Schlüsselwörter

1 Europäische Integration im Kontext europäischer Krisenpolitik

In der Europäischen Union (EU) ist die Kooperation zwischen Staaten so weit vorangeschritten wie nirgendwo sonst auf der Welt. Sowohl was den Umfang als auch die Tiefe ihrer Befugnisse angeht, stellt die EU die regionale Organisation mit dem höchsten Grad politischer Integration dar. Politische Integration beschreibt die graduelle und ergebnisoffene Übertragung politischer Kompetenzen vom Nationalstaat auf die supranationale, europäische Ebene (Rittberger und Schimmelfennig 2005, S. 20). Im Unterschied zu anderen regionalen oder internationalen Organisationen bearbeitet die EU eine enorme Vielzahl von Politikfeldern, die neben der ökonomischen und sozialen Regulierung des gemeinsamen Marktes, verteilungspolitische Maßnahmen (wie beispielsweise den Strukturfonds und die gemeinsame Agrarpolitik) und auch die Wirtschafts- und Währungspolitik sowie zentrale Fragen innerer und äußerer Sicherheit betreffen. Neben der funktionalen Zunahme an Regelungsbefugnissen, hat sich der territoriale Geltungsbereich des rechtlichen Besitzstandes der EU (acquis communautaire) im Zuge von Erweiterungsrunden auf 27 Mitgliedstaaten ausgeweitet. Über die graduelle Ausweitung von Zuständigkeiten hinaus haben sich im Laufe der Jahrzehnte die Entscheidungsbefugnisse der EU ebenfalls erweitert. So entschieden beispielsweise im Rat die Mitgliedstaaten bei immer mehr Regelungsmaterien mit qualifizierter Mehrheit. Das Europäische Parlament (EP) ist in den vergangenen Jahrzehnten im Rechtsetzungsprozess immer einflussreicher geworden. Zudem besitzen supranationale Organe wie die Europäische Zentralbank (EZB) und die Kommission für bestimmte Politikbereiche, wie in der Geld- bzw. in der Wettbewerbspolitik, exklusive Regelungsbefugnisse. Über die Einhaltung und Auslegung von EU-Recht wacht eines der einflussreichsten internationalen Gerichte, der Europäische Gerichtshof (EuGH).

Die Europaforschung beschäftigt sich in erster Linie mit den Ursachen politischer Integration in der EU, also der Ausweitung von Zuständigkeiten und der Vertiefung von Entscheidungsbefugnissen. Dieser Beitrag befasst sich daher intensiv mit EU-Integrationstheorien (EIT), da diese die Ursachen und Prozesse politischer Integration in der EU ausleuchten. Der Fokus von EIT lag lange Zeit auf dem graduellen Voranschreiten politischer Integration, was in erster Linie der historischen Entwicklung der EU geschuldet war: Bis zur Jahrtausendwende schritt die politische Integration im Zuge diverser Reformen der Gründungsverträge graduell voran, unterbrochen von Phasen der Stagnation. Die „Polykrise“ (Juncker 2016), die die EU seit den 2000er-Jahren heimsuchte, verdeutlicht hingegen, dass politische Integration keine Einbahnstraße ist, sondern sich mit zentrifugalen Kräften konfrontiert sieht. Durch die Eurokrise, die Migrationskrise, sowie den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU (Brexit) rückte die EU zunehmend ins Rampenlicht politischer Aufmerksamkeit. Die Krisendekaden führten zu einem Anfachen der „Politisierung“ (Hooghe und Marks 2009): EU- Politik gewinnt an Bedeutung für innenpolitische Auseinandersetzungen und verursacht mitunter vehemente Gegenreaktionen, was nicht zuletzt zu einer Stärkung populistischer sowie europaskeptischer Kräfte beiträgt. Die Befürworter von Integration, die Krisenursachen und -symptome mit mehr politischer Integration bearbeiten möchten, treffen vermehrt auf Kritik und Ablehnung von Integrationsskeptikerinnen und Integrationsskeptikern, die durch Krisenpolitik nationale Souveränitäts- und Identitätsvorstellungen bedroht sehen (Hooghe und Marks 2009, 2018). Trotz Politisierung zeichnet sich die europäische Krisenpolitik in der Euro-, Migrations-, Brexit- oder Corona-Krise interessanterweise durch stark unterschiedliche Integrationsverläufe aus. Während bei einigen Krisen multilaterale Herangehensweisen ein Fortschreiten der Integration auslösten, fand die EU für andere krisenbedingte Probleme keine effektiven Lösungsansätze. In der Migrationskrise etwa mussten EU-Mitgliedstaaten auf primär nationale Maßnahmen zurückgreifen, da Vorschläge zur Umverteilung von Flüchtlingen und eine Reform der Regeln für die Erstankunft (das „Dublin“-System) unzureichend blieben, oder von einigen Mitgliedsstaaten blockiert wurden. Die Reaktion der EU auf die Euro-Krise war effektiver, obgleich sie hinter einer Vertragsreform zurückblieb. So wurde ein milliardenschwerer Rettungsfonds – der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) – geschaffen, ein Fiskalpakt eingeführt und eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die die EU-Mitgliedstaaten zur Haushaltsdisziplin verpflichten. Im Rahmen der Corona-Krise bewies die EU sogar ein hohes Maß an Solidarität, indem sie erstmals durch gemeinsame Schuldenaufnahme Milliarden von Euro für die Bekämpfung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie bereitstellte sowie eine gemeinsame Strategie für den Kauf und die gerechte, interne Verteilung von Impfstoffen entwickelte. Obwohl sich die EU also spätestens seit 2010 im permanenten Krisenmodus zu befinden scheint, ist die Vertiefung politischer Integration noch lange nicht am Ende, auch wenn sie durch die Politisierung zunehmend umstritten ist und sich desintegrativen Tendenzen gegenübersieht. Zum besseren Verständnis dieser Entwicklungen befassen wir uns mit den drei wesentlichen EIT, dem Intergouvernementalismus, dem Supranationalismus (bzw. Neofunktionalismus) sowie dem Postfunktionalismus (3.), bevor wir anhand der Krisenpolitik der vergangenen Jahre die unterschiedlichen Erklärungsangebote illustrieren (4.). Im nächsten Schritt (2.) möchten wir kurz die Entwicklungsgeschichte der Europaforschung und damit von EIT beleuchten, um auf die (wechselseitige) Beeinflussung von Europaforschung und IB-Theorien einzugehen.

2 Europaforschung und Internationale Beziehungen: Eine enge Verwandtschaft

Die Analyse politischer Integration in der EU ist eng mit der Entwicklung von Konzepten und Theorien in den IB verknüpft. Sowohl der Neofunktionalismus von Ernst Haas, Leon Lindberg, Stuart Scheingold und Philippe Schmitter als auch der Intergouvernementalismus von Stanley Hoffmann drehen sich im Kern um die Frage, was zwischenstaatliche Kooperation und Integration antreibt oder verhindert. Neuauflagen und Modifikationen dieser beiden „Ursprungstheorien“, wie der Supranationalismus und der Liberale Intergouvernementalismus (LI), die in den 1990er-Jahren im Zuge des Binnenmarktprogramms und des Maastrichter Vertrages aufkamen, stellen nach wie vor die gleichen Fragen, lieferten jedoch theoretisch ausdifferenziertere Argumente und Antworten. Diese sind wiederum eng mit den theoretischen Entwicklungen und Debatten verknüpft, die für die Disziplin der IB in dieser Phase prägend waren. War die frühe Debatte zwischen Neofunktionalismus und Intergouvernementalismus stark beeinflusst von der Auseinandersetzung zwischen Idealisten und Realisten, so griff die Diskussion zwischen Supranationalismus und Liberalem Intergouvernementalismus die „Neo-Neo“ Debatte zwischen Neorealisten und Neoliberalem Institutionalismus auf und spann diese weiter (Leuffen et al. 2022). Auch die in den 1990er-Jahren in den IB virulent geführte Rationalismus-Konstruktivismus Debatte hinterließ ihre Spuren in der EU-Integrationsforschung. Das bis dato dominante Postulat, dass die Regierungen von Staaten, innenpolitische und transnationale Anspruchsgruppen sowie EU-Akteure primär materiell und positional definierte Eigeninteressen verfolgten, wurde infrage gestellt. Dementgegen argumentiert der Konstruktivismus, dass die Herausbildung von Gemeinschaftsinteressen nicht allein das Resultat strategischer Aushandlungsprozesse ist, sondern durch Überzeugungs- und Sozialisationsprozesse zustande kommen kann. Integration, so die Implikation, kann die Interessen und gar Identitäten politischer Akteure beeinflussen und somit zu einer viel nachhaltigeren Institutionalisierung von EU-Integration führen als reine Kosten-Nutzen Überlegungen.

Die Theorieentwicklung von EIT erreichte mit der Jahrtausendwende ein Plateau. Dies war in erster Linie politischen Entwicklungen in der EU geschuldet. Seit dem Vertrag von Maastricht wurden die Integrationsschritte der Folgeverträge kleinteiliger und – anders als es noch die Währungsunion war – erschien kein neues Integrationsprojekt am Horizont, zumal die EU damit beschäftig war, die Erweiterung um zehn mittel- und osteuropäische Staaten zu bewältigen. Das Scheitern des Verfassungsvertrages 2005 war aus integrationstheoretischer Sicht weniger ein Rückschritt als vielmehr Ausdruck davon, dass die EU einen mehr oder weniger stabilen institutionellen Zustand der Saturiertheit erreicht hatte (Moravcsik 2006). Das Ende des Zeitalters der EIT schien angebrochen, wie es schon einige Forscherinnen und Forscher angekündigt hatten. Simon Hix hatte bereits 1994 argumentiert, dass die EU nach Jahrzehnten politischer Integration alle Wesensmerkmale aufweist, die auch für nationale politische Systeme charakteristisch sind. Daher spricht sehr viel dafür, die EU mit denjenigen Konzepten und Theorien zu untersuchen, die zur Analyse nationaler politischer Systeme herangezogen werden (Hix und Hoyland 2011). Im Gegensatz hierzu versprechen Analysen der EU als internationale Organisation, die politische Integration unter Rückgriff auf IB-Theorien untersuchen, immer weniger Erkenntnisgewinn. Warum immer kleinteiligere Integrationsschritte untersuchen, wenn es doch viel spannender ist, zu verstehen, wie politische Entscheidungen im Brüsseler Orbit zustande kommen? Seit den 1990er-Jahren richtet sich der Fokus in der Europaforschung daher verstärkt auf die Analyse von Entscheidungs- und Willensbildungsprozessen innerhalb der EU: Wie ist der politische Wettbewerb innerhalb der EU strukturiert und organisiert? Wie lässt sich das Wählerverhalten bei Wahlen zum Europäischen Parlament oder bei EU-Referenden erklären? Welchen Einfluss auf EU-Gesetze üben die unterschiedlichen Akteure aus? Die Ausbildung eines politischen Systems und dessen Konsolidierung schien in den 2000er-Jahren die Analyse von EU-Integration, mangels Vertiefung der Integration, an den Rand zu drängen. Die Zeit des „comparative politics turn“ in der Europaforschung war gekommen.

Die integrationstheoretische Durststrecke dauerte jedoch relativ kurz an. Der lange und übergriffige Arm europäischer Politik hatte im Laufe der Zeit nationale Politik nachhaltig verändert. Marktintegration war zwar nach wie vor Markenkern. Jedoch waren auch sogenannte Kernbereiche staatlicher Autorität, wie beispielsweise die Währung, Fragen innerer und äußerer Sicherheit oder Aspekte der Einwanderungspolitik zunehmend in den Sog von EU-Politik geraten (Genschel und Jachtenfuchs 2014). Dies führte wiederum zu einer zunehmenden „Politisierung“ europäischer Entscheidungen im innenpolitischen Parteienwettbewerb (Hooghe und Marks 2009; De Wilde und Zürn 2012). Infolgedessen bekamen Regierungen und europafreundlich gesinnte Parteien der Mitte zunehmend Gegenwind von populistischen und europaskeptischen Kräften, was sich wiederum nachhaltig auf den Prozess politischer Integration auswirken sollte. Die rasche Abfolge europäischer Krisen und der sich dadurch aufbauende Problemdruck ließ schnell Rufe nach mehr politischer Integration laut werden, die nun aber unter anderen Vorzeichen politisch ausgehandelt werden mussten. Diese neue Konstellation, dass Regierungen vor dem Hintergrund von Politisierung und zunehmender Europaskepsis über Integrationsschritte verhandeln, erfasst der Postfunktionalismus, die jüngste Addition zu den „grand theories“ europäischer Integration (Hooghe und Marks 2018). Der Postfunktionalismus ist ein theoretisches EU-Eigengewächs, dessen Ursprung eng mit dem „comparative politics turn“ in der EU-Forschung zusammenhängt und dessen Fokus in der Analyse innenpolitischer Wettbewerbsprozesse im Kontext von Europäisierung und Globalisierung liegt. Um festzustellen, unter welchen Umständen Mitgliedstaaten nach einer europäischen Lösung für eine Krise suchen und wann es stattdessen zu nationalen Alleingängen kommt, benötigt es die Einsicht in innerstaatliche Verhältnisse. So fußt der Postfunktionalismus nicht zuletzt auf Arbeiten aus der empirischen Demokratie- und Verhaltensforschung.

Es bleibt festzuhalten, dass die Bedeutung von EU-Integrationstheorien eng mit der Vertiefung des EU-Integrationsprozesses verbunden ist und vor allem durch die „Polykrise“ eine neue Aufmerksamkeit erlebt. Zudem ist zu konstatieren, dass die Öffnung der EU-Forschung zu Bereichen der vergleichenden Politikwissenschaft in dem Ausmaß voranschreitet, in dem die EU in staatliche Aufgabenbereiche vordringt und somit „Staatlichkeit“ für sich beansprucht. Zugleich bedeutet diese Entwicklung, dass die Frage nach der Legitimationsgrundlage europäischen Regierens immer stärker in den Blickpunkt der Forschung, und somit auch der normativen und empirischen politischen Theorie, rückt. Während letzterer Forschungsstrang vor allem danach fragt, wie es um die öffentliche Unterstützung der EU bestellt ist bzw. wie diese erklärt werden kann (u. a. Hobolt 2012), wirft die normative Theorie die Frage auf, ob bzw. inwiefern sich die EU an Standards (demokratisch) legitimen Regierens messen kann oder messen sollte (siehe hierzu u. a. die Debatte zwischen Majone 1998; Moravcsik 2002; Follesdal und Hix 2006). In den vergangenen Jahren hat in der Europaforschung außerdem das Interesse an der nationalen Ebene des Demokratiedefizits zugenommen (Kreuder-Sonnen 2018), da es in einigen EU-Mitgliedstaaten zu erheblichen demokratischen Rückschritten kam. Illiberale Angriffe auf die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz und bürgerliche Freiheiten haben gar die Frage provoziert, ob es in einem EU-Mitgliedstaat eine Diktatur geben könnte (Müller 2013, S. 138) und inwiefern die EU gar Prozesse demokratischer Regression in einigen ihren Mitgliedstaaten duldet oder stützt (Kelemen 2020). So hat die Diskussion über das europäische Demokratie- bzw. Legitimationsdefizit neuere Forschungsstränge in den IB befruchtet, die sich unter dem Banner Internationale Politische Theorie versammeln und sich u. a. mit der Legitimität globaler Ordnungsmodelle befassen (u. a. Zürn 2011).

3 Politische Integration in der EU: Konzepte, Theorien, Befunde

Dieser Abschnitt basiert auf den Arbeiten von Rittberger und Schimmelfennig (2005) sowie Leuffen et al. (2022).

3.1 Die Vermessung politischer Integration

Politische Integration ist die zentrale abhängige Variable der Forschung zu EU-Integration. Alle sogenannten „grand theories“ (Hooghe und Marks 2018) fragen danach, unter welchen Bedingungen es zu einem Transfer nationaler Hoheitsrechte auf die EU-Ebene kommt (oder dieser unterbleibt). Politische Integration beschreibt einerseits die Übertragung politischer Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene (vertikale Integration). Diese Dimension politischer Integration wird häufig auch als Vertiefung bezeichnet. So kann es sich bei der Kompetenzverteilung zwischen Staaten und der EU um rein intergouvernementale Koordination handeln, was einem Minimum an vertikaler Integration entspricht. Oder Kompetenzen werden vollständig vergemeinschaftet, wie zum Beispiel in der Geldpolitik, die somit das Maximum an vertikaler Integration darstellt. Zwischen den beiden Extrempunkten ist die Gemeinschaftsmethode („joint decision making“) anzusiedeln, wonach die Kommission das Vorschlagsrecht für neue Gesetzvorhaben besitzt und das EP gemeinsam mit dem Rat über die Ausgestaltung der EU-Gesetze verhandelt. Des Weiteren zeichnet sich die Gemeinschaftsmethode dadurch aus, dass dem EuGH ein richterliches Prüfungsrecht zusteht.

Eine zweite Dimension politischer Integration bezieht sich auf den territorialen Geltungsbereich der durch die EU gesetzten Regeln. Horizontale Integration beschreibt demnach die territoriale Ausweitung (bzw. Schrumpfung) des Geltungsbereichs von EU-Regeln. Als prominenteste Beispiele horizontaler Integration können die diversen Erweiterungsrunden der EU gelten, aber auch der Austritt Großbritanniens (Brexit) aus der EU. Horizontale Integration kann auch andere Phänomene umfassen, wie beispielsweise Formen flexibler oder differenzierter Integration, die dadurch gekennzeichnet sind, dass EU-Staaten opt-outs aushandeln, die sie von Beschlüssen und der aktiven Mitbestimmung in diesem Politikbereich ausnehmen. Der Verzicht Dänemarks und Schwedens auf die Mitgliedschaft im Euroraum ist ein Beispiel für ein derartiges opt-out. Neben der durch opt-outs hervorgerufenen internen Differenzierung der EU entscheiden sich auch manche Staaten, die nicht Mitglieder der EU sind, EU-Regeln in bestimmten Politikfeldern übernehmen zu wollen und begründen somit eine selektive, politikfeldspezifische Mitgliedschaft mit der EU ohne Vollmitglied zu sein (externe Differenzierung). Der Europäische Wirtschaftsraum, der neben den EU-Mitgliedstaaten auch Island, Liechtenstein und Norwegen umfasst, erweitert den EU-Binnenmarkt um drei Staaten auf insgesamt 30 Mitgliedsländer.

Die in Abb. 1 zugrunde liegenden Kategorien vertikaler Integration stellen unterschiedliche Stufen der Zentralisierung politischer Entscheidungskompetenzen dar (Börzel 2005; Leuffen et al. 2022). Die Unterschiede zwischen den einzelnen Kategorien liegen im Umfang von pooling und delegation begründet (Leuffen et al. 2022). Mit pooling wird der Übergang von Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidungen im Rat bezeichnet. Indem Regierungen in Kauf nehmen, überstimmt zu werden, geben sie ihre Veto-Macht auf. Der Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen (QME) ist daher gleichbedeutend mit einer Zunahme an vertikaler Integration. Als delegation bezeichnet man die gemeinsame Ausübung oder Abtretung von politischen Kompetenzen an EU-Organe: So teilt sich beispielsweise das EP in vielen Politikbereichen die Gesetzgebung mit dem Rat; die Kommission besitzt das Vorschlagsmonopol für die Gesetzgebung und ist für die Überwachung der Einhaltung der Verträge zuständig; der EuGH kann die Verletzung von EU-Regeln feststellen und sanktionieren; die EZB fasst die zentralen Beschlüsse im Bereich der Geldpolitik, indem sie zum Beispiel die Höhe des Leitzinses festlegt.

Abb. 1
figure 1

Messung vertikaler Integration. (Quellen: Börzel (2005, S. 221); Leuffen et al. (2022, S. 35))

Die graue Linie in Abb. 2 stellt den historischen Verlauf vertikaler Integration dar, indem für jede Vertragsrevision seit 1957 der Mittelwert vertikaler Integration aus 18 Politikbereichen gebildet wird. Die Politikbereiche umfassen sowohl die EU-Außenbeziehungen, den Bereich der inneren Sicherheit, den Bereich ökonomischer Regulierung und sozial-regulativer Politiken, sowie Ausgabenpolitiken wie die Agrar-, Struktur- oder Forschungspolitik (Leuffen et al. 2022). Die vertikale Integration der EU hat seit ihrer Gründung stetig zugenommen. Bis zur Einheitlichen Europäische Akte (EEA) 1986 dominierte noch der Entscheidungsmodus zwischenstaatlicher Koordination. Im Zuge der in kurzen Abständen aufeinander folgenden Vertragsrevisionen ist die vertikale Integration der EU allerdings rapide fortgeschritten. So haben sich pooling und delegation von einem intergouvernementalen zu einem supranationalen Modus hin entwickelt (Lenz und Marks 2016): Mit der Ausnahme weniger Politikbereiche kontrolliert die supranationale Kommission die Gesetzgebung, welche für alle Mitgliedstaaten bindend ist. Das durchschnittliche Niveau vertikaler Integration ist mittlerweile durch ein hohes Maß an pooling und delegation charakterisiert.

Abb. 2
figure 2

Vertikale und horizontale Integration im Zeitverlauf, 1957–2020. (Quelle: Leuffen et al. (2022, S. 42))

Der Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft getreten ist, sieht vor, dass die meisten Entscheidungen im Rat formal dem qualifizierten Mehrheitsverfahren unterliegen. Zudem steht das EP im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens mit dem Rat auf einer Stufe, die Kommission besitzt das Vorschlagsmonopol, und nur noch wenige Politikbereiche entziehen sich der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs. Beachtenswert ist auch, dass das Niveau vertikaler Integration zu keinem Zeitpunkt in den vergangenen Jahrzehnten rückläufig ist: Dies gilt nicht nur für den Durchschnittswert, der sich aus allen 18 Politikbereichen ergibt, sondern auch für die Entwicklung vertikaler Integration in jedem einzelnen Politikfeld, unabhängig davon, ob es sich um die EU-Außen- und Sicherheitspolitik oder um marktschaffende, den Binnenmarkt betreffende Politiken hält. Obgleich sich die EU spätestens seit der Euro-Krise im permanenten Krisenmodus zu befinden scheint, lässt sich kein Ende der Vertiefung beobachten. Ganz im Gegenteil dienen Krisen oft als Auslöser der Einleitung weiterer Integrationsschritte, indem sie bisherige Unzulänglichkeiten der EU offenbaren (Jones et al. 2016; Schimmelfennig 2018; Biermann et al. 2019; Riddervold et al. 2021).

Neben dem allgemeinen Trend zunehmender Vertiefung sind die politikfeldspezifischen Unterschiede im Niveau vertikaler Integration weiterhin bedeutsam. Im Bereich der marktschaffenden Maßnahmen, durch die schrittweise nationale Hemmnisse für den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen abgeschafft werden sollten, war das Niveau vertikaler Integration bereits in der Frühphase des Integrationsprozesses am stärksten fortgeschritten, wenn auch auf dem relativ niedrigen Niveau zwischenstaatlicher Kooperation. Heute existiert kaum ein Bereich wirtschaftlicher und sozial-regulativer Politik, in dem die EU nicht über weitreichende Rechtsetzungsbefugnisse verfügt. Diese Entwicklung brachte die von Majone (1996) geprägte Bezeichnung, die EU sei ein Regulierungsstaat, hervor. Betrachtet man den Bereich der EU-Außenbeziehungen – wozu neben der eher schwach integrierten Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch die stark zentralisierte gemeinsame Handelspolitik zählt –, so fällt auf, dass trotz eines Anstiegs des Integrationsniveaus, dieser Bereich im Vergleich zu den anderen schwächer integriert ist. Sogar der Bereich der Innen- und Justizpolitik hat seit dem Vertrag von Maastricht mit jeder weiteren Vertragsrevision einen starken Integrationsschub erfahren. Seit dem Vertrag von Lissabon findet beispielsweise bei der Verabschiedung von EU-Regelungen in der Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik die Gemeinschaftsmethode im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens Anwendung.

Es ist eine der zentralen Funktionen der im Folgeabschnitt präsentierten Integrationstheorien, den Verlauf politischer Integration systematisch zu erklären. So können unter Rückgriff auf Integrationstheorien u. a. die politikfeldspezifischen Unterschiede im Niveau vertikaler Integration erklärt werden: Warum weisen einige Politikfelder wie etwa die Geldpolitik ein hohes Integrationsniveau auf, wohingegen andere Politikfelder wie etwa die EU-Sicherheits-und Verteidigungspolitik nur schwach integriert sind? Der folgende Abschnitt stellt die wesentlichen Theorien zur Erklärung politischer Integration vor, die zur Beantwortung derartiger Fragen herangezogen werden können (Leuffen et al. 2022).

3.2 Die Erklärung politischer Integration: EU-Integrationstheorien

Die Debatte über die Ursachen und Dynamiken europäischer Integration wurde bis in die 1990er-Jahre hauptsächlich von zwei Theorieströmungen dominiert: Während anhand des Intergouvernementalismus argumentiert wird, dass politische Integration die ökonomischen Präferenzen und die relative Verhandlungsmacht der einflussreichsten Mitgliedstaaten reflektiert, hielt der Neofunktionalismus bzw. Supranationalismus dagegen, dass sich der Integrationsprozess der Kontrolle der Staaten weitgehend entzogen hat. Eine lose Koalition aus transnationalen und supranationalen Akteuren hätte demnach den Integrationsprozess auch gegen die Interessen der Mitgliedstaaten erfolgreich vorangetrieben. Im Gegensatz zu den etablierten Theorien, die jeweils von der Antriebskraft ökonomischer Interessen ausgehen, nimmt der so genannte Postfunktionalismus die Politisierung des Integrationsprozesses als Ausgangspunkt. Er hat seit den späten 2000er-Jahren Eingang in den Theoriekanon der Europaforschung gefunden und beleuchtet die sich selbst untergrabende Dimension der EU-Integration, welche auf den zunehmenden innerstaatlichen Widerstand durch nationale Parteien zurückzuführen ist. Während Überblicke zu den wichtigsten Integrationstheorien meist ein breites Spektrum von Ansätzen besprechen und diese teilweise anhand ihres historischen Entstehungskontexts einordnen (Rosamond 2000; Wiener und Diez 2009; Bieling und Lerch 2012; Saurugger 2013), sind wir demnach der Ansicht, dass das Gros der bestehenden Integrationstheorien drei Denkschulen zugeordnet werden kann: dem Liberalen Intergouvernementalismus (LI), dem Supranationalismus (oder Neofunktionalismus) und dem Postfunktionalismus (Hooghe und Marks 2018; Leuffen et al. 2022).

Liberaler Intergouvernementalismus

Der Liberale Intergouvernementalismus (LI) geht davon aus, dass Staaten die zentralen Akteure im Integrationsprozess sind. Das Ausmaß und der Umfang zwischenstaatlicher Kooperation reflektiert, erstens, die exogenen Präferenzen der Staaten. Das bedeutet, dass diese im Zuge zwischenstaatlicher Aushandlungsprozesse oder infolge ihrer Mitgliedschaft in internationalen Institutionen stabil bleiben. Zweitens spiegelt das Ergebnis zwischenstaatlicher Verhandlungen die relative Verhandlungsmacht von Staaten wider. Verhandlungsmacht hängt insbesondere davon ab, wie stark die an den Verhandlungen beteiligten Akteure abhängig von einem bestimmten Verhandlungsergebnis sind, und wie glaubwürdig demnach die Drohungen sind, die Verhandlungen platzen zu lassen, um Konzessionen zu erzielen. Drittens reflektiert die Schaffung und Ausweitung der Befugnisse internationaler Institutionen das Interesse der Staaten an der Überwachung der erzielten Verhandlungsergebnisse und der Sanktionierung von Regelverletzungen. Diese Annahmen über staatliche Präferenzen, Verhandlungen und die Institutionenwahl sind allgemeiner Natur und bedürfen zur Analyse des Integrationsprozesses der Konkretisierung: Welche Interessen verfolgen die Staaten? Welche Verhandlungsressourcen stehen den Akteuren zur Verfügung? Welche Ziele verfolgen Staaten primär mit der Errichtung internationaler Institutionen?

Frühere, vom Realismus in den IB inspirierte Theoriekonzeptionen des Intergouvernementalismus (Hoffmann 1966; Milward 1984) gingen davon aus, dass Regierungen ihre außenpolitischen Ziele unabhängig von gesellschaftlichen Anspruchsgruppen formulieren können, um ihre sektorübergreifenden Ziele der Autonomie-, Sicherheits- oder Einflussmaximierung zu verfolgen. Demgegenüber lehnt der LI das Primat geopolitischer Interessen ab. Er argumentiert stattdessen, dass Staaten in erster Linie ökonomische Interessen verfolgen. Wie der Name schon suggeriert, folgt dieser Ansatz einer liberalen Theorie der Präferenzbildung (Moravcsik 1997, 1998). Bezogen auf die EU bedeutet das in erster Linie, dass die Präferenzen der Regierungen das pluralistische Kräfteverhältnis innerstaatlicher Interessengruppen in einem bestimmten Politiksektor widerspiegeln. Dies impliziert, dass in der Umweltpolitik staatliche Präferenzen das Kräfteverhältnis von Industrieverbänden und Umweltschutzverbänden widerspiegeln, während in der Landwirtschaftspolitik die Präferenzen landwirtschaftlicher Produzentinnen und Produzenten und Konsumentinnen und Konsumenten und deren relative Macht bei der Analyse staatlicher Präferenzen Berücksichtigung finden müssen. Laut Moravcsik (1998) ist die EU vorwiegend eine ökonomische Organisation, die v. a. marktschaffende und marktkorrigierende Regeln erlässt. Daher werden die staatlichen Integrationspräferenzen von den relevanten wirtschaftlichen Interessengruppen bestimmt. Auch wenn die generelle Nachfrage nach politischer Integration auf ökonomische Interdependenz zurückzuführen ist, wonach Staaten Wohlfahrtsgewinne nicht durch unilaterales Handeln, sondern durch multilaterale Kooperation erzielen können, so sind die sektor- und problemfeldspezifischen Präferenzen von Staaten auf innerstaatliche Interessenkonflikte zurückzuführen. Moravcsik (1998, S. 3) zufolge setzen sich primär die wirtschaftlichen Präferenzen mächtiger Produzentengruppen gegenüber den von Konsumentinnen und Konsumenten durch, deren Konfliktpotenzial gegenüber der Regierung geringer ist als das von Produzentinnen und Produzenten, die beispielsweise mit der Abwanderung oder dem Abbau von Arbeitsplätzen drohen können. Demnach kann politische Integration auch als Instrument verstanden werden, um heimischen Produzierenden ökonomische Vorteile zu sichern (Moravcsik 1998, S. 38). Nur wenn die makroökonomischen Präferenzen der Regierungen den Präferenzen der dominanten Interessengruppen nicht widersprechen oder gesellschaftliche Gruppen nur schwache Präferenzen äußern, können sich erstere durchsetzen. Indem sich die EU allerdings nicht-ökonomischen Politikbereichen wie der inneren und äußeren Sicherheit zuwendet, kommen auch andere Interessengruppen und ideologische Orientierungen der Regierungen verstärkt zum Tragen (Weiss 2012).

Dem LI zufolge haben Staaten nicht nur sektorspezifische Präferenzen, sondern auch sektorspezifische Verhandlungsmacht. Die relative Verhandlungsmacht von Staaten leitet sich aus der Intensität der sektorspezifischen Präferenzen ab und nicht aus allgemeinen Machtressourcen (z. B. Größe des Territoriums und der Bevölkerung sowie militärische Machtmittel), die einem Staat zur Verfügung stehen. Dies impliziert, dass auch kleinere Staaten gegenüber größeren Staaten Verhandlungserfolge erzielen können. Dies ist dann der Fall, wenn zwischen beiden Akteuren asymmetrische Interdependenz herrscht: „Those who gained the most economically from integration compromised the most on the margin to realize it, whereas those who gained the least or for whom the costs of adaptation were highest imposed conditions“ (Moravcsik 1998, S. 3).

Wenn sich die Mitgliedstaaten auf ein Verhandlungsergebnis geeinigt haben, stellt sich ein weiteres Problem: Werden die getroffenen Regelungen auch von den Vertragsparteien eingehalten? Soziale Fallen werden beispielsweise dadurch erzeugt, dass Staaten sich Vorteile davon erhoffen, einseitig von der getroffenen Vereinbarung abzuweichen, während sich andere Vertragspartner daranhalten, obwohl Regeleinhaltung bzw. Kooperation das sozial beste Ergebnis wäre. Regelverletzungen können bspw. auf mögliche Regierungswechsel oder Druck von Interessengruppen zurückgeführt werden. Staaten haben somit ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn es um die Einhaltung der vertraglich festgelegten Regelungen geht (credible commitment-Problem). Diesem Problem versuchen Staaten zu begegnen, indem sie EU-Institutionen mit Befugnissen zur Überwachung und Sanktionierung von Regelverletzungen ausstatten und letztlich die Verhandlungsergebnisse dem Zugriff der Staaten entziehen (Moravcsik 1998, S. 9, 73). Das Ausmaß vertikaler Integration durch pooling und delegation orientiert sich an den erwarteten Kooperationsgewinnen. Je höher diese sind und je höher das Risiko von Regelverletzungen ist, desto eher sind Staaten bereit, Befugnisse an EU-Institutionen zu übertragen oder Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren (Moravcsik 1998, S. 9, S. 486–487).

Supranationalismus

Ebenso wie beim LI liegen die Ursprünge des Supranationalismus in den IB. Der in den 1950er-Jahren einsetzende europäische Integrationsprozess lief nicht nur den Erwartungen des vorherrschenden Realismus diametral entgegen. Auch der Funktionalismus, von dem sich der Neofunktionalismus explizit abgrenzte, schien aufgrund seiner apolitischen Logik wenig tauglich für die Erklärung von Integration. Anders als der LI fußt der dem Supranationalismus zuzurechnende Neofunktionalismus auf einer transformativen Ontologie. Demnach führen Prozesse der Institutionalisierung dazu, dass sich das anarchische Staatensystem transformiert, da Staaten nicht länger die einzig relevanten Akteure sind und zugleich ihre Erwartungen oder sogar Loyalitäten sukzessive auf die supranationale Ebene ausrichten und projizieren (Haas 1958). Dies hat zur Folge, dass der Integrationsprozess die Interessen- und Machtkonstellation der Mitgliedsstaaten nicht unmittelbar und direkt abbildet. Auch wenn europäische Integration anfänglich durchaus als Ergebnis zwischenstaatlicher Verhandlungen betrachtet werden kann und die zwischenstaatliche Präferenz- und Machtkonstellation reflektiert, so hat sich nach den ersten Integrationsschritten eine institutionelle Eigendynamik entwickelt, die von den Regierungen so weder gewollt war, noch von ihnen rückgängig gemacht werden konnte (Pierson 1996).

Die von Supranationalisten postulierte institutionelle Eigendynamik widerspricht dem funktionalen Institutionenverständnis des LI, wonach die Wahl und Ausgestaltung internationaler Institutionen durch die Funktionen, die sie im Interesse der Staaten erfüllen sollen, erklärt wird. Die von historischen Institutionalisten postulierte Logik der Pfadabhängigkeit steht diesem effizienten Institutionenverständnis (Pierson 1996, 2000) entgegen. Erstens wird angenommen, dass Staaten nicht so weitsichtig sind, wie von der funktionalen Theorie unterstellt, sondern über begrenzte Zeithorizonte verfügen. Zweitens kommt es wiederholt zu unvorhergesehenen und nicht beabsichtigten Institutionenwirkungen, da die sozialen Prozesse, in die politische Institutionen regulierend eingreifen, komplex sind und eine Vielzahl von Akteuren involvieren. Diese Komplexität erzeugt Rückkopplungsschleifen und Interaktionseffekte, die auch die weitsichtigsten Akteure nicht völlig verstehen und vorhersehen können. Die Ausarbeitung internationaler Verträge und die damit verbundene Schaffung von Institutionen finden somit unter einem hohen Maß an Ungewissheit statt, da die Vertragspartner nicht für alle in der Zukunft liegenden Ereignisse eine geeignete Regelung ex ante definieren können. Verträge sind demnach unvollständig. Sie lassen unterschiedliche Interpretationen zu und erlauben daher auch den von Mitgliedstaaten eingesetzten inter- oder supranationalen „Agenten“ einen breiten Entscheidungsspielraum (Cooley und Spruyt 2009; Mattli und Stone Sweet 2012). Drittens können politische Akteure institutionelle Entwicklungen und Eigendynamiken aufgrund von institutionellen Reformblockaden und Pfadabhängigkeiten selbst dann nur begrenzt korrigieren, wenn sie erkennen, dass sie sich von ihren ursprünglichen Absichten entfernt haben. Treten keine größeren Schocks auf (z. B. Kriege, Revolutionen, Wirtschaftskrisen), so verfestigt sich ein einmal eingeschlagener Pfad über Zeit immer weiter.

Was bedeuten diese Annahmen und Argumente nun konkret für den europäischen Integrationsprozess? Ernst Haas erklärte mit dem Spillover-Mechanismus die expansive Logik der Integration (Haas 1968, S. 283–317). In späteren Rezeptionen der Arbeiten sind die von ihm genannten Bedingungen oder Faktorengruppen als funktionaler, politischer und institutioneller Spillover kategorisiert worden (Schmitter 1969; Tranholm-Mikkelsen 1991, S. 13–15; kritisch hierzu Niemann 2006). So resultiert der funktionale Spillover aus dem Sachzusammenhang von Politikbereichen. Integrationsschritte versuchen Externalitäten entgegenzusteuern, was Regierungen dazu veranlassen kann, neue, ursprünglich nicht geplante Integrationsschritte zu vereinbaren, um Wohlfahrtsverluste zu vermeiden oder zusätzliche Wohlfahrtsgewinne zu erzielen. So argumentierte beispielsweise die EU-Kommission unter Jacques Delors, dass sich in einem gemeinsamen Markt mit einer gemeinsamen Währung zusätzliche Effizienzgewinne erzielen lassen. Politischer Spillover entwickelt sich als Reaktion auf anfängliche Integrationsschritte. Mit der Ausdehnung transnationaler Austausch- und Kommunikationsprozesse wachsen die Kosten nationaler Regelungen und damit die Nachfrage transnationaler Akteure – Interessengruppen, Unternehmen, Produzenten- und Konsumentenvereinigungen – nach koordinierten Politiken und Regelungen auf supranationaler Ebene (Stone Sweet und Sandholtz 1997). Der institutionelle Spillover ist schließlich auf die Aktivitäten der supranationalen Organe der EU zurückzuführen. Zum einen tragen diese zum funktionalen und politischen Spillover bei. Sie stellen Verknüpfungen zwischen Politikbereichen her und zeigen negative Externalitäten auf – eventuell behaupten sie diese auch nur, um daraus den Bedarf weiterer Integration abzuleiten (Nye 1971, S. 59). Zum gleichen Zweck unterstützen sie die Bildung transnationaler Koalitionen. Zum anderen helfen sie den Regierungen, gemeinsame Interessen und Möglichkeiten der effizienten Zusammenarbeit zu identifizieren und in Verhandlungen zu einer optimalen Übereinkunft zu gelangen. Kommission und Gerichtshof nutzen dann ihre Kompetenzen und Informationen, um den Anwendungsbereich supranationaler Regeln auszudehnen und damit den kollektiven (transnationalen) Nutzen zu erhöhen (Stone Sweet und Sandholtz 1997, S. 299, 306, 1998, S. 4; Blauberger und Weiss 2013).

Zusammengenommen führen diese Spillover-Prozesse dazu, dass die eigentliche Anwendung des vertraglichen Regelwerks der EU für die Regierungen unbeabsichtigte und unkontrollierbare Konsequenzen nach sich ziehen kann. Beispielsweise fordern transnationale Akteure neue, supranationale Regeln und supranationale Akteure bedienen diese Interessen, indem sie entweder neue Regelungen schaffen oder bestehende Regelungen zu eigenen Gunsten interpretieren. Mit der Zeit bildet sich ein zunehmend dichteres und stabileres Regelgeflecht heraus; das System der EU wird konstitutionalisiert. So erwartet der Supranationalismus, dass ein einmal erreichtes Integrationsniveau von den Regierungen auch dann nicht mehr rückgängig gemacht wird, wenn es den ursprünglichen Absichten der Regierungen widerspricht (Fligstein und Stone Sweet 2001, S. 38, 55). Hierfür machen Supranationalisten die vom historischen Institutionalismus postulierten Mechanismen institutioneller Blockaden und sunk costs verantwortlich (Pierson 1998, S. 43–47), welche Kosten beschreiben, die bereits angefallen sind und nicht wieder hereingeholt werden können.

Gleichzeitig stimmen LI und Supranationalismus in mehreren Punkten durchaus überein. Analog zum LI beruht der Supranationalismus auf den Annahmen rationaler eigeninteressierter, wohlfahrtsmaximierender und strategisch handelnder Akteure sowie verhaltensregulierender Institutioneneffekte (Fligstein und Stone Sweet 2001, S. 32–33). Auch bestreitet der Supranationalismus nicht, dass die Regierungen einflussreiche Akteure im Integrationsprozess sind und zwischenstaatliche Verhandlungen die Ergebnisse einzelner EU-Vertragsverhandlungen auf EU-Ebene darstellen (Pierson 1998, S. 29; Stone Sweet und Sandholtz 1997, S. 314). Allerdings werden die gesellschaftlichen Integrationsinteressen nach Auffassung des Supranationalismus nicht ausschließlich innerstaatlich vermittelt: Gesellschaftliche Akteure organisieren sich transnational, agieren an den Staaten vorbei auf der europäischen Ebene und richten sich unmittelbar an supranationale Organisationen. Außerdem sind die intergouvernementalen Verhandlungen immer in transnationale und supranationale Prozesse eingebettet. Sie finden jeweils vor dem Hintergrund neuer transnationaler gesellschaftlicher Forderungen und in einem durch die Aktivitäten supranationaler Organisationen und die Eigendynamik der Institutionalisierung veränderten Kontext statt. Schließlich sind supranationale Organisationen nicht nur gewillt, sondern auch in der Lage, die ihnen übertragenen Kompetenzen extensiv zu nutzen und auszuweiten sowie Regeln und Politikinhalte zu generieren, die von den Staaten in intergouvernementalen Verhandlungen so nicht vereinbart worden wären (u. a. Lindner und Rittberger 2003; Stacey und Rittberger 2003). Daraus folgt, dass Integration vor allem durch endogene Pfadabhängigkeiten bedingt ist und intergouvernementale Verhandlungen weniger Erzeuger als vielmehr Produkt der Integration sind (Caporaso 2008, S. 350; Stone Sweet und Sandholtz 1998, S. 12, 26).

Postfunktionalismus

Anders als der LI und der Supranationalismus hat der Postfunktionalismus seinen Ursprung nicht in den IB, sondern in der Analyse demokratischer politischer Systeme. Während die EU-Politik seit der Jahrhundertwende ein prominentes Thema öffentlicher Debatten wurde, fand der Postfunktionalismus im Zuge der späten 2000er-Jahre seinen festen Platz im Theoriekanon der Europaforschung. Im Gegensatz zum LI und Supranationalismus betont der Postfunktionalismus, dass EU-Integration kein unidirektionaler Prozess ist, sondern richtet den Blick auf die zentrifugalen Mechanismen, die fortschreitender Integration innewohnen und diese letztendlich untergraben können. Hooghe und Marks (2009, S. 7) sehen im Vertrag von Maastricht einen kritischen Wendepunkt in der Entwicklung der EU, da er zu einem starken Anstieg der öffentlichen Auseinandersetzung mit europäischen Themen geführt hat. Demnach herrschte in den Jahrzehnten zuvor zumeist ein „permissiver Konsens“, wonach EU-Politik von politischen und wirtschaftlichen Eliten verhandelt wurde und in der öffentlichen Debatte keine signifikante Rolle spielte. Stattdessen zeichnet sich die Post-Maastricht-Ära durch einen „einschränkenden Dissens“ (constraining dissensus) aus, der durch eine hohe Politisierung europapolitischer Themen gekennzeichnet ist. Politisierung besteht aus drei Dimensionen: Salienz, Polarisierung und Mobilisierung (De Wilde 2011; Kriesi und Grande 2015). Folglich sind europapolitische Problematiken für die Öffentlichkeit sichtbarer geworden, führen wahrscheinlicher zu Konflikten und ermutigen eine größere Anzahl von Akteuren zur Beteiligung am politischen Prozess. Das schiere Anwachsen an Entscheidungsbefugnissen sowie die Zuständigkeit für Politikbereiche, die gesellschaftliche Konflikte befeuern, gehören zu den Kernursachen für die zunehmende Politisierung europäischer Politik. Indem die EU im Laufe der Zeit nationale Gestaltungsspielräume in der Wirtschaftspolitik, in Bereichen der Innen- und Justizpolitik oder der Einwanderungspolitik zunehmend vergemeinschaftet hat und somit Regierungen einschränkt, mobilisiert sich innerstaatlicher Widerstand gegen weitere Integrationsschritte. Europaskeptische und populistische Parteien gehören zu den Profiteuren der Politisierung. Infolge dieser Entwicklungen sehen sich Regierungen bei der Erwägung von Integrationsschritten erheblichen innenpolitischen Einschränkungen ausgesetzt. Je stärker der Druck oder Widerstand europaskeptischer Kräfte ist, desto geringer ist der integrationspolitische Handlungsspielraum für Regierungen. Die Konsequenz ist eine Stagnation der Integration oder sogar Desintegration.

Für den Postfunktionalismus ist politische Integration daher nicht in erster Linie ein Projekt, mit dem Interessengruppen und politische Akteure ihre wirtschaftlichen oder politischen Eigeninteressen durchzusetzen versuchen. Vielmehr lenkt er den Blick auf die Auswirkungen, die von zunehmender Integration für nationale Identität und Selbstbestimmung ausgehen (Hooghe und Marks 2009, S. 17). Dabei postuliert der Postfunktionalismus keineswegs die Irrelevanz materieller Interessen, wie sie vom LI und Supranationalismus angenommen werden. Allerdings treten materielle Kosten-Nutzen-Überlegungen hinter der Angst vor dem Verlust nationaler Identität und Selbstbestimmung zurück. Das Fortschreiten politischer Integration wird umso unwahrscheinlicher, je stärker nationale Parteiensysteme und Institutionen der Interessenaggregation die Politisierung europäischer Politik erleichtern. Innerstaatlicher Widerstand kann von verschiedenen Akteuren ausgehen.

Erstens können die Bürgerinnen und Bürger selbst den Integrationsprozess behindern. Da Regierungen demokratisch gewählt werden, müssen sie ständig die öffentliche Meinung beobachten, da sie sonst Gefahr laufen, ihr Amt zu verlieren (Hobolt und de Vries 2016, S. 423). Neben den nationalen Wahlen stimmen die Bürgerinnen und Bürger auch über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments ab. Indem sie die Europawahlen als nationale Wahlen „zweiter Ordnung“ (Reif und Schmitt 1980, S. 8) nutzen, neigen Wählerinnen und Wähler dazu, die etablierten Parteien abzustrafen und damit die europaskeptische Koalition zu begünstigen. In einigen EU-Mitgliedstaaten hatten Bürgerinnen und Bürger auch die Möglichkeit, den Verlauf der europäischen Integration durch Volksabstimmungen zu beeinflussen. Ob die nationale Bevölkerung EU-Integration unterstützt, hängt vor allem von ihrer Identität ab. Wenn sie ihre nationale Identität als exklusiv gegenüber anderen territorialen Identitäten wahrnehmen, werden sie das europäische Projekt eher ablehnen (Hooghe und Marks 2009, S. 12). Zweitens können nationale Parteien die europäische Integration behindern. Parteisysteme zeigen an, entlang welcher Konfliktlinien sich Wählerinnen und Wähler orientieren, und machen so soziale Spaltungen sichtbar (Lipset und Rokkan 1967). Eine solche Spaltung, die zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist der kulturelle Konflikt zwischen „gal“ (grünen, alternativen und liberalen) und „tan“ (traditionellen, autoritären, nationalistischen) Parteien. Da „tan“-Parteien die europäische Integration ablehnen, während „gal“-Parteien sie zumeist unterstützen (Hooghe und Marks 2009, S. 17), hängt die europäische Integration davon ab, welchen Parteien es gelingt, die Kontrolle über den nationalen Entscheidungsprozess zu erlangen. Drittens können nationale Institutionen die Übertragung staatlicher Befugnisse behindern. So wirken nationale Parlamente und Gerichte oft als einflussreiche Vetospieler.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass diese drei EU-Integrationstheorien die Europaforschung der vergangenen Jahrzehnte prägten (siehe Abb. 3). Während die beiden klassischen Erklärungen politischer Integration – LI und Supranationalismus – eng mit IB-Theorien verbunden bleiben, rekurriert die postfunktionalistische Herausforderung stärker auf die Demokratieforschung politischer Systeme, die wiederum selbst ihre Spuren bei jüngeren IB-Theorien hinterlassen hat. Diese drei theoretischen Erklärungen lassen sich nirgends besser illustrieren als in der europäischen Krisenpolitik des vergangenen Jahrzehnts, die im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts stehen wird.

Abb. 3
figure 3

EU-Integrationstheorien im Überblick

4 Krisenpolitik als Untersuchungsgegenstand der Europaforschung

Im Jahre 2016 sprach Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker von der so genannten „Polykrise“, die die Europäische Union erfasst hatte: zunächst die Euro-, dann die Migrationskrise sowie der Brexit und die Corona-Krise. Diese ungeahnte Konfrontation von exogenen Schocks mit den endogenen Bedingungen des europäischen Projekts fordern bis heute nicht nur die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, sondern auch die EIT heraus. Die politischen Antworten auf die Krisen können sowohl zu mehr Integration, als auch zu Stagnation oder gar zu Desintegration führen. Demnach ist Krisenpolitik ein hervorragendes „Labor“, um Integrationstheorien zu testen und weiterzuentwickeln. Diese bieten teils konkurrierende, teils ergänzende Ansätze zur Erklärung der Krisenpolitik an.

So konzentriert sich der LI bei der Erklärung von Integration in Krisen auf die verschiedenen nationalen Präferenzen der EU-Mitgliedstaaten und deren relative Verhandlungsmacht. Demnach befinden sich Regierungen, die am stärksten von einer Krise betroffen sind und am meisten von Integration profitieren würden, in einer schwächeren Verhandlungsposition als die durch eine Krise weniger betroffenen bzw. verwundbaren Staaten. Letztere sind in einer stärkeren Verhandlungsposition und damit besser in der Lage, ihre Präferenzen durchzusetzen (Moravcsik 1993, S. 497–507). In der Euro-Krise etwa ergaben sich die nationalen Präferenzen aus der hohen Interdependenz innerhalb der Eurozone sowie der finanziellen Position des jeweiligen EU-Mitgliedstaates (Schimmelfennig 2015). Die Regierungen einigten sich schließlich auf wirtschaftliche Integrationsmaßnahmen, um die prohibitiven Kosten zu vermeiden, die aus einem Zusammenbruch des Euro resultieren würden. Nichtsdestotrotz entsprach das eigentliche Verhandlungsergebnis – finanzielle Unterstützung der von der Krise am stärksten betroffenen Staaten geknüpft an innenpolitische Spar- und Strukturanpassungsmaßnahmen in den Empfängerländern – weitgehend den Präferenzen derjenigen Mitgliedstaaten, die von den finanziellen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise weniger betroffen waren. Mit anderen Worten, das Ausmaß politischer Integration in der Euro-Krise entsprach weitgehend dem Willen der Regierungen, die am wenigsten von einem gemeinsamen Integrationsschritt abhängig waren.

Ähnlich verhielt es sich auch bei den Verhandlungen um den Rettungsfonds „Next Generation EU“ (NGEU) in der Corona-Krise. Jede Regierung führte harte Verhandlungen und bot Ausgleichszahlungen an, um die eigenen Vorteile zu optimieren und Reformkosten zu minimieren, ohne allerdings eine von allen EU-Mitgliedsstaaten präferierte multilaterale Lösung zu gefährden. Mit dem NGEU-Programm, das durch eine Mischung aus Zuschüssen und Darlehen gekennzeichnet ist, die unter anderem an die Verfolgung ökonomischer und ökologischer Ziele geknüpft sind, einigten sich die EU-Mitgliedstaaten schließlich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und kamen Blockadedrohungen mit Kompensationsgeschäften entgegen. Im Gegensatz zur Euro- und Corona-Krise waren die EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Migrationskrise weniger voneinander abhängig, um deren Konsequenzen zu bearbeiten. Insbesondere mangelte es an einem „common bad“, wie beispielsweise dem drohenden Zusammenbruch des Euro, oder einer Rezession, die alle Mitgliedstaaten hart treffen würde. Daher waren die Regierungen der Länder, die am wenigsten vom Migrationsdruck betroffen waren, mit dem institutionellen Status Quo zufrieden und konnten die Präferenzen der stärker betroffenen „Ankunftsländer“ oder „Zielstaaten“, die logistische und finanzielle Hilfe beanspruchten und sich für eine faire Verteilung von Migrantinnen und Migranten einsetzten, zum Großteil ignorieren (Biermann et al. 2019). Dies zeigt, dass Verhandlungsmacht nicht allein auf Ressourcen beruht, sondern auf der jeweiligen Präferenzintensität, wie stark eine Regierung in einem Politikfeld gemeinsame Koordination benötigt. Ansonsten hätten große Staaten wie Deutschland den Widerstand der osteuropäischen Staaten gegen einen Umverteilungsmechanismus brechen müssen. Es ist festzuhalten, dass es dem LI gelang, durch die Rückführung der Krisenreaktionen der EU-Mitgliedstaaten auf positionale Präferenzen und deren relative Verhandlungsmacht, wertvolle Beiträge zur Erklärung der fortschreitenden Integration bzw. Stagnation im Kontext der „Polykrise“ zu leisten.

Der Supranationalismus bietet hingegen einen Perspektivwechsel an. So wandert der Fokus der Analyse von innenpolitischen Präferenzbildungsprozessen hin zu den Auswirkungen früherer Integrationsschritte. Dementsprechend führt der Supranationalismus die europäische Integration in Krisen auf Spillover-Prozesse, Pfadabhängigkeiten und unbeabsichtigte Konsequenzen vorangegangener Integrationsschritte zurück. Krisen können einerseits dazu führen, dass der Status Quo politischer Integration nicht mehr haltbar erscheint, insbesondere wenn ein ökonomischer Systemzusammenbruch droht, wie beispielsweise in der Eurokrise oder Corona-Krise. Um Systemversagen zu verhindern, ließen sich EU-Mitgliedsstaaten gar auf Integrationsschritte ein, die sie vorher noch vehement abgelehnt hatten, wie die partielle Zentralisierung fiskalpolitischer Befugnisse im Zuge der Corona-Krise. Andererseits verweist der Supranationalismus darauf, dass politische Integrationslösungen, die aus der Sicht des LI politisch effizient erscheinen, weil jeder Staat das Beste für sich herausgeholt hat, aus einer mittel- bis langfristigen Perspektive ineffizient und dysfunktional erscheinen. So zeigen Niemann und Ioannou (2015) am Beispiel der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, dass diese von Beginn an dysfunktional konstituiert war. Mit der Einführung des Euro wurde lediglich die Geldpolitik zentralisiert, während die Fiskalpolitik schwach koordiniert blieb. Vor allem existiert kein europäisches Instrument, um makroökonomische Anpassungen innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten durchzuführen. Als schließlich die Euro-Krise einige EU-Mitgliedstaaten in eine starke Rezession trieb und die Eurozone auseinanderzubrechen drohte, kam es zu einem funktionalen Spillover von der Währungsunion auf angrenzende Bereiche wie die Steuerpolitik und die Bankenregulierung. Dies war schließlich der notwendige Anreiz für Regierungen, Vertiefungen in der Wirtschaftspolitik voranzutreiben (Jones et al. 2016).

Auch in der Corona-Krise wies die Krisenreaktion der EU-Mitgliedstaaten pfadabhängige Merkmale auf. Ähnlich wie in der Euro-Krise mangelte es an fiskalpolitischer Koordination, weshalb Regierungen weiteren Integrationsmaßnahmen zustimmten, um den potenziellen Zusammenbruch der gemeinsamen Währung zu verhindern (Dimitrakopoulos und Lalis 2021). Darüber hinaus schuf der langwierige Rechtsstreit zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem EuGH über die Rechtmäßigkeit der Euro-Krisenmaßnahmen der EZB eine gewisse politische Unsicherheit. So befürchteten Regierungen, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht durch ein entsprechendes Urteil die Teilnahme der deutschen Bundesbank an Programmen der EZB unterbinden könnte. Da Deutschland die stärkste Wirtschaft aller europäischen Mitgliedsstaaten aufweist und das größte Mitglied der EZB ist, wäre es für die EZB kaum möglich, ihre Anleihekaufprogramme ohne deutsche Unterstützung fortzusetzen. Der Ausblick auf eine handlungsunfähige EZB und damit eine außer Kontrolle geratende Wirtschaftskrise ermöglichte schließlich die Einigung auf NGEU. Auch der Brexit wurde durch Pfadabhängigkeiten begünstigt. Wie Schmidt (2020) zeigt, unterschied sich das politische System der EU durch das vom EuGH festgelegte europäische Recht schon immer vom politischen System des Vereinigten Königreichs, welches auf parlamentarischer Souveränität und Mehrheitsentscheidungen beruht. Trotzdem hielt die Verwaltung des Vereinigten Königreichs das EU-Recht im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten besonders effektiv ein, was zu einem institutionellen Spannungsverhältnis zwischen den Beschränkungen des EU-Rechts und der Tradition der parlamentarischen Souveränität des Vereinigten Königreichs führte. Der Brexit ermöglichte eine Rückeroberung der Kontrolle und traf daher bei britischen Wählerinnen und Wählern auf Unterstützung. In der Migrationskrise hingegen waren Beharrungskräfte des Status Quo zu stark, um Regierungen zu effektiven Reformen des Dublin-Systems zu bewegen. So ermöglichte es die schwache Interdependenz den EU-Mitgliedstaaten, die Krise durch einseitige Maßnahmen zu bewältigen, ohne dass es zu positiven Rückkopplungen kam (Schimmelfennig 2018). Das Integrationsverständnis des Supranationalismus ist somit ein dynamisches. Er betrachtet und analysiert politische Reaktionen auf Krisen und deren Konsequenzen immer im Kontext vorheriger Integrationsschritte: Krisen sind Kristallisationspunkte, die die Unzulänglichkeit bestehender Integrationsschritte offenlegen. Infolgedessen werden politische Akteure zu Handlungen gedrängt, die zu früheren Zeitpunkten politisch undenkbar gewesen wären.

Der Postfunktionalismus wiederum bietet eine abweichende Perspektive auf die Krisenpolitik der EU. Da sowohl der LI als auch der Supranationalismus darauf ausgelegt sind, eher Integrationsfortschritte als -rückschritte zu erklären, hat sich der Postfunktionalismus auf die Fahne geschrieben, die zentrifugalen Prozesse europäischer Integration zu analysieren. Für den Postfunktionalismus sind Krisen nicht in erster Linie potenzielle Integrationsbeschleuniger, sondern generieren gesellschaftlichen und politischen Widerstand gegen das europäische Projekt. Indem Krisen die funktionalen Defizite der EU offen darlegen und Krisenpolitik Gewinner und Verlierer produziert, tragen sie zur Politisierung europäischer Themen bei und verstärken die kulturelle „tan“ versus „gal“ Konfliktlinie innerhalb der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten (Hutter und Kriesi 2019, S. 997). Sowohl in der Euro-Krise als auch in der Migrationskrise wurde der öffentliche Diskurs durch eine identitätspolitische Narrative dominiert. Während es in der Euro-Krise um die Frage ging, was Europa als Gemeinschaft ausmacht und wie viel Solidarität angemessen ist, rahmten populistische Akteure die Migrationskrise in einer „wir“ gegen „sie“ Dichotomie ein (Börzel und Risse 2012; Hooghe und Marks 2019).

Die kulturelle Konfliktlinie strukturierte auch maßgeblich den Konflikt um den Brexit, der als Paradebeispiel postfunktionalistischer Argumente dienen kann. So instrumentalisierte die britische Unabhängigkeitspartei UKIP erfolgreich die symbol- und identitätsträchtige Einwanderungspolitik, indem sie suggerierte, die EU würde dem Vereinigten Königreich die Kontrolle über die eigene Einwanderungspolitik entziehen. Als Konsequenz versuchte die konservative Regierung unter David Cameron sowohl UKIP als auch den euroskeptischen Flügel der konservativen Partei zu befriedigen und versprach das Brexit-Referendum (Hobolt 2016; Schimmelfennig 2018), woraufhin das Austrittsthema (sowie die Konsequenzen des Austritts) die politische Debatte im Vereinigten Königreich über Jahre hin dominieren sollte. Im Gegensatz dazu spielte die kulturelle Konfliktlinie in der Corona-Krise nur eine marginale Rolle. Stattdessen führte die gleichmäßige Betroffenheit aller EU-Mitgliedstaaten zu einer wahrgenommenen Ähnlichkeit und „wir“-Gefühlen, die das Zustandekommen des NGEU-Programms begünstigten (Genschel und Jachtenfuchs 2021, S. 357). Somit greift der Postfunktionalismus die innenpolitische Politisierung der EU-Mitgliedstaaten theoretisch auf und trägt zur Erklärung von Integrationsergebnissen in Krisenzeiten bei.

Es lässt sich demnach festhalten, dass die jüngste Krisenpolitik der EU die „Platzhirsche“ der Integrationstheorien durchaus in Bedrängnis brachte. Insbesondere die postfunktionalistische Betonung von Politisierung und die Prominenz von Identitätskonflikten war bis dato in den theoretischen Debatten unterbeleuchtet. Andererseits bieten die klassischen Ansätze zahlreiche Anknüpfungspunkte, um auch mit dem jüngsten Krisengeschehen umzugehen. Sie sind keineswegs obsolet.

5 Fazit: Europaforschung in den Internationalen Beziehungen

Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Feststellung, dass es der Europaforschung in den IB im Kern darum geht, politische Integration – d. h. die Übertragung von staatlichen Hoheitsrechten auf die supranationale Ebene – zu erklären. Da die liberale internationale Ordnung als Ganzes zunehmend mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert ist wie die EU (Börzel und Zürn 2021), kann die Europaforschung produktive Einsichten für die Analyse von internationalen Organisationen bieten. Denn so wie es in der EU aufgrund der vielfältigen Krisen zu einem Anstieg der Popularität euroskeptischer und nationalistischer politischer Parteien kam, nahm auch die politische Unterstützung für Schlüsselinstitutionen der liberalen internationalen Ordnung in vergangenen Jahren ab (Kreuder-Sonnen und Rittberger 2020). Drei unterschiedliche Denkschulen – Intergouvernementalismus, Supranationalismus (oder Neofunktionalismus) und Postfunktionalismus – dominieren die Debatte zur Erklärung europäischer Integration. Sie stellen teilweise konkurrierende, teilweise aber auch komplementäre Erklärungen für die Entstehung von politischer Integration zur Verfügung (siehe Leuffen et al. 2022). Darüber hinaus hat der Beitrag mit Blick auf die jüngste Krisenpolitik der EU illustriert, wie die unterschiedlichen Ansätze die politischen Antworten auf diese Herausforderungen erklären. Es zeigt sich, dass die die zunehmende Bedeutung von Politisierung und Identitätspolitik die etablierten Theorien, wie den LI und Supranationalismus, in Erklärungsnot brachte (Moravcsik 2018; Hooghe und Marks 2019). Gleichzeitig spielen jedoch die Antriebskräfte sowohl des LI als auch des Supranationalismus weiterhin eine wichtige Rolle. Hierbei kommt den beiden Integrationstheorien zugute, dass sie jeweils in dem Sinne weiterentwickelt wurden, sowohl Integration als auch Nicht-Integration zu erklären.

Abschließend ist zu betonen, dass es für die IB nicht nur lohnenswert ist, politische Integration in der EU zu untersuchen, sondern auch institutionelle Varianz im Vergleich zu anderen Organisationen zu erforschen (u. a. Hooghe und Marks 2016; Hooghe et al. 2019; Shair-Rosenfield et al. 2020). Solche Studien gehen auf der einen Seite der Frage nach, wie sich der Regionalismus der EU auf andere Weltregionen auswirkt (z. B. in Asien oder Lateinamerika) (Jetschke und Lenz 2013; Lenz und Burilkov 2016). Auf der anderen Seite bietet jedoch auch die institutionelle Varianz in spezifischen Politikfeldern fruchtbare Möglichkeiten, um IB-Forschung voranzutreiben. Beispielsweise weisen die EU und die WTO wichtige Ähnlichkeiten im Politikprozess der Handelspolitik auf. Andererseits haben unterschiedliche Akteure Zugang als Kläger (Tallberg und McCall Smith 2014). Diese institutionelle Varianz kann jedoch nicht nur unterschiedliche Politikergebnisse erklären. Vielmehr stellt die EU als regionale Organisation mit dem höchsten Grad politischer Integration immer auch das Modell für institutionelle Reformen anderer Organisationen dar. Mit anderen Worten, ihr Avantgarde-Charakter macht sie nicht nur zu einem wichtigen Forschungsobjekt der Politikwissenschaft, sondern implizit immer auch zu einem normativen Referenzpunkt: teilweise, um sie nachzuahmen, teilweise, um genau diese Nachahmung zu verhindern.