Der Beginn einer neuen Ära - Christa Kraft-Schwenks Biografie „Ilse Frapan (1849-1908)“ wirft den bislang genausten Blick auf Leben und Werk der Schriftstellerin : literaturkritik.de

Der Beginn einer neuen Ära

Christa Kraft-Schwenks Biografie „Ilse Frapan (1849-1908)“ wirft den bislang genausten Blick auf Leben und Werk der Schriftstellerin

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Christa Kraft-Schwenk die beste Kennerin von Leben und Werk der „Frauenrechtlerin, Kinderschützerin und Autorin“ Ilse Frapan ist, hat sie schon mit ihrer 1985 erschienenen Monographie Ilse Frapan. Eine Schriftstellerin zwischen Anpassung und Emanzipation unter Beweis gestellt. Danach hat man lange nicht mehr von ihr gehört. Geruht hat sie in der Zwischenzeit jedoch nicht. Denn nun, nahezu vier Jahrzehnte nach ihrem Erstling, hat sie nachgelegt – wiederum mit einer Monographie über Frapan. Schon alleine, dass sie mit ihren rund 700 Seiten den Umfang des früheren Werkes um mehr als das Vierfache übertrifft, lässt vermuten, dass die Autorin mit etlichen neuen Erkenntnissen aufwarten wird. Und genauso ist es. Auch zeigt sie, dass „einige Details“ ihrer früheren Frapan-Biographie „überholt“ sind.

Kraft-Schwenk schildert Frapans Leben und Umfeld überaus detailreich und stets durch Quellen belegt. Dabei erschwerte die „Nicht-Existenz eines Nachlasses“ der um 1900 weithin bekannten Literatin ihre Recherchearbeit erheblich. Immerhin aber konnte die Autorin Frapans in anderen Nachlässen erhaltene Briefe ebenso auswerten wie die von Frapans Lebensgefährtin Emma Mandelbaum, und deren Schwester Amalie sowie diejenigen von Iwan Akunian, den Frapan in ihren letzten Lebensjahren als ihren Ehegatten ausgab. Des Weiteren wertete Kraft-Schwenk „eine große Anzahl von Pressenachrichten“ sowie unzählige Bestände aus etlichen Archiven von Marbach bis Baltimore aus. Angesichts ihrer ebenso umfangreichen wie peniblen Recherche- und Archivarbeit ist es allerdings umso unverständlicher, dass sie im Falle einer völlig randständien Information darüber, worauf die Redewendung „Pepita tanzen“ zurückgeht, auf die zitierunwürdige Quelle Wikipedia rekurriert.

Natürlich zog die Autorin auch Frapans publizierten Lebensrückblick heran, in dem diese ihren Vater auffälliger Weise mit keinem Wort würdigt, während sie von ihrer Mutter geradezu „schwärmt“. Die hatte – für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich – 1867 die Scheidung eingereicht. Ob diese allerdings auch tatsächlich vollzogen wurde, lässt sich aus den überlieferten Dokumenten nicht erschließen. Jedenfalls aber müsse „die Ehekrise der Eltern“ auf die Tochter „einen nachhaltigen Eindruck gemacht haben“, vermutet Kraft-Schwenk. Denn Frapan „thematisierte“ in ihrem fiktionalen Werken wiederholt „Gewalt in der Ehe“.

Kraft-Schwenk möchte mit ihrem Buch Frapan „in einer Zusammenschau von Leben und Werk […] würdigen“. Auf Grundlage des Werdegangs ihrer Protagonistin entwickelt sie dabei die These, „dass Frapans Werk als Einheit zu begreifen ist“, die „auf ihrer – schulischen – Prägung in Hamburg, vornehmlich dem Gedanken Friedrich Fröbels basiert“ und eine „verstehbare Entwicklung aufweist“. Zur Validierung dieser These zieht die Autorin ausgewählte Texte Frapans heran, die vornehmlich dem erzählerischen Werk der Literatin zuzurechnen sind und von der Autorin unter Bezugnahme auf Gérard Genettes Erzähltheorie interpretiert werden.

Die 1849 als Ilse Levin geborene Protagonistin der Untersuchung wuchs im Hamburger Stadtteil Neustadt auf, dessen „gelebte Weltoffenheit und Toleranz“ sie Kraft-Schwenk zufolge „ein Leben lang [prägte]“. Allerdings kannte Frapan nicht nur diesen einen Kiez, sondern die „unterschiedlichsten Facetten“ der Hansestadt. Hinzu kam der nicht zu unterschätzende Einfluss, den die Schule des Paulsenstift, die Hamburger Gewerbeschule für Mädchen und das dortige Museum für Kunst und Gewerbe auf Frapans späteres Leben und Denken ausübten. Ohne sie besucht zu haben, so Kraft-Schwenk, wäre es Frapan […] nicht möglich gewesen, ein für die damalige Zeit derart „freies, selbstbestimmtes und über weite Strecken finanziell erfolgreiches Leben“ zu führen. Doch nicht nur Frapan, sondern auch ihre lebenslange Freundin Emma Mandelbaum wurde einer weiteren These der Autorin zufolge von den drei Institutionen stark beeinflusst.

Kraft-Schwenk charakterisiert die beiden Frauen als in vielerlei Hinsicht „ungleiches Paar“. Das betraf sowohl ihre Erscheinung wie auch ihre Wesensart. War Frapan „von robuster Gesundheit, lebenslustig, exzentrisch, überbordend, mit ihrem Rausch zum Leben’“, so Mandelbaum „oft kränklich, häufig von Migräne heimgesucht, bodenständig, aber stark, milde und ehrlich’“. Eines aber war beiden gemeinsam: Sie besaßen zwar „eine fundierte Ausbildung und einen soliden Beruf“, „[sehnten] sich aber nach mehr Freiheit und Entfaltung“. Ob sie allerdings „ein lesbisches Paar“ waren, lässt die Autorin dahingestellt sein, „da weibliche Homosexualität weder unter Sexualforschern noch im Strafrecht bis zur Jahrhundertwende existierte“. Ein Einwand, der wenig stichhaltig ist.

Bereits im Alter von 16 Jahren begann Frapan Geld zu verdienen. Und das im Jahr 1865, wo Frauen im Allgemeinen an den heimischen Herd gebunden waren und unentgeltliche Care-Arbeit zu leisten hatten. Frapan aber unterrichtete stattdessen in der Armenschule des Frauenvereins für Armenpflege. Die unter dem Namen Paulsenstift bekannte Schule war zumindest zu Beginn von Frapans dortiger Tätigkeit „stark an Fröbel ausgerichtet“. Der Paulsenstift blieb über die annähernd zehn Jahre, die Frapan an ihm lehrte, eine „äußerst progressive, linksliberale[] Schule“. Gänzlich spannungsfrei war Frapans dortige Zeit als Lehrerin dennoch nicht, denn ihre „Lebenslust“ und ihr „eher kameradschaftliches Verständnis ihrer Rolle als Lehrerin“ führten wiederholt zu „Disziplin- und Ordnungsprobleme[n]“. Nachdem Frapan ihre schulische Laufbahn beendet hatte, bestritt sie ihren Lebensunterhalt bis zu ihrem Tod als „Berufsschriftstellerin“.

Wie die Autorin vermutet, haben Frapan und Mandelbaum bereits in Hamburg in einer gemeinsamen Wohnung gelebt. Um Friedrich Theodor Vischers Vorlesungen zur Ästhetik zu besuchen, kehrten Frapan und Mandelbaum der Hafenstadt 1883 den Rücken und zogen nach Stuttgart.  Im Frühjahr 1892 siedelte das Paar nach Zürich über, wo sie „einen bürgerlichen und zugleich für Frauen ihrer Zeit sehr eigenständigen Lebensstil [entwickelten]“ und die immerhin schon 43 Jahre alte Frapan Botanik und Zoologie zu studieren begann. Fünf Jahre später beendete sie ihr Studium mit einem Zeugnis. Also ohne promoviert zu haben, wie es damals üblich war.

Zwar hatte Frapan in Zürich Kontakt zu SozialistInnen und war 1896 Gründungsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für ethische Kultur, ihr wichtigstes Betätigungsfeld jenseits der Literatur war jedoch die dortige Frauenbewegung. So waren sie und Mandelbaum 1893 etwa an den Gründungen des Schweizerischen Vereins Frauenbildungsreform und des Frauenrechtschutzvereins. 1899 initiierte Frapan zudem den Zürcher Kinderschutzbund.

In ihren letzten Jahren zogen Frapan und Mandelbaum noch zwei weitere Male um. Zunächst nach Göttingen, wo sie den armenischen Exilanten Iwan Akunian kennenlernten und dann gemeinsam mit ihm zu dritt nach Genf, einer „Hochburg der in der Diaspora lebenden armenischen Freiheitskämpfer“, was „für die Wahl von Genf als Wohnort [ausschlaggebend] gewesen“ sein „dürfte“. Wie Kraft-Schwenk vermutet, war die „neue Konstellation“ für Mandelbaum allerdings „nicht einfach“.

In ihrem letzten Lebensjahr begann Frapan zunehmend an gesundheitlichen Beschwerden zu leiden, deren Ursache, eine Krebserkrankung, ihr noch Mitte August 1908 unbekannt war. Wenige Monate später am 2. Dezember des Jahres war ihr Zustand so unerträglich, dass Mandelbaum zunächst Frapan erschoss und anschließend sich selbst.

Gilt der erste Teil des vorliegenden Werkes dem Leben Frapans, so der zweite ihrem literarischen Werk und dessen Rezeption. Frapans beide Dramen Phitje Ohrtens Glück und Die Retter der Moral, die Erzählung Wir Frauen haben kein Vaterland und Frapans ersten veröffentlichten Roman Die Betrogene behandelt Kraft-Schwenk allerdings bereits im biografischen Teil. Letzteren „wegen der Verbindung mit der Zürcher Studentenschaft“, die anderen „aufgrund des Hamburg-Bezugs“. Eine Begründung, die allerdings bestenfalls halb überzeugt. Dafür fallen Kraft-Schwenks ausführliche Interpretationen der wichtigsten Werke Frapans umso instruktiver aus.

Zu dem umfangreichen Œuvre, das Frapan in den Jahren zwischen 1886 bis 1909 veröffentlichte, zählen nicht weniger als 18 Novellenbände, die Erzählung Wir Frauen haben kein Vaterland, die drei Romane Die Betrogenen, Arbeit und Erich Hetebrink sowie ihre beiden Dramen. Hinzu kommen ein Gedichtband und ein Kinderbuch sowie Rezensionen und Feuilletonbeiträge, die im Magazin für die Literatur des In- und Auslandes erschienen, wobei sich die Romane als finanziell weniger einträglich erwiesen als ihre journalistische Tätigkeit.

Insbesondere während der ersten Zeit wurden ihre schriftstellerischen Ambitionen von Paul Heyse gefördert, in dessen Familie sie bald wohlgelitten war. Auch Julius Rodenberg war von ihrem schriftstellerischen Talent angetan und ließ sich die jeweils fertiggestellten Manuskriptseiten von Frapans erstem in Arbeit befindlichem Roman zusenden. Nachdem Julius Rodenberg die Anfänge des Romans hochgelobt hatte, verriss er den weiteren Verlauf der Handlung, da der stockkonservative Mann in dem Werk eine zunehmende Nähe zu dem ihm verhassten „Naturalismus mit seiner sozialkritischen Tendenz“ zu erkennen glaubte. Ob diese Tendenz tatsächlich bestand, lässt sich nicht mehr feststellen, denn das Manuskript ist verschollen. Kraft-Schwank vermutet, Rodenbergs ablehnende Haltung könnte dazu geführt haben, dass Frapan das Romanfragment vernichtete.

Andere ihrer Werke wurden hingegen publiziert und teilweise sogar in jüngerer Zeit wieder neu herausgegeben. Denn Rodenbergs vernichtende Kritik erwies sich bald als ziemlich einsame Stimme. Bis weit in die 1890er Jahre hinein waren Frapans Publikationen nicht nur beim lesenden, sondern auch beim rezensierenden Publikum beliebt. Gegen Ende des Jahrzehnts „riefen“ ihre jüngsten Werke allerdings „zwiespältige Urteile hervor“. So wurden sie nun von eher konservativer Seite als trivial, subjektiv und tendenziös kritisiert, während sie „von Linksliberalen und Sozialdemokraten“ aufgrund ihrer „neue[n] politische[n] Ausrichtung“ empfohlen wurden. Denn mit ihrer Erzählung Wir Frauen haben kein Vaterland outete sich Frapan 1898 Kraft-Schwenk zufolge als „gewaltfreie Anarchofeministin“, die Tolstois christlichen Anarchismus aus weiblicher Sicht uminterpretierte.

Eines ihrer beiden Dramen, Die Retter der Moral, sorgte bei seiner Uraufführung 1905 prompt für einen Skandal, da es „sich mit dem Thema Prostitution und deren staatlicher Reglementierung beschäftigt“. Dass das Thema Prostitution selbst von „emanzipierte[n] Frauen […] als heikel [empfunden]“ wurde, trifft auf radikale Frauenrechtlerinnen wie Anita Augspurg oder Lida Gustava Heymann allerdings nicht zu. Und Anna Pappritz hat es sogar ins Zentrum ihres feministischen Engagements gestellt.

Nicht weniger interessant als Frapans feministisch inspirierte Werke ist ihr Kinderbuch Hamburger Bilder für Hamburger Kinder, in dem die Kinderfiguren „ohne feste Rollenzuschreibung“ dargestellt werden. In 42 der 52 Texte bleibt das Geschlecht des handlungstragenden Kindes sogar völlig offen. „Ob das lesende Kind weiblich oder männlich ist, in beiden Fällen kann es sein Erfahrungs- oder Identifikationsrepertoire erweitern“, freut sich die Autorin.

Kraft-Schwenk hat eine überaus kenntnisreiche Arbeit zu Frapans Leben und Werk vorgelegt, an die nichts, was bisher über die Literatin veröffentlicht wurde, heranreicht. Dass Kraft-Schwenks neue Untersuchung ein Meilenstein der Frapan-Forschung sei, wäre zu wenig gesagt. Sie läutet eine neue Ära ein.

Titelbild

Christa Kraft-Schwenk: Ilse Frapan (1849-1908). Leben, Werk und öffentliches Wirken.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2023.
700 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783826079641

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch