Kempten: Wolfgang Benz spricht über Wandel der Erinnerungskultur
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Bewegter Donnerstag: Prof. Wolfgang Benz spricht über den Wandel der Erinnerungskultur

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Prof. Wolfgang Benz
Konkrete Fragen zu stellen, ist die Grundlage für eine lebendige Erinnerungskultur, betonte Professor Wolfgang Benz im Publikumsgespräch nach seinem Vortrag. © Lajos Fischer

Beim Bewegten Donnerstag in Kempten hielt der renommierte Zeithistoriker und Antisemitismusforscher Prof. Wolfgang Benz einen Vortrag zur deutschen Erinnerungskultur im Wandel der Zeit.

Kempten – Dem Kulturamt, dem Kempten-Museum und dem Heimatverein Kempten ist es dank der Vermittlung von Laura Cadio gelungen, den renommierten Zeithistoriker und Antisemitismusforscher Prof. Wolfgang Benz zu einem Vortrag über die Einschätzung des 8. Mai 1945 in der deutschen Erinnerungskultur nach Kempten zu holen. Die Fragen lauteten: Haben die Deutschen diese historische Zäsur als Befreiung oder als Niederlage erlebt? Wie hat sich die Beurteilung im Laufe der letzten acht Jahrzehnte verändert?

Für die Zeitgenossen ging eine gesellschaftliche Ordnung zu Ende, an die sie sich gewöhnt hatten, erläuterte Benz. Sie erlebten das Ende des Zweiten Weltkrieges als Katastrophenjahr, als Not- und Trümmerzeit, die durch Obdachlosigkeit, Kälte, Ohnmacht und alltägliche Demütigungen geprägt war. Befehlen zu folgen waren sie gewohnt, aber als diese von Amerikanern und Franzosen kamen, empfanden sie sie als kränkend. Die Deutschen waren erschöpft und enttäuscht, Scham und Entsetzen dominierten ihre Gefühlswelt. Viele verloren ihre Heimat und ihren Besitz, sie trauerten um ihre Angehörige oder litten unter der Ungewissheit über deren Schicksal.

Die militärische und politische Niederlage war eine Tatsache, betonte der Historiker. Die Franzosen und Engländer präsentierten sich als Kolonialherren, als unermesslich reiche, unerbittliche Sieger. Die Rote Armee übte Rache, es wurde geplündert, gemordet, geschändet. Die Fremdherrschaft erlebten die Deutschen als Willkür und Erziehungsdiktatur.

Lebenslüge und Verweigerung

Der Anblick der Leichenberge in den Konzentrationslagern löste eine stumme Verweigerung aus. Vom Holocaust haben die Deutschen „nur heimlich“ gewusst, so Benz. „Am Ende des Nationalsozialismus gab es keine Nazis“, fügte er ironisch hinzu. Die Verantwortung wurde auf die Täter geschoben, die Kollektivschuldthese vehement zurückgewiesen. Nichts gewusst zu haben, war die Lebenslüge von mindestens einer Generation, sagte der Professor.

Jüngere Deutsche sind immer fassungslos, wenn er erzählt, dass der Mord an sechs Millionen Juden 1945 in Deutschland kein Thema war. Die von der Wehrmacht und der SS verursachten Leiden – dazu gehörten auch drei Millionen ermordete sowjetische Kriegsgefangene – bewegten die Deutschen wenig. „Die eigenen schon“, so Benz. In der Adenauer-Ära galt das öffentliche Interesse den in sibirischen Lagern gefangen gehaltenen deutschen Soldaten. In einer Bundestagsrede sprach der damalige Kanzler darüber, dass die Russen sie mit „kalter Herzlosigkeit“ behandelten. Auch Adenauer stellte dieses Unrecht über die Verbrechen der Nationalsozialisten. Es ging aber in diesen Lagern nicht um das Vernichten von Menschen, sondern um den Wiederaufbau der Sowjetunion, merkte der Zeithistoriker an.

Auch nach der Befreiung nicht willkommen

Während die meisten Deutschen den Zusammenbruch des Nazi-Reiches als Niederlage und Unglück erlebten, gab es auch einige Menschen, bei denen der 8. Mai Glücksgefühle auslöste, wovon deren Briefe, Tagebücher und Erinnerungen Zeugnis ablegen: Ruth Andreas-Friedrich von der Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ beschrieb den Tag als „Fest“, die 24-jährige Hildegard Hamm-Brücher feierte und sprach über die „Hoffnung auf eine bessere Zukunft“. Befreit gefühlt haben sich auch die Gefangenen in den KZs. Viele der Juden landeten jedoch als Displaced Persons wieder in Lagern. Und sie spürten den alten Hass der Bevölkerung weiter, wie Benz betonte. Schlecht behandelt wurden auch Schlesier und Sudetendeutsche, die in ihrer neuen Heimat nicht willkommen waren, deren Integration die Besatzer aber erzwungen haben.

Da in der US-Zone die Einführung der Spruchkammern in einem „Befreiungsgesetz“ geregelt wurde, assoziierten die Zeitgenossen mit dem Wort die unpopulären Maßnahmen der Entnazifizierung. Dieser in der Potsdamer Konferenz beschlossene Weg war den Leuten auch wegen seiner uneinheitlichen Durchführung und der damit verbundenen Bürokratie suspekt. „Hauptschuldige“ wurden im zweiten Durchgang oft in „Mitläufer“ und „Mitläufer“ in „Entlastete“ umgestuft. Die Nürnberger Prozesse empfanden die meisten Deutschen als Siegerjustiz.

Historische Aufarbeitung ohne Anerkennung

Gespeist durch das Wirtschaftswunder und den Kalten Krieg löste ein neues Gefühl der Überlegenheit das des Nachkriegselends ab. Die gegen den Willen der Deutschen durchgesetzte Währungsreform wurde nach deren Erfolg schnell zum Ergebnis deutscher Tüchtigkeit uminterpretiert, beschrieb Benz die weitere Entwicklung. Den kritischen Umgang mit dem Nationalsozialismus delegierte man an das 1949 gegründete Deutsche Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit (heute Institut für Zeitgeschichte/IfZ). Die Historiker, die dort arbeiteten, galten lange als „Schmuddelkinder der Historikerzunft“, erinnerte sich Benz, der ab 1969 selbst im IfZ tätig war.

Es bedurfte einer vierteiligen in Hollywood produzierten Fernsehserie, die 1978/79 unter dem Titel „Holocaust“ ausgestrahlt wurde, dass die Deutschen sich betroffen fühlten, erklärte Benz. Gegenüber der weit verbreiteten Täter-Opfer-Umkehr („es muss doch etwas daran sein“) stellte der Vorurteilsforscher klar: Es ist immer die Mehrheit, die Minderheiten Eigenschaften zuschreibt.

Weizsäckers Rede als „Wegmarke“

Der Weg der Deutschen, den 8. Mai nicht mehr als Niederlage, sondern als Befreiung wahrzunehmen, war lang, schilderte der Zeithistoriker. Richard von Weizsäckers Rede im Deutschen Bundestag 1985 bewertet Benz als eine „Wegmarke“, aber „noch lange nicht als Durchbruch“. Der Bundespräsident ging auf das vielfache persönliche Leid der Menschen ein, stellte aber gleichzeitig klar, dass die Ursachen dafür im Jahr 1933 und nicht 1945 zu finden sind, um festzustellen: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Gleichzeitig erinnerte der Professor daran, dass den Begriff bereits 1949 der frühere Bundespräsident Theodor Heuss verwendete, als er davon sprach, dass die Deutschen am 8. Mai „erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“

Drei Tage vor der Weizsäcker-Rede löste der Besuch von Helmut Kohl und Ronald Rea­gan auf dem Soldatenfriedhof Bitburg eine Kontroverse aus. Nach Benz‘ Interpretation hat Kohl versucht, die „Stunde Null“ zu beschwören. „Diesen Begriff haben gewiss nicht Historiker erfunden“, sagte Benz. Nach dessen Logik bräuchte man keine Erinnerung. Auch Franz Josef Strauß „polterte“ regelmäßig gegen die „ewige Vergangenheitsbewältigung“. Der damalige bayerische Ministerpräsident meinte, die Deutschen hätten durch ihre Aufbauleistung ein Recht darauf, aus Hitlers Schatten zu treten. „Eine deutliche Verdrängungsleistung“, lautete das Urteil des Professors.

Derzeitige Erinnerungskultur erschöpft sich in Ritualen

Die Sprachlosigkeit der ersten Generation ist überwunden, stellte der Zeithistoriker fest. „Schwamm darüber“ war die allgemeine Haltung damals, unabhängig davon, wie man zum NS-Regime stand. Heute ist die Erinnerungskultur öffentlich sichtbar. Was ihm zurzeit eher Angst macht, ist, dass in Deutschland, das „Weltmeister im Erinnern“ geworden ist, die Erinnerungskultur zum Selbstläufer wird und sich in Ritualen erschöpft.

„Glaubst du, dass die Deutschen auch dann Demokraten bleiben, wenn es eine Million Arbeitslose gibt?“, fragte ihn ein amerikanischer Freund vor 30 Jahren. Seine Antwort damals war ein klares Ja: „Wir haben die Demokratie kapiert.“ Heute ist ihm jedoch angesichts der Erfolge der AfD, die diese mit der alten Blut-und Boden-Ideologie und mit „völkischem Tralla“ erzielt, „bange zumute“. Parolen, die zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mit 55 Millionen Toten führten, werden zurzeit als neue Ideen präsentiert. „Einmalige Proteste reichen nicht. Was hilft, ist die stetige, alltägliche Aufklärung als demokratisches Prinzip. Vernunft muss jeden Tag durchgesetzt werden. Dazu ist die Erinnerungskultur gut“, sagte der Antisemitismus-Experte. Seit den 1970er-Jahren fragen ihn vor allem ausländische Journalisten immer wieder, ob Hitler wieder vor den Toren stehen würde. Seine Antwort lautet: „Nein, Hitler war möglich, weil es damals zu wenig Demokraten gab und die Presse beziehungsweise die öffentliche Meinung auch eine antidemokratische Einstellung hatte. Das trifft heute nicht zu.“

Erinnerungskultur bleibt automatisch lebendig, wenn sie konkret ist und Orte und Akteure einbezieht, sagte Benz in der anschließenden Diskussion. Erinnerungskultur beginnt damit, dass junge Menschen, auch im ländlichen Raum, sich trauen, die Alten zu fragen. „Dieses Recht kann niemand den Jungen nehmen.“ Nicht die Sonntagsreden der Politiker sind wichtig, sondern die Frage: „Was ist geschehen?“ Und der Wille, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

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