Aktuelle Nachrichten | Keßler, Bettina | 14.05.2024
Versöhnung statt Vergeltung
Pfarrer i.R. Gerhard Kuppler berührt mit seinem ganz persönlichen Blick auf die deutsch-französische Freundschaft
Ansprache von Pfarrer i.R. Gerhard Kuppler im deutsch-französischen Gottesdienst anlässlich 50 Jahren Städtepartnerschaft von Lauffen a.N. und La Ferté-Bernard am Sonntag, 12. Mai 2024
Chères amies de La Ferté Bernard et de Lauffen,
Liebe Freundinnen und Freunde aus La Ferte Bernard und aus Lauffen,
Freundschaft ist ein großes, zur Zeit aber sehr seltenes Wort. In der Öffentlichkeit ist von Vergeltung, sich wehren, Druck machen, Aufrüsten gegen die Bösen die Rede. Ungefähr zwölf Jahre nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg haben wir in der Schule Adressen von französischen Schülern erhalten, um eine Brieffreundschaft aufzubauen. Drei Jahre danach habe ich in den Sommerferien meinen Brieffreund im Departement Corrèze im Zentralmassiv besucht.
Ich überlegte: Wie werden sich die Franzosen verhalten gegenüber einem jungen Menschen, der die Sprache spricht, in der sie jahrelang während der Besatzung gedemütigt wurden? Die Sprache, in der die Befehle zum Erschießen von Geißeln, zur Verhaftung von Juden und Verdächtigen der Resistance gebrüllt wurden. Die Sprache in der Verdächtige gefoltert wurden. Ich erlebte nur Freundlichkeit. Immer wieder wurde mir selbstlos geholfen, wenn mich mein Moped im Stich ließ. Menschen luden mich zum Essen ein und erzählten mir ihre Geschichte in der Zeit des Krieges, Ohne Ablehnung. Ohne Vorwurf.
Am 9. September 1962 war ich in Ludwigsburg unter den 20.000 jungen Deutschen, denen General Charles de Gaulle mit rauchiger Stimme zurief: "Vive l’amitie franco-allemande! Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!" Er hielt diese „Rede an die deutsche Jugend“ in deutscher Sprache, in der Sprache, in der 18 Jahre zuvor noch sein Volk tyrannisiert worden ist. Welch ein Symbol, welch grandioser Fortschritt! Welch wahrhaftige Zeitenwende!
Als meine Eltern zur Schule gingen wurde ihnen eingetrichtert, dass die Franzosen die Erbfeinde der Deutschen seien. Vor etwa 90 Jahren bauten die Franzosen die Maginotlinie, um sich vor den bösen Deutschen zu schützen. Zur selben Zeit bauten die Deutschen den Westwall, um sich vor den bösen Franzosen zu schützen. Jahrhundertelang dauerte diese Erbfeindschaft mit unzähligen Kriegen, Morden, Grausamkeiten, Plünderungen, Zerstörungen. Nicht mehr Erbfeind, sondern ich will dein Freund sein.
20 Jahre nach Kriegsende war ich in Oradour sur Glane, einem französischen Dorf im Limousin. Dieses Dorf wurde im Juni 1944 von einer Einheit einer deutschen SS-Panzertruppe vollständig ausgerottet. Die Männer wurden zusammengetrieben, erschossen und verbrannt. Die Frauen und Kinder wurden in der Kirche eingesperrt. Dann wurde die Kirche angezündet und Frauen und Kinder wurden bei lebendigem Leib verbrannt. Ich stand vor der vom Ruß geschwärzten Kirchenruine und hörte mit dem inneren Ohr die verzweifelten Schreie der Frauen und Kinder. Ich stellte mir vor, meine Mutter und wir fünf Kinder wären in dieser Feuerhölle gewesen. Ich spürte die Unfasslichkeit dieses Massakers.
Und da fiel mir dieses „Vive L’amitié franco-allemande“ ein, es lebe die deutsch-französische Freundschaft. Unfasslich, es gibt Versöhnung über solche Schrecken hinweg. Es gibt Händeschütteln über Ströme von Blut und Leid hinweg. Was kann es Größeres geben als solche Versöhnung? Was ist ein militärischer Sieg und sei er noch so groß, gegenüber solcher Versöhnung?
Allerdings: Versöhnung heißt nicht Vergessen. Versöhnung ist nur möglich, wenn gerade nicht vergessen wird, was ohne Versöhnung geschieht: Vergeltung, Terror, unvorstellbar Grässliches. Der spanische Philosoph George Santayana sagte: „Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen“. Versöhnung ist vergeben, nicht vergessen. Versöhnung heißt: sich nicht von der Vergangenheit beherrschen zulassen. Ohne solche Versöhnung gibt es keine Freiheit. Das zeigt sich jeden Tag.
Und da in Oradour sur Glane wurde mir klar, was mir das Wichtigste bei meinem Beruf als Pfarrer sein wird: das Wort von der Versöhnung. Der Apostel Paulus schreibt: "Gott hat uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt." (2. Kor. 5,18) Die wichtigste Aufgabe der Kirche sind nicht die religiösen Riten.
Die wichtigste Aufgabe der Kirche ist die Ansage: Versöhnung ist möglich, weil Gott sie schon vollbracht hat.
Glauben Sie an Gott? Immer mehr Menschen beantworten diese Frage mit nein.
Es ist aber die falsche Frage. Die richtige Frage muss heißen: "An welchen Gott glauben Sie?" Ich glaube nicht an den Gott, an den Donald Trumpp glaubt. Der glaubt an einen Gott, der Amerika mehr liebt als die anderen Völker. Ich glaube nicht an den Gott, an den Wladimir Putin glaubt. Der glaubt an einen Gott, der das alte Zarenreich wiederherstellen wird. Ich glaube nicht an einen Gott, der irdische Macht rechtfertigt.
Ich glaube an den Gott, der durch Jesus Christus Versöhnung gestiftet hat zwischen ihm und uns Menschen: Ich glaube an den Gott, der Versöhnung gestiftet hat zwischen uns Menschen und Völkern. Wir entscheiden uns täglich zwischen zwei Lebensprinzipien, Ideologien, ja, zwischen zwei Göttern, zwischen Versöhnung und Vergeltung, zwischen Liebe und Hass. Dazwischen, dass wir Freundschaft suchen oder uns andere Menschen, Völker, Religionen zu Feinden machen lassen.
Das Wort von der Versöhnung, ohne die Freundschaft nicht möglich ist, ist rar geworden in unserer Zeit. Halten wir es aufrecht – trotz allem!
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