Stuttgart: „Götterdämmerung“, Richard Wagner

© Matthias Baus

Seit dem 5. Mai 2024 steht an der Staatsoper Stuttgart Wagners Götterdämmerung wieder auf dem Spielplan. Das Produktionsteam besteht aus Marco Storman (Inszenierung), Demian Wohler (Bühnenbild) und Sara Schwartz (Kostüme). Mit der Inszenierung konnte man vollauf zufrieden sein. Der Regisseur hat das Stück trefflich durchdacht und mit Hilfe einer ausgefeilten Personenregie auch spannend auf die Bühne gebracht.

Den Ausgangspunkt für Stormans Interpretation bilden Erzählungen, deren Wahrheitsgehalt unzweifelhaft ist. Der konventionelle Erzählmodus funktioniert nicht mehr und sämtliche vorausgehenden Wahrheiten lösen sich auf. Die beteiligten Personen nützen hier die bis zum Rheingold zurückgehende Vorgeschichte, um eine eigene, neue Wahrheit zu kreieren. Das ist indes gar nicht so einfach, denn die Vorzeichen haben sich radikal gewandelt. Die Welt ist aus ihrem Gleichgewicht gefallen. Die Apokalypse ist bereits vorbei. Den alten Gesellschaftsvertrag gibt es nicht mehr.  Das Zerbersten des alten Systems hat Chaos und eine große Unsicherheit zur Folge. Nachhaltig wird der Zuschauer mit Bildern einer im Zersetzen befindlichen Wahrheit konfrontiert. Diesen symbolischen Bildern sind echte Bilder entgegengesetzt, die im Verlauf der Aufführung essentielle Bedeutung erlangen. Anhand ihrer handelt der Regisseur gekonnt Viel- und Mehrdeutigkeiten ab. Diese Bilder erblickt das Publikum zuerst in der ersten Szene des Vorspiels, wenn die von Storman als Kampffliegerinnen vorgeführten Nornen sie aus einem Schrank holen, während die Weltesche bedrohlich von der Decke herabschwebt. Hier dominieren ästhetisch schöne Männerakte, die größtenteils von Sascha Schneider, dem Illustrator Karls Mays, stammen. Unter diesen imposanten Ölschinken treffen sich Siegfried und Winnetou zu einem Stelldichein. Lediglich ein einziger weiblicher Akt ist hier zu sehen. Wagners freier Mensch und Karls Mays Edelmensch gehen eine ideale Symbiose miteinander ein. Diese Bilder versinnbildlichen nicht bloßes Heldentum, sondern etwas viel tiefer Verwurzeltes, Geistiges und Symbolhaftes. Storman ist an der Herstellung einer neuen, tiefschürfenden Wahrheit gelegen, die von den Protagonisten zu eigenen Zwecken benutzt werden kann. Ob das zutreffend ist, steht auf einem anderen Blatt. Die Bilder lösen die Wirklichkeit gleichsam ab. Die Frage nach der Verlässlichkeit der Wahrheit wird von dem Regisseur gut abgehandelt. Dieser Ansatzpunkt ist durchaus überzeugend.

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Ebenfalls ersetzen die Bilder das Seil der Nornen. Genau an der Stelle, an der dieses nach Wagners Willen reißen soll, zerbricht eines der Bilder. Das ist nur einer unter zahlreichen ansprechenden Regieeinfällen. Zu den Bildern gesellt sich eine rationalisierte Welt, die sich allerdings jeder zeitlichen Einordnung verschließt. Das Regieteam wartet nicht mit einer konkreten Zeichnung der Handlungsorte auf. Diese können allen möglichen Zeitaltern, gleichzeitig aber auch keiner bestimmten Epoche angehören. Storman arbeitet viel mit bildhaften Zitaten. Aus dem Wilden Westen stammt wohl der indianische Totempfahl und aus Alt-Griechenland die gewaltigen Tempelsäulen. Die Mannen-Szene des zweiten Aufzuges, in der Hagen gleichsam den Aufstand gegen das überkommene System probt und sozusagen den Sturm auf das Kapitol befiehlt, wird von Schamanenköpfen und Lorbeerkränzen dominiert. Einer von den Mannen trägt nun die gelbe Walhall-Fahne, die von Waltraute bereits im zweiten Bild des ersten Aufzuges in das Spiel eingebracht wurde und die nun ihren Weg in die Welt der Gibichungen gefunden hat. Es sind sozusagen Orte der Rede, mit denen das Regieteam hier aufwartet. Dazu gehören zum Beispiel eine mit einer Kanzel versehene Kirche und ein Parlament mit Rednertribüne und Mikrofonen. Brünnhildes traditionelles Felsengemach steht noch ganz im Einklang mit der Natur. Diese Örtlichkeiten können mit Hilfe der Drehbühne in unterschiedliche Stellungen gebracht werden und vermischen sich immer wieder. Dass Storman etwas von Tschechow‘ schen Elementen versteht, beweist er, indem er Gutrune zur Zeugin von Hagens Wachtgesang werden und am Ende des ersten Aufzuges Gunther neben Siegfried bei Brünnhilde erscheinen lässt. Die Überwältigung der Wotans-Tochter findet für das Auditorium unsichtbar in ihrem Gemach statt.

© Matthias Baus

Mit den gelungenen visuellen Impressionen korrespondiert eine stringente Zeichnung der Figuren. Siegfried hat so gar nichts Heldenhaftes an sich. Ihn führt der Regisseur als dummen, naiven Tölpel vor. Unmittelbarkeit und spielerische Freude machen sein ganzes Wesen aus. Ausgesprochen offen steht er den verschiedensten Einflüssen gegenüber, die er aber nicht zu hinterfragen versteht. Nachdem er sich in der letzten Szene des ersten Aufzuges in den von der Regie schwach gedeuteten Gibichungen-König Gunther verwandelt hat, trägt er bis zu seiner Ermordung im dritten Aufzug dessen Haar und Kleider. Sterbend darf er schließlich das Gunther-Outfit ablegen und wieder er selbst werden. Die Rheintöchter sind in die Kampffliegermontur der Nornen gekleidet. Wie diese frönen sie der Wahrsagerei und prophezeien Siegfried seinen baldigen Tod. Zu diesem Zweck bedienen sie sich riesiger Spiegel. Die Darstellung der Rheintöchter als Nornen ist eine ausgezeichnete Idee Stormans. Auch der Schluss ist überzeugend inszeniert. Siegfried und Brünnhilde sterben nur einen symbolischen Tod und reiten am Ende auf dem großen, künstlichen Pferd Grane davon. Gunther und Gutrune überleben und verlassen nacheinander die Bühne. Diese Idee war zwar nicht mehr neu, machte aber einen starken Eindruck. Hagen, der von der sich erneut vom Schnürboden herabsenkenden Weltesche erschlagen wird, stirbt einen tatsächlichen Tod.

Dem Nibelungensohn gilt auch der zentralste Einfall der Regie: Hagen und Alberich werden von demselben Sänger gesungen, was in diesem Zusammenhang einen ausgesprochen logischen Eindruck machte. Das ganze Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn ist nicht real, sondern spielt sich nur in Hagens Kopf ab. Ein Alptraum konfrontiert ihn mit dem dämonischen Über-Ich seines Erzeugers Alberich. Der psychologische Gehalt dieser Szene ist sehr ausgeprägt. Sigmund Freud lässt grüßen. Hagen trägt Alberich gleichsam in sich und hat dessen schlimme Einflüsterungen, die sich an dieser Stelle aufs Neue ihren Weg an die Oberfläche bahnen, hervorragend verinnerlicht. Alberichs Erziehung, die Hagen bereitwillig in sich aufsog, trägt  in dieser von Storman als Selbstgespräch interpretierten Szene ihre Früchte. Gleichzeitig wird deutlich, dass Hagen ebenfalls einer ausgemachten Manipulation seitens seines maliziösen Vaters unterworfen ist. Es drängt sich die Frage auf, ob er auch ohne diese ein derartig schlimmer Geselle geworden wäre. Die Zerrissenheit dieser Figur wird vom Regisseur phantastisch herausgearbeitet. Eine Götterdämmerung findet in dieser Inszenierung nicht statt. Stattdessen kommt es naheliegend zu einer Bilderdämmerung. Das Schlussbild zeigt eine Schar junger Mädchen, die sich mit Hilfe von Taschenlampen ihren Weg durch das Dunkle sucht und sich den Ring aneignet. Die Kinder symbolisieren die Zukunft. Erst durch sie ist ein Neustart möglich. Auch das hat man schon ähnlich gesehen, indes stellt es eine eindringliche und gleichzeitig auch vortreffliche Idee des Regisseurs dar, der insgesamt vorzügliche Arbeit geleistet hat.

© Matthias Baus

Gut gefiel GMD Cornelius Meister am Pult. Zusammen mit dem trefflich disponierten Staatsorchester Stuttgart erzeugte er in gemäßigten Tempi einen emotionalen, differenzierten und nicht übermäßig lauten Klangteppich, der die Sänger nie zudeckte und sich obendrein durch eine vorbildliche Transparenz auszeichnete.

Auf fast durchweg beachtlichem Niveau bewegten sich die sängerischen Leistungen. Daniel Kirch hat sich in der Rolle des Siegfried seit der Premierenserie letzte Saison noch gesteigert. Mit strahlkräftigem, bestens gestütztem und intensiv eingesetztem baritonal timbriertem Heldentenor zog er jede Facette seiner anspruchsvollen Partie, der er auch darstellerisch voll und ganz entsprach. In nichts nach stand ihm Patrick Zielke, der mit hervorragend italienisch fokussiertem, sonorem und ausdrucksstarkem Bass der Doppelrolle des Hagen/ Alberich voll und ganz entsprach. In der ersten Szene des zweiten Aufzuges hat er Vater und Sohn stimmlich trefflich voneinander abgegrenzt. Den Alberich sang er mit voller Stimmkraft, während er dem Hagen hier einen vokal etwas introvertierten Charakter gab. Das war eine bayreuthwürdige Meisterleistung! Verbessert gegenüber der vergangenen Saison hat sich Christiane Libor, die mit hochdramatischem Sopranklang und sicheren Spitzentönen eine überzeugende Brünnhilde sang. Voll und rund klang der Gunther von Shigeo Ishino. Gut gefiel Mandy Fredrichs intensiv und profund klingende Gutrune. Mit sehr viel Emotionalität und warmem Alt-Klang stattete Stine Marie Fischer die Erzählung der Waltraute aus. Stimmlich tadellos präsentierte sich das aus Evelin Novak (Woglinde), Linsey Coppens (Wellgunde) und Martina Mikelic (Floßhilde) bestehende Rheintöchter-Trio. Linsey Coppens war auch eine solide singende Zweite Norn. Vokal tiefgründig gab Nicole Piccolomini die Erste Norn. Nicht zu überzeugen wusste die flach und sehr maskig singende Dritte Norn von Christiane Kohl. Mächtig legte sich der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart ins Zeug.

Fazit: Eine fast in jeder Beziehung überaus überzeugende Aufführung. Leider war das Stuttgarter Opernhaus mit lediglich ungefähr 700 Plätzen an diesem Nachmittag/Abend recht schlecht ausgelastet. Leute, geht in die Aufführung! Der Besuch dieser imposanten Produktion lohnt sich!

Ludwig Steinbach, 10. Mai 2024


Götterdämmerung
Richard Wagner

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 29. Januar 2023
Besuchte Aufführung: 9. Mai 2024

Inszenierung: Marco Storman
Musikalische Leitung: GMD Cornelius Meister
Staatsorchester Stuttgart,