Didier Eribon: „Eine Arbeiterin“ - Explorierendes Lesen - Ein Literaturblog

Didier Eribon: „Eine Arbeiterin“

Eine Arbeiterin by Didier Eribon

Ein Buch voller Fragezeichen, zwischen Theorie und Beichte schwebend, unentschlossen.

Bei Didier Eribons Buch “Eine Arbeiterin“, um es gleich vorabzusagen, handelt es sich um eine lose, undurchkomponierte Form eines politischen Essays, der sich darum bemüht, das Problem des Alterns ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen: Die Isolation und Ignorierung der Pflegebedürftigen, Schwachen und vom Leben Gezeichneten in Pflege- und Altersheimen wirft ein schlechtes Licht auf eine Gesellschaft, die von sich selbst behauptet, Gerechtigkeit zu verwirklichen und die Würde eines jeden einzelnen zu verteidigen. Eribon legt einen Finger in diese tatsächlich vorhandene Wunde:

Während sie allein in ihrem Bett im Pflegeheim lag, protestierte meine Mutter, brachte sie ihre Empörung zum Ausdruck. Doch ihr Schrei war nur an einen einzigen Menschen gerichtet: an mich (oder an vier Menschen, wenn ich meine Brüder mitzähle, die sie vermutlich ebenfalls regelmäßig anrief). Es geschah meist am frühen oder späten Abend, und ihre Wut hatte als Zielscheibe nur den Anrufbeantworter meines Telefons, den ich erst Stunden später abhörte.

Allein der Titel von Eribons Buch „eine Arbeiterin“ zeigt auf, mit welcher Distanz sich der Autor auf die Suche nach Spuren von seiner Mutter macht, die diese wohlmöglich in seinem Leben hinterlassen hat. Nicht viele, wie der unbestimmte Artikel „eine“ zeigt. Er hat sich zeitlebens nicht mit ihr, seiner Herkunft, dem sozialen Milieu befassen wollen, aus dem er stammt, in welchem es vor Rassismus und Diskriminierung nur so strotze und im Grunde also eine Arbeitermutter der anderen gleiche. Mit einer Wegwischbewegung werden ganze Bezirke aus seinem Leben gestrichen, und was bleibt, sind lose Assoziationen über eine Mutter, der gegenüber er ein schlechtes Gewissen zurückbehält:

Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit Langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit. Mich schmerzt, wie viel Schmerz ihr mein Egoismus und meine Undankbarkeit zugefügt haben. Doch wie Albert Cohen in Das Buch meiner Mutter schreibt: »Etwas spät«, das schlechte Gewissen.

Eine Arbeiterin“ nicht als Psychogramm zu lesen, vergeht sich fast gegen den Text. Er ist eine Beichte und ein Versuch, etwas wiedergutzumachen, was sich, wie der Autor weiß, nicht wiedergutmachen lässt. Er ist keine Literatur. Er ist keine Theorie. Er ist nicht einmal ein Essay, sondern eine Reihe von berechtigten, sich aneinanderreihenden Fragmenten voller Fragezeichen sich selbst und seiner Beziehung der eigenen Vergangenheit gegenüber, die ihn scheinbar noch fest in ihren Klauen hält. Kaum Details über seine Mutter werden erwähnt. Die Abwehrbewegung manifestiert sich in ständigen Anrufungen von anderen Texten, als Ablenkungsmanöver, dass er einfach nicht viel über seine Mutter zu berichten weiß (außer dass sie bspw. gerne fernsieht und Liebesromane liest).

Die Mangelhaftigkeit des Textes, weder sachliche Kühle noch emotionale Intensität zu besitzen, also weder über begriffliche Schärfe noch poetischen Schwung zu verfügen noch über intellektuelle Innovation, die sprachliche Exploration seines Themas zu vertiefen, manifestiert sich bspw. an seiner völlig unzureichenden und tatsächlichen definitorisch falschen Auslegung von Jean-Paul Sartres Freiheitsbegriff, der unter anderem auf dem präreflexiven Cogito beruht, das unabhängig vom Alter einen Riss in die Vorstellung bringt (das Sein nichtet) und eine unbekannte Zukunft entwirft (als Nichts nichtend), ganz unabhängig davon, wie viel Zeit einem Menschen noch zum Verwirklichen dieser Zukunft bleibt (da sie mit jedem Moment neu genichtet wird). Hiermit, erstaunlicherweise, fällt das letzte Viertel von „Eine Arbeiterin“ einfach und auch völlig in sich zusammen.

Die unzureichende Darlegung von Sartres Freiheitsbegriff illustriert das Manko eines Denkens, das sich um sich selbst dreht, aber den Tod der Mutter vorschiebt, zum Anlass nimmt, einfach über sich und sein schlechtes Gewissen zu sprechen, aber ohne in die Tiefendimension der eigenen Emotionalität ein Feuer zu entfachen, das überzeugen hätte können. Roland Barthes in seinem „Tagebuch der Trauer“ zeigt, wie aus gleicher Denktradition ein unverhältnismäßig anderes, intensives, mitreißendes Buch über den Verlust der Mutter möglich ist.

Inhalt: 2/5 Sterne (selbstbezogene Assoziation übers Altern)
Form: 2/5 Sterne (journalistisches Plaudern)
Komposition: 1/5 Sterne (keine Argumentation)
Leseerlebnis: 1/5 Sterne (aufploppende Irritationen)

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