(aus dem tiefen Archiv): Alice Cooper 1973 - Der ganz große Horror - Michael Sailers Blog

(aus dem tiefen Archiv): Alice Cooper 1973 – Der ganz große Horror

(Der folgende Text entstand im Frühjahr 2003 zum 30. Jubiläum des erwähnten Albums und ist irgendwann in dieser Zeit gekürzt im Musikexpreß erschienen.)

„Glam-Rock ist tot!“ verkündet Marc Bolan im Herbst 1972. Einen Ozean entfernt macht sich ein Konkurrent auf, das Gegenteil zu beweisen: Mit nie dagewesenem Aufwand inszeniert Alice Cooper den spektakulärsten Rock-Circus aller Zeiten, wird „über Nacht“ zum Superstar. Und zum körperlichen und seelischen Wrack.

Im Herbst 1972 lädt Vincent Damon Furnier, geläufig und historisch besser bekannt unter dem Namen seiner Band Alice Cooper, dreiunddreißig Freunde zu einer „kleinen“ Party in Paris. Die Gäste müssen sich an den vorgeschriebenen Dresscode halten, und so erscheinen unter anderem Jeanne Moreau, Omar Sharif, Charlie Watts und jede Menge sensationsgeiler Adel – alle als Raquel Welch verkleidet, mit bunten Perücken und gewagten Fummeln. „Eine Person allerdings“, meldet der SUNDAY EXPRESS, „fiel durch ihre Abwesenheit auf: die echte Raquel Welch. Sie war nicht eingeladen.“

Es gibt einiges zu feiern für Vincent, der es in den fünf Jahren seiner Karriere vom kommerziell hoffnungslosen Freak-Ziehsohn Frank Zappas zum Major-Company-Künstler gebracht hat; aber es gibt noch mehr Grund, Aufsehen zu erregen. Drei Alice-Cooper-Alben sind bislang bei Warner Brothers erschienen und warfen zwei Hitsingles ab, aber der Erfolg rechtfertigt bei weitem noch nicht den Aufwand. Denn die Band begnügt sich nicht damit, simple Singles auf den Markt zu werfen wie T.Rex und Slade, deren knallige Chartbreaker meist in einer Viertelstunde im Kasten sind; nein: Alice Cooper lassen „Monsterhits“ produzieren von ihrem Pomp-Direktor Bob Ezrin, mit Orchestern, Bläsern, Horden prominenter Gäste. Die erste dieser pyrrhischen Arschbomben einer aufgestachelten Teenager-Revolution, „School’s Out“, wurde zum Motto des Sommers 1972. Einige Wochen lang schallte aus allen Kofferradios des Landes Vincents nörgelig-böses, romantisch verletztes, wütend schrilles, triumphal heulendes Krächzorgan.

Es steht also einiges auf dem Spiel; die neue LP wird entweder den totalen Durchbruch bringen – oder ein Karriereende mit Pauken, Trompeten und einem Mount Everest von Schulden. Vorab erscheinen zwei Singles: „Elected“ (die hymnische Aufforderung, Herrn Furnier zum Präsidenten der USA zu wählen) und „Hello Hooray“, eine pompöse, aberwitzig-genialisch arrangierte Version von Rolf Kempfs Folk-Oldie, widerlegen alle Befürchtungen in Hinsicht auf Alice Coopers Größenwahn. Am 25. Februar 1973, drei Wochen nach Furniers fünfundzwanzigstem Geburtstag, folgt das Album mit dem ominösen Titel „Billion Dollar Babies“; schon die Aufmachung sprengt alle Grenzen und läßt die Warner-Verantwortlichen wie üblich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Den Vorgänger „School’s Out“ hatte die Band in ein Cover packen lassen, das sich mit drei Handgriffen in eine ansprechend verzierte Schulbank verwandeln ließ. Wer den Deckel hochklappte, fand die Platte – in einem Plastik-Damenslip. Diesmal stellt die Klapphülle eine Riesengeldbörse aus giftgrün geprägtem Schlangenlederimitat dar, in deren innerer Klammer ein Geldschein im Posterformat steckt: eine Milliarde Dollar.

Kaum ist das Album in den Läden, sorgt Furnier erneut für klappernde Schlagzeilen: Am nächsten Tag steht er seinem Freund Salvador Dali Modell, behangen mit (geliehenen) Juwelen im Wert von mehr als einer Million. Die Entstehung des Gemäldes (das Cooper unter anderem mit einem Mikrophon zeigt, das Dali aus einer Miloschen Venus-Statue gehauen hat, um „die Zerschmetterung alles Alten durch des Rockstars Stimme“ darzustellen) wird mit einer Hologrammkamera mitgeschnitten.

Der deutschen Zeitschrift POP dient die Dali-Connection später als Argument, mit dem Leser ihre Cooper-skeptischen Eltern überzeugen sollen – aber bei erwachseneren Hörern hat sich die Band mit dem neuen Album die letzten Vorschußsympathien verscherzt. Die Zeichen der Zeit stehen nach dem Auf- und Abschäumen der Glamwelle auf „ernsthaft“. Bands wie Yes, Jethro Tull und Genesis wollen das kommerzielle Erbe der Glitter-Rocker antreten. Kritiker verreißen Coopers überkandidelten Bombast-Schock-Rock in Grund und Boden, und auch die Verkäufe laufen anfangs nur schleppend.

Als Hoffnung bleibt die anstehende Tournee, denn Alice Cooper, so hat der Protagonist oft genug verkündet, ist ein „Multimediaprojekt“, bei dem die Musik nur eines von vielen Elementen ist. Das Konzept, das „reale Leben“ auf die Bühne zu bringen, setzt die Band radikal um; zu den Requisiten gehört nicht nur die Schlange Eva Marie, sondern auch inszenierte Schlägereien, blutende Babypuppen, Luftballonwolken, Seifenblasenmaschinen, ein mannshoher Karieszahn (gespielt von Bassist Dennis Dunaways Verlobter Cindy Smith, der Schwester von Schlagzeuger Neal Smith) – und eine echte Guillotine samt Henkersknecht, unter der sich der Hauptdarsteller als Showhöhepunkt „hinrichten“ lassen wird. Am Ende des exzessiven Spektakels feiert Cooper dann Auferstehung.

Ein deutscher Astrologe deutet den Aufzug so: „Er nimmt vorweg, daß auf unsere Zeit des Überflusses eine Phase der Zerstörung folgen muß. Nach der plutonischen Höllenfahrt erscheint Alice Cooper in strahlend weißem Frack und Zylinder. In der Sage wirft sich der Vogel Phönix ins Feuer, aber er stirbt nicht, sondern entsteigt der Asche in einem strahlend neuen Kleid. (Übrigens: Alice Cooper ist in Phönix, Arizona, geboren.)“ Das mag alles nicht so ganz stimmen – Furnier kam in Detroit zur Welt, die Band tatsächlich an der Cortze High School in Phoenix), aber es wirkt, wie es soll: Oho!

Die Tour beginnt am 1. März; den Auftakt bilden einige kleinere Gigs in Kanada. Eine Vorsichtsmaßnahme, denn obwohl der Coopersche Road-Circus für sein Brimborium bekannt ist, liegt es doch kaum ein Dreivierteljahr zurück, daß die Band im Vorprogramm anderer Stars (wie The Stooges) durch Kellerclubs und kleine Turnhallen zog. Schon die ersten Auftritte in Kitchener, London, Ottawa und Hamilton zeigen, daß das Publikum seine Lektion inzwischen gelernt hat und willig ist, aktiv am Spektakel teilzunehmen. Kaum hat der Support-Act (die Cooper-Kumpels Flo & Eddie, ehemals The Turtles) die Bühne freigegeben, setzt ein Hagel von Gegenständen ein – nicht immer nur Unterwäsche, Flaschen, Steine und Farbbeutel, sondern auch mal eine M-80-Bombe mit der Sprengkraft einer Dynamitstange: „Das Ding landete zwischen Dennis und mir“, berichtet Neal Smith. „Die Wirkung war unglaublich. Es hat uns fast von der Bühne geblasen.“

Über Philadelphia schleppt sich der anschwellende Troß von Band, Roadies, Mitarbeitern, Presseleuten und Freunden nach Süden. Am 16. März erscheint die dritte Singleauskoppelung aus dem Album, „No More Mr. Nice Guy“, und am nächsten Morgen wartet der MELODY MAKER mit einer Schockmeldung auf: Alice Cooper sei während der zweiten Show im PA Spectrum in Philadelphia aufgrund einer Fehlfunktion der Show-Guillotine versehentlich wirklich getötet worden. Der „Scherz“ schlägt riesige Wellen; obwohl das Musikwochenblatt die Meldung in der nächsten Ausgabe richtigstellt. Die Plattenverkäufe steigen sprunghaft, selbst in den Hard- und Prog-Rock-dominierten deutschen LP-Charts schießt „Billion Dollar Babies“ aus dem Stand auf Platz 3. Im April zeigt das POP-Titelbild Furnier am Galgen (ein ähnliches Motiv liegt als Poster bei und schreckt landesweit Mütter aus den Kinderzimmern ihrer Söhne), unterlegt mit der suggestiven Frage: „Ist Alice Cooper tot?“ – in der allgemeinen Hysterie fällt kaum auf, daß es sich bei der Geschichte lediglich um eine Umfrage unter jugendlichen Musikfans und „Experten“ handelt. Darin stellt ein Theologe fest, Cooper sei „kein billiger Transvestit“, sondern führe „unsere Gesellschaft, die ihr Gesicht verloren hat und nicht weiß, wo sie steht, bewußt und intelligent ad absurdum“, während „Schallplattenmanager“ Kurt Cattaneo prophetisch andeutet: „Alice Cooper ist ein sensibler, intelligenter Mann. Der Erfolg ist natürlich nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Auch er steckt in einer totalen Maschinerie.“ Als er ihn das letzte Mal gesehen habe, sei er „mit seinen Nerven so ziemlich am Ende“ gewesen.

Der Zeitplan ist in der Tat strikt: Jeden Abend Show, jede Nacht bombastische Parties mit prominenten Kumpels – und tagsüber muß Furnier repräsentieren, so etwa am 3. April bei der Eröffnung der Dali-Ausstellung mit Cooper-Hologrammen in der New Yorker Knoedler Gallery. Auch die Scherze aus dem Publikum reißen nicht ab: Am 10. April in Chicago fühlt Neal Smith während der ersten Nummer „Hello Hooray“ einen plötzlichen Schmerz am Rücken. Der herbeigerufene Roadie Goose stellt fest, daß Smiths weißes Satinhemd blutdurchtränkt ist – in der Mitte steckt ein Dart-Pfeil. Nach zehn weiteren Gigs kommt es am 26. April in New Orleans zu einer Besprechung der Band mit Manager Shep Gordon, bei der beschlossen wird, nach Ende der Tour ein Jahr Urlaub zu machen.

Vor dem Auftritt in Houston, der für den Kinofilm „Good To See You Again, Alice Cooper“ mitgeschnitten wird, hat die Band ein Erlebnis, das von ihr selbst inszeniert sein könnte: Der gepanzerte Wagen, der die fünf Musiker vom Flughafen ins Hotel fahren soll, wird auf offener Strecke von einer Horde berittener Cowboys angehalten. Mit vorgehaltenen Colts werden Vincent, Neal, Dennis, Mike Bruce und Glen Buxton zum Aussteigen gezwungen. Auf die Frage „Seid ihr Typen diese Billion-Dollar-Babies?“ antwortet man eingeschüchtert: „Nein, nein, ganz bestimmt nicht!“ Während einer der Cowboys den Fahrer in Schach hält, werden die Bandmitglieder von Schmuck, Geld und Klamotten „befreit“, dann schießt jemand auf den zweiten Fahrer, der fällt getroffen zu Boden. Plötzlich reitet ein „Lone Ranger“ auf seinem strahlenden Schimmel daher, nietet die Cowboys um, und während der Band noch die Herzen in den Hosen klopfen, springt eine lachende Filmcrew aus den Büschen – später tönt Neal Smith, er habe den Scherz gleich durchschaut: „Wie kann der Kerl die ganzen Banditen mit einem Revolver niederschießen? Der müßte zwanzig Kugeln in der Trommel gehabt haben.“ Trotzdem wird der für den nächsten Tag geplante Auftritt in Corpus Cristi ohne Angabe von Gründen abgesagt …

Nach ein paar Tagen Erholung zieht der Circus weiter südlich, nach Oklahoma, Texas, New Mexico, Kalifornien, Colorado, Utah … Die Stimmung der Bevölkerung ist hier weniger Cooper-freundlich; es kommt zu Ausschreitungen und Prügeleien. Am 25. Mai in Seattle fliegt dem Sänger aus dem Publikum eine Whiskeyflasche an den Kopf; er geht zu Boden, kann aber trotz einer blutenden Wunde über dem Auge nach kurzer Pause weitermachen. Nachdem Vancouver, Minneapolis, Milwaukee, der Madison Square Garden in New York und ein letzter Gig in Providence absolviert sind, zieht man Bilanz: Die Tour war ein Riesenerfolg, „Billion Dollar Babies“ ist zum Millionenseller avanciert; selbst eine vierte Single (der Titelsong) klettert noch die Hitlisten hoch. Auf der anderen Seite sieht Furnier ramponiert aus: Schrammen, Wunden, Narben, blaue Flecken am ganzen Körper, sechs Rippen und zwei Finger gebrochen, eine Ellbogenfraktur und zwanzig Pfund Übergewicht – „Ich war von Flüssigkeit aufgebläht wie ein Sack.“ Das mag an den Ernährungsgewohnheiten der Band liegen, die der Presse stolz erzählt, sie verbrauche pro Mann und Tag eine Kiste Bier, „um fit zu bleiben“ – oder an Vincents Spezialtherapie, die darin besteht, vor jeder Show zwei Flaschen Whisky leerzutrinken: „Dann spüre ich diese unheimlichen elektrischen Schläge und bin plötzlich voll da.“ Sein Arzt stellt außerdem fest, er leide an „schwerster mentaler Erschöpfung“.

Am 8. Juni kehrt die Band nach Los Angeles zurück. Furnier kauft sich ein Haus (sein neuer Nachbar ist der Republikaner-Politiker Barry Goldwater), aber die erhoffte Erholung bleibt aus. Statt dessen: neue Schlagzeilen. Der britische Parlamentsabgeordnete Leo Abse möchte Alice Cooper gesetzlich verbieten lassen, britischen Boden zu betreten – vielleicht kam die Anregung vom Glam-Rivalen Marc Bolan, der auf dem neuen T.Rex-Album „Tanx“ süffisant singt: „If you know how to rock, you don’t have to shock.“ Jedenfalls ein willkommener Schuß Publicity, denn Pläne für eine UK-Tour gibt es sowieso nicht.

Während Gitarrist Michael Bruce den Juli über an einem Soloalbum arbeitet, macht sein Sänger die gewohnte Partyrunde, betrinkt sich in New York mit Roman Polanski und Van Morrison und läßt den Abend im Max’s Kansas City ausklingen, wo die Clique der New York Dolls inzwischen Lou Reeds Gefolgschaft den Skandalrang abgelaufen hat. Mitte August schüttelt Vincent dem kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan bei einer Benefizgala in der Hollywood Bowl die Hand, entdeckt in Hawaii seine Liebe zum Golfspiel. Im September trifft sich die Band sporadisch in Los Angeles, um ein bißchen was aufzunehmen.

Das Chaos regiert: Dennis Dunaway ist zeitweise unauffindbar (weil er sich in Phoenix ein neues Haus gekauft hat), Glen Buxton suffbedingt so von der Rolle, daß er sogar aus dem Tourfilm größtenteils rausgeschnitten werden muß. Bruce indes läßt sich in seinem neuen Haus in Greenwich mit vier Pfund Marijuana verhaften, und Vincent fliegt am 17. Oktober allein nach Japan, um die Reklametrommel zu schlagen. Fünftausend japanische Fans begrüßen ihn am Flughafen von Tokyo mit einer drei Meter langen Boa constrictor, zerfetzen ihm Haare und Klamotten, dann findet im Akasaka Prince Hotel die größte Pressekonferenz der Popgeschichte statt, auf der Alice das weltweit simultane Erscheinen des neuen Albums „Muscle Of Love“ ankündigt, das in dem ganzen Durcheinander irgendwie fast fertig geworden ist. Nebenbei bietet er den Song „Man With The Golden Gun“ den Produzenten des kommenden James-Bond-Films an, aber die lehnen ab, weil ihnen das Image des Pop-Outlaws zu zweifelhaft erscheint.

Ende Oktober enden die sporadischen Arbeiten an „Muscle Of Love“ – an verschiedenen Orten: Während Michael Bruce im Sunset-Sound-Studio in Hollywood seine Riffs für „Never Been Sold Before“ einspielt, steht Vincent (in Hawaiihemd und weißer Fetzenshorts) in Manhattan gemeinsam mit Liza Minelli und Ronnie Spector vor den Mikrophonen des Record Plant. Kaum zwei Wochen später, am 15. November, erscheint die Platte. Das Innencover zeigt die Band in einem Photocomic als Matrosen vor einem „Institute of Nude Wrestling“ – den Behörden des Apartheidregimes in Südafrika geht das zu weit: Bei der Ankunft am Flughafen werden die Platten einem „Striptease“ unterzogen und in neutrale Hüllen umgepackt.

Und Anfang Dezember rollt der Cooper-Circus (mit den Newcomern ZZ Top als Support-Act) schon wieder los – das Motto: „Billion Dollar Babies Holiday Tour“. Vincent ist deutlich gezeichnet von rauschenden Parties, auf denen er unter anderem mit Lemmy Kilminster von Hawkwind und einem seiner Idole, dem Schriftsteller Kurt Vonnegut, Freundschaft geschlossen hat. Beim dritten Auftritt in Madison am 11. Dezember leidet er unter Magenkoliken, einer schweren Grippe und hohem Fieber; immer wieder müssen andere Bandmitglieder als Sänger einspringen. In Toledo endet die Show am 13. Dezember nach zehn Minuten: Nachdem zunächst wie üblich Eier, Gemüse, Kleidung und alle möglichen Gegenstände auf die Bühne geflogen sind, detoniert erneut eine auffrisierte M-80-Bombe und reißt Teile der Lichtanlage von der Decke, die Michael Bruce im Gesicht treffen. „Vincent hatte das Gefühl, wenn sie weitergespielt hätten, wäre ein zweites Altamont draus geworden“, verkündet Pressesprecher Ashley Pandel. Sieben Wagenladungen Polizisten stürmen die ausverkaufte Halle und geleiten achttausend Fans einigermaßen friedlich nach draußen.

Später wird es heißen, die Ausschreitungen seien nicht schlimmer als sonst und die Band bloß müde und erschöpft gewesen. Aber die Cooper-Truppe steht wegen ihrer angeblich gewaltfördernden Show immer stärker unter Beschuß. Nach der Toledo-Show verkünden die lokalen Autoritäten, es sei „der Handvoll übler Typen“ bloß darum gegangen, „mit der Gewalt auf der Bühne Schritt zu halten“. Pandels Widerspruch, Alice Cooper wolle „die Spannungen in den Leuten lösen“, die nach der Show „bestimmt nichts mit Gewalt am Hut haben, weil sie das alles schon erlebt haben“, hilft wenig, denn gleichzeitig untersucht die Polizei den Tod eines dreizehnjährigen Jungen nach einer angeblichen „Alice-Cooper-Hanging-Party“.

Die Probleme reißen nicht ab: In Toronto ist das Equipment verschwunden; die Band besorgt sich zwar notdürftigen Ersatz, aber James Randi, der den „Henker“ spielt, muß Vincent mangels Guillotine drei Abende lang mit einem Schwert „enthaupten“. Auftritte in Tampa Bay und Binghampton fallen aus, weil die Stadtherren keine Horrorshow erlauben. Nach zwei weiteren Gigs und einem kurzen Abstecher nach Brasilien (als erste ausländische Rockband überhaupt), wo in Sao Paolo vor fast 150.000 Zuschauern die größte Indoor-Show aller Zeiten stattfindet, endet die Tour. Es ist aber keine Rede mehr von „einem Jahr Pause“, denn zwar verkauft sich „Muscle Of Love“ mangels Schockfaktor schlechter als die Vorgängerplatte, aber die fünf Coopers sind im Laufe des turbulenten Jahres 1973 nicht nur reich geworden, sondern auch sagenhaft prominent.

Den neuen sozialen Status genießt vor allem der Frontmann ausgiebig – er besucht mit Linda Blair die Londoner Premiere des „Exorzisten“, bereist Mexiko, spielt in einer Fernsehserie, kauft sich ein weiteres neues Haus in Los Angeles, feiert mit Elvis Presley, läßt sich in London (zum Kinostart des Tourneefilms) von Tessa Kennedy eine Party schmeißen (unter aanderem mit Joan Collins, Ryan und Tatum O’Neal), besäuft sich mit Bernie Taupin im „Speakeasy“, jubelt in Amsterdam der Mannschaft von Ajax zu, jettet nach Helsinki (wo der Flughafenbetrieb zusammenbricht, weil fünftausend Fans ihr Idol begrüßen), sitzt mit Aristoteles Onassis in einem Pariser Nachtclub, spricht mit sowjetischen Diplomaten über eine Show in Moskau (ohne Erfolg), spielt Golf mit Roger Moore, Pat Boone, Perry Como, Bobby Goldsboro und dem Tenessee-Gouverneur Winfield Dunn, verlustiert sich in Hawaii und auf den Bahamas, taumelt in Toronto mit Lou Reed auf die Bühne, um den Chorus von „Walk On The Wild Side“ zu nuscheln, läßt sich in Nashville zum Ehren-Sheriff von Davidson County ernennen, erhält einen offiziellen Paß mit dem Namenseintrag „Alice Cooper“, plaudert in der „Mike Douglas Show“ mit Peter Falk und arbeitet nebenbei auch noch an einem Soloalbum mit dem vielsagenden Titel „Welcome To My Nightmare“.

Als es im Februar 1975 erscheint, ist die ehemalige Alice Cooper Band in alle Winde zerstreut und die fröhliche Zeit naiver Rock-’n’-Roll-Vergnügungen für immer vorbei. Die Schminke bröckelt, und der Alice Cooper, der nun in der Öffentlichkeit zu erleben ist, ist ein anderer geworden. Er leidet an Anämie und Asthma, bricht auf der Bühne zusammen, wird von seiner langjährigen Freundin Cindy Lang verlassen und sucht endlich im Herbst 1977 das erste Mal Hilfe in einer Entzugsklinik. Aber erst diverse Trockenlegungsversuche und sieben immer schlechter verkaufte Alben später ist Vincent Damon Furnier da, wo jeder Abstieg irgendwann endet: ganz unten – als er im September 1983 in eine Klinik eingeliefert wird, diagnostizieren die Ärzte totale körperliche Zerrüttung, lebensbedrohliche Unterernährung und Leberzirrhose. Es wird das entgleiste Genie noch viele Jahre kosten, die Folgen der Exzesse des Jahres 1973 zu überwinden und an damalige künstlerische wie kommerzielle Erfolge anzuknüpfen – aber das ist eine andere Geschichte.

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