Sibylle Berg: Die DDR wird dem rückständigen Westen ein Vorbild sein

Sibylle Berg: Die DDR wird dem rückständigen Westen ein Vorbild sein

Die Schriftstellerin Sibylle Berg kandidiert für das EU-Parlament mit Martin Sonneborns Partei Die Partei. Im Interview erklärt sie, warum. Wie lässt sich die EU umbauen? 

Die deutsch-schweizerische Gegenwartsautorin Sibylle Berg: „Irgendwo zu wohnen ist ein Luxus, den ich gerne einmal ausprobieren würde.“
Die deutsch-schweizerische Gegenwartsautorin Sibylle Berg: „Irgendwo zu wohnen ist ein Luxus, den ich gerne einmal ausprobieren würde.“Heta Multanen

Ja, Sie haben richtig gehört. Die große, sehr lustige Schriftstellerin Sibylle Berg geht in die Politik. Sie hat sich Martin Sonneborns Satirepartei Die Partei angeschlossen, steht im Juni als zweite Spitzenkandidatin zur Wahl. Aber: Warum eigentlich? Das wollen wir wissen. Berg gilt als „Untergangsprophetin“ und „letzte freie Radikale unter den deutschen Schriftstellerinnen“. Womöglich kann sie wirklich genau deshalb etwas Neues bewirken. Ob die in Weimar geborene Berg in der DDR etwas gelernt hat, was ihr in Brüssel hilfreich sein könnte? In diesen Tagen fährt sie bester Laune und mit Parteichef Sonneborn in einem Tourbus durch Deutschland: harter Wahlkampf. Sie sieht, wie es da draußen aussieht. Und sie hat es uns verraten. Ein E-Mail-Interview mit einer Ironikerin, in dem viele Wahrheiten versteckt sind.

Liebe Sibylle Berg, zuerst einmal: Haben Sie mittlerweile ein neues Zuhause gefunden? Sie haben lange Zeit in Zürich eine Wohnung gesucht, war zu lesen, und einfach keine gefunden. Ist das vielleicht auch ein Grund dafür, dass Sie jetzt nach Brüssel wollen, Hauptsitz der EU?

In Brüssel gibt es noch bezahlbare Wohnungen, hörte ich. Irgendwo zu wohnen ist ein Luxus, den ich gerne einmal ausprobieren würde. In Zürich habe ich bis jetzt noch nichts gefunden. Ich wohne in unmittelbarer Nähe der Stadt, also dreieinhalb Stunden entfernt. Und gehöre zu den Millionen europaweit, die gerade durch zahlungskräftigeres Humankapital in den Zentren ausgetauscht werden. Notiz an mich: Nach der Revolution werden alle Wohnungen vergesellschaftet.

Guten Morgen, Berlin Newsletter
Vielen Dank für Ihre Anmeldung.
Sie erhalten eine Bestätigung per E-Mail.

Nun sind Sie unter Menschen gegangen. Zu Wahlkampfzwecken bereisen Sie jeden Tag eine andere Stadt. Wie ist die Stimmung in Deutschland, speziell im Osten?

Wir fahren gerade durch hunderte Kilometer verwüsteter Landschaften in Deutschland. Autobahnen, Autobahnkreuze, Ausfallstraßen, leere Gebäude. Wer will uns eigentlich erzählen, dass in diesen überalterten, auf dem Land oft leeren, verfallenen Gebieten kein Platz für Menschen ist, die aus durch die Globalisierung ausgesaugten Gebieten kommen? Ich denke viel an den Versuch des italienischen Bürgermeisters, verlassene Dörfer an Geflohene zu geben, die in kurzer Zeit Läden, Restaurants, medizinische Versorgung auf die Beine gestellt haben, bis die Rechten den Bürgermeister unter Anklage stellten. Der Erfolg seines Experiments passte nicht in die rechte Agenda der Feindbildpolitik.

Wie ist es in den Städten?

In den Städten, in denen wir waren, ist mir vor allem die Zunahme von Obdachlosigkeit und von SUVs aufgefallen. Und auf der anderen Seite sehr nette Leute, die zu unseren Auftritten kamen und von ihrem Frust in Pflegeberufen oder bei der Bahn berichtet haben.

Infobox image
Heta Multanen
Zur Person
Sibylle Berg, Schriftstellerin, geboren 1962 in Weimar, hat die Schweizer und die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie ist aktive Datenschützerin, hat nach eigener Angabe keine Hobbys und trinkt aus Prinzip nie.

Seit ihrem Debüt „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ (1997) schreibt sie sehr erfolgreich Romane, Essays, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Hörspiele und Kolumnen über die Gegenwart. Zuletzt erschienen die Romane „GRM/Brainfuck“ (2019) und „RCE“ (2022) sowie der Gesprächsband „Nerds retten die Welt“ (2020).

In Dresden wurde gerade ein Europaabgeordneter der SPD krankenhausreif geprügelt, in Berlin Franziska Giffey angegriffen – haben Sie Angst, dass man Sie am Wahlkampfstand tätlich angreift? Fühlen Sie sich als angehende Politikerin sicher?

Ich habe sehr lange Kung-Fu gemacht, bin eher jähzornig und habe ein wuchtiges, furchteinflößendes Äußeres. Wenn diese Fakten Gewaltbereite nicht vergrämen, denke ich mal, dass die Arbeit der Partei Die Partei für unbestechliche Transparenzerzeugung, Politikerinnenbeobachtung, Korruptionsaufdeckung, gegen jede Überwachung der Bevölkerung und für Klassenkampf und Revolution selbst dem gröbsten Schläger, gleich welcher politischen Geschmacksrichtung, ein anerkennendes Nicken abringen müsste.

Ist Europa noch zu retten?

Wenn man den Kontinent vor Kapitalisten schützt, die jeden Bezug zur eigenen Vergänglichkeit verloren haben und die Verarmung der Bevölkerung, die Verbetonisierung und Privatisierung von allem und das wachsende Elend lächelnd in Kauf nehmen. Wenn man den Kontinent vor kriegs- und waffenproduktionsbegeisterten Politikerinnen und damit vor Kriegen schützt, sehe ich eine gute Überlebenschance. Die EU würde ich sehr gerne umbauen, und im besten Fall habe ich dafür fünf Jahre Zeit. Dann läuft der Laden!

Sie setzen sich mit Martin Sonneborn für eine Bierpreisbremse und – in Berlin euphorisch gefeiert – Dönerpreisbremse („einmal mit alles: 3 Euro“) ein. Worin sehen Sie Ihre wichtigste Aufgabe?

Mit der Manpower von, im guten Fall, zwei Parlamentariern kann man einige gute Klagen gegen groben Unfug anstrengen und Transparenz herstellen. Ich als Nerd habe meine Themen im Digitalbereich. Mir liegt daran, das WWW zu zerschlagen, mit von der EU geförderten Peer-to-peer-Tools Überwachung zu 90 Prozent zu verunmöglichen. Ich würde mich für die Freiheit von Wissenschaft und Kunst einsetzen und den Klassenkampf wieder zurück ins Bewusstsein bringen. Na ja, und den Gedanken einer Revolution trüge ich gerne in die Herzen der Bevölkerung.

Haben Sie in der DDR etwas gelernt, das Ihnen in Brüssel hilfreich sein könnte?

Genügsamkeit, Kampfsport und die Ideen einer neuen Gesellschaftsordnung. Die DDR funktionierte in einigen Bereichen geradezu visionär gut: Es herrschte eine weitgehende Angstfreiheit der Bevölkerung, die Meinungsfreiheit mal ausgenommen. Niemand musste sich Sorgen um die elementaren Grundbedürfnisse wie Wohnen, Nahrung, Krankenversorgung, Bildung und Kultur machen, die günstig und gut waren. Das sollte die Basis jeder Utopie sein. Die negativen Seiten wie Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Kinderheime, Missbrauch, Bespitzelung, Korruption und all das, was halt passiert, wenn wenige zu viel Entscheidungsgewalt haben, muss man heute unbedingt extra erwähnen, wenn man keine Lust auf den kurzfristigen Zornesausbruch mental erregungssüchtiger User hat.

Sibylle Berg und Martin Sonneborn, Spitzenkandidaten der Partei Die Partei bei der Europawahl.
Sibylle Berg und Martin Sonneborn, Spitzenkandidaten der Partei Die Partei bei der Europawahl.Heta Multanen

In Ihrem Parteiprogramm bewerben Sie die „Zweistaatenlösung: Zwei Deutschlands (Ost und West) sind besser als ein Deutschland“. Wie können Sie die endgültige Teilung Deutschlands bewirken?

Mein Plan für den europäischen Kontinent ist die Rückkehr zur Lokalwährung, der aber ein einheitliches Geldsystem zugrunde liegt (ich ertrage das schreckliche Wort Euro nicht). Jedes Land, jede Gemeinde sollte größtmögliche Entscheidungsgewalt haben. Grenzen werden hingegen komplett abgeschafft und auch im Pandemiefall nicht rekonstruiert. Die EU besteht aus Bürgerinnen aller Länder, die per Losverfahren ermittelt und zum EU-Dienst einbestellt werden, und wissenschaftlichen Beraterinnen, die wie auch die Bürgerinnen alle vier Jahre rotieren. Zurück zur Frage: Die DDR kann also wieder DDR sein, mit Gleichberechtigung und Genossenschaften, und somit wird das Land dem emanzipatorisch rückständigen Westen ein Vorbild sein.

Wie bleibt man eigentlich so gut gelaunt und kämpferisch, wenn man zugleich so überzeugende literarische Dystopien entwirft wie Sie in Ihren Büchern?

Ich habe einfach Glück im Serotoninbereich und empfinde stark die selbstgestellte Aufgabe, die Welt zu retten, ohne die Welt zu fragen, ob sie daran Interesse hat. Wie alle Weltretter fühle ich mich im alleinigen Besitz der Wahrheit, und es macht ja gute Laune, so schlau zu sein oder es stark zu glauben. Ich versuche, immer freundlich zu sein, das ist gut für mein Wohlbefinden, und ständig neue Dinge zu lernen, egal in welchem Bereich. Das lässt wenig Zeit für Stagnation und Verzweiflung, dafür gibt es viel zu viele Forschungen, die Hoffnung machen.

Stimmt es wirklich, dass Sie in der DDR zur Kampftaucherin ausgebildet wurden?

Ich bin voller ungeahnter Talente, die alle bei näherer Betrachtung so ausfallen wie der Titel „Vize-DDR-Judomeisterin“ – den ich auch hatte. Es gab allerdings in meiner Gewichtsklasse nur eine Gegnerin. Taucherin bei der GST in der DDR ist auch richtig, und ich untertreibe in der Aufzählung meiner Fähigkeiten eher, denn ich möchte Menschen nicht ängstigen.

Heute schreiben Sie: „Ich habe wenigstens einen ordentlichen Beruf. Schriftstellerin.“ Ist Schriftstellern nicht grundsätzlich zu misstrauen? Sie denken sich doch ständig etwas aus! 

Ja, das ist so.

Warum um Himmels willen wollen Sie Politikerin werden?

Die Zeit ist zu ernst, um den geschützten Raum der Kunst nicht einmal probehalber zu verlassen. Ich habe mit Büchern und Theaterstücken aufrichtig versucht, die Welt zu verbessern, es ist mir nicht gelungen. Jetzt bin ich durch die letzten Jahre und Krisen dermaßen radikalisiert, dass ich glaube, an einer anderen Stelle mehr erreichen zu können. Die Partei und Martin Sonneborn bieten die einzige für mich interessante Mischung aus unbewaffnetem Widerstand und Tagespolitik. Ich würde Martin Sonneborn, den seriösesten Politiker in der EU, sehr gerne bei seiner Transparenzarbeit und im Kampf gegen Lobbyisten, Verseuchung und Dummheit im Parlament unterstützen.

Sind Sie für oder gegen Waffenlieferung an die Ukraine?

Fangen wir an einem anderen Punkt an. Die EU will die Rüstungsindustrie in Europa mit Milliarden subventionieren. Geld, das vermutlich in Bildung, Pflege, Infrastruktur, Armutsbekämpfung, in Kursen für die Wiederbelebung der Diplomatie und die Diskussionsfähigkeit der Bürgerinnen sehr viel besser angelegt wäre.

Sibylle Berg: „Ich lehne die Instrumentalisierung des Leides und des Krieges in der Ukraine ab.“
Sibylle Berg: „Ich lehne die Instrumentalisierung des Leides und des Krieges in der Ukraine ab.“Heta Multanen

Und im speziellen Fall der Ukraine?

Ich lehne die Instrumentalisierung des Leides und des Krieges in der Ukraine ab, da im Moment von der Aufmerksamkeit ausgelassene 150 weitere unterschiedliche Kriege stattfinden. Und in die meisten werden europäische Waffen geliefert. Jeder Krieg ist ein prähistorischer Anschauungsunterricht im Bereich der Lernunfähigkeit der Menschen. Pazifistin zu sein heißt heute, einen Shitstorm dafür zu bekommen, dass man an den Fortschritt glaubt. Der ohne das Abschlachten junger Menschen, ohne verwüstete, verseuchte Länder und leidende Zivilisten auskommt. Es gibt den medial kaum erwähnten Bereich der Friedensforschung, in der hervorragende Wissenschaftlerinnen Strategien und Theorien entwickeln, um eine Zukunft ohne die Abschlachtung von kindlichen jungen Männern zu erreichen. Warum muss man stattdessen von Waffenlobby-befeuerten PolitikerInnen lesen und hören, die sich in ihrem Leben und mit sich dermaßen langweilen, dass sie einen Weltkrieg als belebend empfinden. Warum können, wenn es schon Krieg sein soll, die Länderchefs ihre geopolitischen Interessen nicht im fairen Faustkampf durchsetzen?

Gendern Sie eigentlich?

Ich habe das Femininum bereits verwandt, da waren dauerempörte Kolumnisten noch gar nicht geboren. Ich benutze die Sprache so, wie sie für den Ausdruck meiner Gedanken am dienlichsten ist. Das sollte jede so tun, und sich über andere Dinge erregen: über Medien zum Beispiel, die ihrer Aufgabe als vierte Gewalt nicht mehr nachkommen, über die unglaubliche Dummheit und Wirkmacht politischer PR, über das Wetter, und so weiter.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Ach Hoffnung – ein großes Wort. Ich habe gute Laune. Gerade bin ich mit Kamerad Sonneborn auf Lese- und Wahltour durch Deutschland. Ich lese aus meinem Buch „RCE“ vor, die Anleitung einer Revolution. Nette Leute lassen sich Körperteile von mir unterschreiben. Es ist Frühling, ich lebe noch, alles prima.