehatte und dann auch für John in Baltimore vor ein paar Jahren gearbeitet hat. Defensive Coordinator Jesse Minter wiederum war Harbaughs DC in den vergangenen zwei Jahren in Michigan.
Die Chargers setzen also alles auf eine Karte und hoffen, dass das System Harbaugh den lange ersehnten Erfolg zurückbringt. Schon bei seinem Amtsantritt im Februar gab er die Richtung vor: "Ich will gewinnen und zwar auf dem richtigen Weg. Ich will die Leute erstklassig behandeln und richtig gut in Sachen Football werden."
Dabei steht für ihn vor allem eines im Vordergrund: "Das Team, das Team, das Team. Es wird Teamarbeit brauchen. Es gibt keine magische Formel. Die einzige, die ich kenne, sind gute alte harte Arbeit und Teamwork." Wie das Team am Ende aussieht, ist derweil noch nicht gänzlich geklärt, die Free Agency und der Draft gaben jedoch ein paar Indizien.
Jede Menge neues Personal
Mit Wide Receiver Ladd McConkey und Offensive Tackle Joe Alt dürfte man in jedem Fall schon zwei neue Starter in den frühen Runden des Drafts gefunden haben. McConkey wird im Slot agieren, Alt als Right Tackle. Zudem kamen mit J.K. Dobbins und Gus Edwards gleich zwei Running Backs via Free Agency, die Roman bereits aus Baltimore bestens kennt. Auf Tight End kam Will Dissly von den Seahawks und Hayden Hurst aus Carolina, obgleich auch er einst seine Karriere in Baltimore unter John Harbaugh begann. Zudem kam vor wenigen Tagen noch Wide Receiver D.J. Chark dazu, der zuletzt bei den Panthers aktiv war.
Defensiv könnte sich Rookie-Linebacker Junior Colson, den Harbaugh quasi von den Wolverines mitgebracht hat, schnell als Starter etablieren.
Stilistisch wird die Chargers-Offense von nun an wohl wieder mehr wert aufs Run Game legen, nachdem es zuletzt eher durch die Luft ging. Harbaugh und Roman glauben an ein stabiles Run Game als Grundlage für Erfolg, was die Wahl von Alt an Position 5 im Draft eindeutig erklärt. Doch sollte man sich als Gegner der Chargers nicht nur aufs Power Run Game einstellen, Roman deutete nämlich bereits an, dass er das Passspiel ebenfalls nicht vernachlässigen Wolle. Hier soll es auf eine West-Coast-Variante hinauslaufen.
Es wird also viel Wert auf Timing und blindes Verständnis zwischen Quarterback und Receiver gelegt. Viele schnelle kurze Pässe bilden die Basis, was dann allerdings auch wieder Herberts beachtlichen Arm unterfordert. Die McConkey-Verpflichtung für den Slot wird hierdurch allerdings noch sinnvoller aussehen.
Und defensiv wird der generelle Ansatz dem von Staley ähneln. Es wird viele Disguises vor dem Snap geben, überwiegend Zone Coverage und eine Sonderrolle für Safety Derwin James, der künftig ähnlich wie Kyle Hamilton in Baltimore agieren soll. Sprich: Nach Staley-Nomenklatur in der STAR-Rolle, also nahe der Line im Slot mit vielseitigen Aufgaben - gegen den Run, in Coverage und als Blitzer, je nach Situation. Defense war einer der Hauptgründe, warum Harbaugh Michigan in der abgelaufenen Saison zu einer ungeschlagenen Saison und der ersten National Championship seit 1993 geführt hat.
Klare Mission
Entsprechend fällt auch Harbaughs Ziel in Los Angeles aus: "Die Lombardi Trophy. Das ist meine Mission."
Alle Sorgen und Baustellen dürfte Harbaugh in seinen ersten Monaten im neuen Job noch nicht beseitigt haben, doch darf man nun davon ausgehen, dass er der gesamten Organisation wieder eine klare Richtung vorgeben wird. Ob das schon in Jahr 1 zum Erfolg führen kann, sei dahingestellt - gerade in der AFC West ist die Konkurrenz vor allem aufgrund der Chiefs enorm -, doch langfristig gesehen konnte den Chargers wenig Besseres passieren als Harbaugh zurück in die NFL zu holen, wo er schon einmal ein brachliegendes Franchise in San Francisco wieder nahezu an die Spitze geführt hat.
Damals war erst in Super Bowl XLVII gegen seinen Bruder und die Ravens in New Orleans Schluss. Fun Facts: Zum einen wird es in diesem Jahr erneut einen Harbaugh Bowl geben - die Chargers empfangen die Ravens in diesem Jahr im SoFi Stadium -, zum anderen steigt Super Bowl LIX wieder um Superdome von New Orleans/Louisiana. Kann das wirklich Zufall sein?
Marcus Blumberg