Auf der Pressekonferenz im dritten Stock des Palais mit seinem speziellen labyrinthisch-postmodernen Späte-Siebziger-Charme trägt Festivalchef Thierry Frémaux das Jackett offen. Sonst gibt er sich arg zugeknöpft. Die Fragen zur Gerüchteküche um eine MeToo-Liste, die zu Beginn des Festivals von der französischen Internet-Zeitung „Mediapart“ veröffentlicht werden sollte und angeblich die Namen von zehn schlimmen Fingern aus der Filmbranche enthalten soll, bügelt er allesamt ab. Er wolle nichts damit zu tun haben, kenne keine Details, halte alles für „Polemik“ und „künstlich aufgeblasen“. In den letzten 20 Jahren habe sich in Cannes nur eines verändert, erklärt Frémaux, an die internationalen Journalisten gewandt: „Ihre Fragen!“
Es sollte dieses Jahr doch alles nur schön werden und sich endlich wieder in erster Linie um die Filme drehen, nicht um den ganzen leidvollen Quatsch drum herum! Das hatte sich Frémaux im April in Paris bei der Vorstellung des Wettbewerbsprogramms gewünscht. Doch pünktlich zum Festivalstart sind dunkle Wolken aufgezogen, metaphorisch und buchstäblich. Zum Auftakt fallen die ersten Tropfen, während „Mediapart“ energisch dementiert. Man habe keine Kenntnis von irgendeiner Liste, überhaupt veröffentliche man keine Listen, sondern Recherchen, und zwar erst dann, wenn sie abgeschlossen seien und alle Beschuldigten konfrontiert.
Die einzige Schelte, zu der sich „Mediapart“ im Augenblick durchringen kann, gilt den übereifrigen Kollegen. Was von France Info TV bis zum „Figaro“ kolportiert worden sei, entpuppe sich als sensationsheischendes Nichts, als würdelose Verschwörungstheorie. Bei „Mediapart“ habe man lange gezögert, überhaupt etwas zu der Chose zu sagen, denn: „Auf das Gerücht zu reagieren bedeutet, das Risiko einzugehen, dazu beizutragen, ihm Tiefe zu verleihen und die Click-and-Buzz-Maschine anzuheizen, die die öffentliche Debatte verrotten lässt.“
Das alles heißt offenbar nicht, dass man bei „Mediapart“ an keiner MeToo-Geschichte dran sei, bloß zum jetzigen Zeitpunkt ist wohl nichts zur Veröffentlichung bereit.
Die Stimmung in Frankreich ist insgesamt explosiv. Der nationalen Ikone Gérard Depardieu, dem viele Frauen Übergriffigkeit vorwerfen, wird im Oktober in einer Sache der Prozess gemacht. Am Vorabend des Festivalauftakts haben in der Zeitschrift „Elle“ neun Frauen den Produzenten Alain Sarde (72), der Filme von Godard über Roman Polanski bis hin zu Bertrand Tavernier und David Lynch ermöglicht hat, beschuldigt, sie als noch minderjährige oder kaum erwachsene Schauspielerinnen vergewaltigt oder anderweitig sexuell angegriffen zu haben. Die Schilderungen sind explizit und drastisch. Sarde bestreitet alles. Derlei Verhaltensweisen missbillige er, sie seien ihm „völlig fremd“, lässt er über seinen Anwalt erklären.
Ein Manifest von 100 Frauen
In Paris erging im Laufe des ersten Festivaltags ein Urteil, ob der Regisseur Roman Polanski (90) vor einigen Jahren in der Zeitschrift „Paris Match“ eine britische Schauspielerin, die ihm Vergewaltigung vorwirft, ungestraft „Lügnerin“ nennen durfte oder nicht. Das Pariser Strafgericht sprach ihn von den erhobenen Vorwürfen frei. Vielleicht ein Detail, aber eines, das sich ins Mosaik fügt.
„Le Monde“ veröffentlicht parallel das Manifest von 100 Frauen für eine Revolution der Me-Too-Bewegung. „Wer hört uns wirklich zu?“, fragen die Unterzeichnerinnen dort rhetorisch. Die Abfuhrquote bei Klagen gegen sexuelle Gewalt habe in Frankreich im Jahr 2022 bei „irrsinnigen 94 Prozent“ gelegen. Sexistische und sexuelle Gewalt sei „systemisch und nicht außergewöhnlich“, heißt es weiter, sie werde aber nach wie vor verschleiert: „Dem Mut der Opfer zum Trotz nimmt die Straflosigkeit zu.“
Die Unterzeichnerinnen fordern deshalb „ein umfassendes Gesetz“, besser geeignet als die bisherigen, Vergewaltigungen klar zu erkennen und den Schutz der Opfer auszuweiten, um die Beweisaufnahme zu erleichtern. Untersuchungen zur sexuellen Vergangenheit der Frauen hätten zudem in den Prozessen nichts verloren. Unterschrieben haben große Namen des französischen Films wie Isabelle Adjani, Charlotte Arnould, Emmanuelle Béart, Juliette Binoche und Isild Le Besco, zudem die Autorinnen Leila Slimani und Christine Angot.
In Cannes wiederum hat Frémaux in letzter Minute einen Kurzfilm namens „Moi aussi“ ins Programm genommen, der sich, so liest man, den Geschichten von Opfern sexueller Gewalt widmet. Er stammt von der Schauspielerin Judith Godrèche, die im Februar den Regisseur Benoît Jacquot wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen angezeigt hat. Sie hatte in den Neunzigerjahren eine Beziehung mit dem 25 Jahre älteren Mann; sie war damals 14, er 39. Der heute 77-jährige Jacquot sagt, es sei keine Gewalt im Spiel gewesen, alles sei im Einverständnis geschehen. Godrèche fragt zurück, was das Einverständnis einer 14-Jährigen bedeute.
Das ist, aus der Perspektive des Filmfestivals, das lautstarke Hintergrundrauschen, das Frémaux mit seinen energischen Bekenntnissen zum Vorrang der Ästhetik vor der Politik nicht zum Verstummen bringen kann. Da helfen auch die vielen Frauen nicht, denen Cannes dieses Jahr die Ehre erweist, „Barbie“-Regisseurin Greta Gerwig als Jury-Präsidentin, Meryl Streep, die eine Palme fürs Lebenswerk bekommt, oder die britische Regisseurin Andrea Arnold, die nicht nur ihren neuen Film im Wettbewerb hat und von der französischen Filmgilde mit der Carosse d’Or ausgezeichnet wird. Zu Beginn läuft in einer Retrospektive auch Arnolds Film „Red Road“ von 2006. Darin geht es um eine Frau, die einen Mann verführt, um ihm eine Vergewaltigung anzuhängen.
Dieser Artikel wurde nach dem Urteil im Pariser Prozess gegen Roman Polanski aktualisiert.