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Für kritische Kommentare und Anregungen danke ich Frank Sauer.

1 Einleitung

Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, eine Auseinandersetzung mit realistischen Theorien der Internationalen Beziehungen (IB) zu liefern. Dabei geht er von der Annahme aus, dass es den Realismus als monolithischen Theorieblock der IB nicht gibt, sondern dass es eine akademische Gemeinschaft von Realisten gibt, die einige grundlegende metatheoretische und theoretische Annahmen teilen, darüber hinaus aber diverse realistische Theorien entwickelt haben, die sich teils ergänzen, zum Teil aber auch widersprechen bzw. um Erklärungsmacht konkurrieren. Um dies darzustellen, geht der Beitrag wie folgt vor: Zunächst einmal werde ich darstellen, worin der Kern aller realistischen Theorien der IB besteht. Danach werde ich auf den klassischen Realismus eingehen (wobei der Schwerpunkt hier auf Hans J. Morgenthau gelegt werden wird). Der zweite, herausragende Vertreter der realistischen Kongregation, auf den hier näher eingegangen werden soll, ist Kenneth N. Waltz. Denn sein 1979 erschienenes Hauptwerk „Theory of International Politics“ hat die Entwicklung der akademischen Teildisziplin Internationale Beziehungen nicht nur revolutioniert, sondern beeinflusst bis heute theoretische Debatten in den IB. Ausgehend von der Darstellung seiner Theorie stellt der vorliegende Beitrag dann diverse auf Waltz aufbauende Spielarten realistischer Theorien dar, wozu der defensive und offensive, aber auch der neoklassische Realismus gehören. An diese Darstellung schließt sich die neuerdings geführte Debatte um die versteckte normative Dimension in realistischen Theorien an, die darlegen soll, dass a) realistische Theorien nicht so wertfrei sind, wie ihre Vertreter immer wieder behaupten und b) dass die normative Dimension realistischer Theorien das öffentliche Engagement realistisch arbeitender Wissenschaftler beeinflusst und dieses erklären kann. Der Beitrag schließt mit einer Reflexion über die zukünftigen intellektuellen Herausforderungen, denen sich realistisch arbeitende Wissenschaftler stellen sollten.

2 Was hält die realistische Familie zusammen?

Wenn man die einleitend präsentierte These akzeptiert, wonach es keine monolithische Theorie des Realismus in den Internationalen Beziehungen, sondern vielmehr realistische Theorien der IB gibt, dann stellt sich denklogisch die Frage, was diese verschiedenen Theorien zusammenhält, sodass sie alle unter dem Oberbegriff „realistische“ Theorien subsumiert werden können. William Wohlforth (2010, S. 9–10) hat hierzu einen Annahmenkanon vorgeschlagen, der im Folgenden zugrunde gelegt werden soll. Demnach einen alle realistisch arbeitenden Wissenschaftler drei zentrale Annahmen zum Charakter der internationalen Politik. Diese ist gekennzeichnet durch:

  1. (a)

    Gruppen. Politik findet in und zwischen Gruppen (sozialer Art) statt. Gruppensolidarität ist zentral für innenpolitische Prozesse und Konflikte sowie Kooperation zwischen Gruppen. Sie ist der Kern internationaler Politik.

  2. (b)

    Egoismus. In ihrem Handeln sind Individuen und Gruppen im Wesentlichen durch ihre eigenen Interessen getrieben.

  3. (c)

    Machtzentrismus. Der Schlüssel zum Verständnis von Politik (sei es Innen-, Außen- oder internationale Politik) ist die Interaktion von sozialer und materieller Macht. Diese Interaktion findet beständig vor dem Hintergrund eines möglichen Gebrauchs materieller Macht zum Zwecke des Zwangs statt.

Kenner realistischer Theorien werden hier feststellen, dass Annahmen über die Struktur des internationalen Systems nicht zum gemeinsamen Kanon realistischer Theorien gehören. Dies hat insofern seine Berechtigung (wie auch der vorliegende Beitrag zeigen wird), dass strukturell arbeitende Realisten nur einen Teil der realistischen Familie ausmachen, auch wenn dieser Teil in den 80er- und 90er-Jahren einen prominenten Stellenwert innerhalb der realistischen Theorien eingenommen hat.

Die drei – in gebotener Kürze – dargestellten Annahmen machen den Kern aller realistischen Theorien aus und sie lassen sich bereits beim Urvater dieser Theorien, Hans J. Morgenthau, identifizieren, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden wird.

3 Der klassische Realismus

Der RealismusFootnote 1 entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Gegenbewegung zu der prominenten Stellung des Kantschen Liberalismus in Politik und Wissenschaft sowie zu dem aufkommenden Marxismus und Wilsonismus in seiner idealistischen Prägung. Der politische Realismus, der keine einheitliche Theorie darstellt, ist mit einer ganzen Reihe von Namen wie Reinhold Niebuhr, Edward H. Carr, Herbert Butterfield, Robert E. Osgood, Arnold Wolfers, George Kennan und Henry Kissinger verbunden. Sein wohl prominentester Vertreter war jedoch Hans J. Morgenthau,Footnote 2 der einst von Reinhold Niebuhr als „the most brilliant and authoritative political realist“ (Niebuhr zitiert bei Thompson 1960, S. 32–33) bezeichnet wurde. Noch in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts zählte sein Hauptwerk „Politics among Nations“ zu den am häufigsten zitierten (und kritisierten) Texten in der Theorie der Internationalen Beziehungen. Er war der wohl akademisch „einflussreichste Realist des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Pangle und Ahrensdorf 1999, S. 218, Fukuyama 1992, S. 246, Smith 1986, S. 2). Die prominente Stellung Morgenthaus erklärt, weswegen sich dieses Kapitel auf eine Darstellung seines Denkens konzentriert.

Morgenthau entwickelte seinen Realismus als Gegenkonzeption zum Idealismus, oder wie er ihn nannte „Utopismus“, „Sentimentalismus“, „Perfektionismus“ bzw. „Moralismus“, der die internationale Politik und die akademische Disziplin IB zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominierte. Sein Buch „Scientific Man vs. Power Politics“ (1946), das die Grundlagen für den Realismus legt, ist eine „umfassende Polemik“ (Michael Smith 1986, S. 134) gegen das, was Morgenthau als dogmatischen SzientismusFootnote 3 bezeichnete, der seiner Auffassung nach eine falsche Philosophie auf der Grundlage des modernen Rationalismus sowie des Liberalismus sei. Allen Spielarten des Idealismus ist nach Morgenthau die optimistische Annahme gemein, dass durch Erziehung, „Moral, Gesetze“ (Lebow 2003, S. 238) und staatliche Reformen Krieg als Mittel der Politik zwischen Staaten verbannt werden könnte und an seine Stelle ein permanenter und gerechter Frieden zwischen die Nationen trete. Uneinigkeit besteht lediglich hinsichtlich der Frage nach den konkreten Voraussetzungen zur Erlangung dieses Zustandes. Während der Liberalismus Wilsonscher Prägung, in Rekurs auf Kant,Footnote 4 in der Ausbreitung demokratischer oder republikanischer Regierungen die Voraussetzung zur Schaffung eines globalen Friedens sah, war die Ausbreitung sozialistischer/kommunistischer Staatsformen für die Vertreter und Propagandisten des Marxismus die Voraussetzung für den „ewigen Frieden“ zwischen den Staaten.

Obgleich Morgenthau seinen Realismus als Gegenstück zum Idealismus konzipierte, teilte er mit dem Idealismus dennoch das zentrale Erkenntnisinteresse: Wie kann Krieg zwischen Staaten verhindert werden, zumal im Zeitalter der Existenz von Nuklearwaffen Krieg „no longer, as it once was, a rational instrument of foreign policy“, sondern „an instrument of universal destruction“ geworden sei (Morgenthau 1962, S. 192). Die Bewahrung des Friedens zwischen Staaten sei angesichts der Perspektive der totalen Vernichtung das Primärinteresse der Staaten und zugleich der Ausgangspunkt für Morgenthaus Überlegungen. Pangel und Ahrensdorf machen in ihrer Teilstudie über Morgenthau zu Recht darauf aufmerksam, dass Morgenthau sein Hauptwerk mit dem Untertitel „The Struggle for Power and Peace“ versehen hat (1999, S. 219) und somit eine an Kant angelehnte Fragestellung zum Ausgangspunkt seiner eigenen Analysen macht. Obwohl er somit das Hauptanliegen des Idealismus teilt, grenzt sich Morgenthau scharf von diesem ab, da er in ihm – wenn er politisch wirksam wird – die Gefahr sieht, die Welt erst recht in einen totalen Krieg und in die totale Vernichtung zu führen. Denn die sowohl dem Liberalismus als auch dem Marxismus zugrunde liegende Annahme ist die der universellen Geltung moralischer Prinzipien. Diese Hoffnung sei jedoch falsch, argumentiert Morgenthau:

„We judge and act as though we were at the center of the universe, as though what we see everybody must see, and as though what we want is legitimate in the eyes of justice“ (Morgenthau 1970, S. 64–65).

Moralische Grundsätze sind für Morgenthau nicht universell, sondern in der Kultur von einzelnen Nationen begründet. Der Anspruch universeller Gültigkeit von partikularen Norm- und Moralvorstellungen ist somit für Morgenthau „nationalistischer Universalismus“,Footnote 5 denn er versucht, partikulare Prinzipien anderen Staaten aufzudrängen. Der Versuch, partikularen Werten universelle Gültigkeit zu verschaffen, würde somit – aus Morgenthaus Sicht – zu einem Kreuzzug führen, bei dem Krieg als ein Mittel zur Universalisierung partikularer Werte unumgänglich sei, sollten sich Staaten der Übernahme bzw. Internalisierung dieser Werte verweigern (Masala 2005). Für Idealisten und Marxisten ist Krieg ein Mittel zur Schaffung eines Weltsystems. Kriege, die zur Durchsetzung moralischer Standards geführt werden, sind für Morgenthau totale Kriege, weil sie für totale und nicht verhandelbare Ziele geführt werden.Footnote 6 Die idealistische Kreuzzugmentalität kann im Nuklearzeitalter jedoch zur Zerstörung der gesamten Menschheit und aller Zivilisationen führen.

Angesichts dieser Perspektive fordert Morgenthau die Abkehr vom blinden und aus seiner Sicht gefährlichen Idealismus. Der Kreuzzugmentalität von Liberalen und Marxisten setzt Morgenthau den Anspruch entgegen, eine politische Philosophie zu verfassen, die die grundlegenden Antriebskräfte der Politik offenlegt und Staatsmännern dabei hilft, ihre politischen Entscheidungen zu treffen. Aus dieser Perspektive lässt sich der Realismus von Morgenthau treffend als „Gegenbewegung zu einer politischen Daseinsinterpretation“ charakterisieren, „welche die Geschichte als fortschreitenden Prozess eines erlösungsbringenden Vorganges begriff. Eines Prozesses, in dessen Verlauf sich der Mensch unweigerlich auf dem Weg aus einer Befreiung aus seinen eigenen Beschränkungen befände“ (Jacobs 2010, S. 41).

Aus der Sicht Morgenthaus liegt den liberalen und marxistischen Hoffnungen ein falsches, weil illusionäres Menschenbild zugrunde, das die Ursache für die fundamentalen Fehler aller idealistischen Konzeptionen darstellt. Ein realistisches Menschenbild ist für Morgenthau als Basis für die Beschäftigung mit politischen Fragen unverzichtbar (Siedschlag 1997, S. 50). „Political Realism believes that politics, like society in general, is governed by objective laws that have their roots in human nature […]“ (Morgenthau 1963, S. 3–4). Die menschliche Natur, so Morgenthau, ist unveränderlich und jede Theorie, die sich die Aufgabe stellt, die Welt zu verbessern, müsse die unveränderliche Natur des Menschen als Ausgangspunkt akzeptieren (Jervis 2011, S. 33–37). Was ist aber nun genau die unveränderliche Natur des Menschen? Ausgehend von einem an Augustinus angelehnten Verständnis des Menschen (vgl. Loriaux 1992)Footnote 7 lautet die erste Annahme Morgenthaus, dass Menschen egoistisch sind. Was immer Menschen auch tun, ihr Handeln und die Intentionen, die zu ihrem Handeln führen, entspringen aus ihnen selbst, dienen in erster Linie ihnen selbst und sind auf sie selbst zurückzuführen. Egoismus ist für Morgenthau somit die Basis und eine unveränderliche Konstante des menschlichen Seins.

Der zweite Aspekt, der nach Morgenthau für die menschliche Natur kennzeichnend ist, ist die „lust for power“; der Hunger nach Macht, die jede Theorie der IB betonen müsse. Dieser Hunger speist sich aus zwei Quellen. Die erste ist die Hobbessche Logik des Wettbewerbs zwischen Menschen (Smith 1986, S. 136). Die zweite ist der universelle animus dominandi „and in it can be found the causes of all social strife“ (Tellis 1995, S. 41). Die Ursache von Konflikt liegt bei Morgenthau in der egoistischen Natur des Menschen.

Die egoistische Natur des Menschen ist es, die zum Krieg des Menschen gegen den Menschen führt:

„For while man’s vital needs are capable of satisfaction, his lust for power would be satisfied only if the last man became an object of his domination, there being nobody above or besides him, that is, if he became like god“ (Morgenthau 1946, S. 193).

Dieser unersättliche Hunger nach Macht ist ein universelles und kontinuierliches Charakteristikum der menschlichen Natur und erklärt, warum es immer wieder zu Krieg kommt. Der Machttrieb stellt die Essenz der Politik dar, ist der Kern des Politischen (Morgenthau 1933 [2012]). Politik ist demnach für Morgenthau „a struggle for power over men, and whatever its ultimate aim may be, power is its immediate goal.“ Und internationale Politik ist demzufolge „like all politics, […] an unending struggle for power“ und konsequenterweise ist „political ethics […] indeed the ethics of doing evil“ (beide Zitate Morgenthau 1946, S. 201–204). „The evil that corrupts political action is the same evil that corrupts all action, but the corruption of political action is indeed the paradigm and prototype of all possible corruption“ (Morgenthau 1946, S. 195). Daraus resultiert bei Morgenthau die Auffassung, dass „the main signpost that helps political realism to find its way through the landscape of international politics is the concept of interest defined in terms of power“ (Morgenthau 1960, S. 5).

Den Sprung von der individuellen Ebene zur internationalen Politik vollzieht Morgenthau mittels einer Analogie. In der modernen Gesellschaft kann das Individuum seinen Machttrieb nicht mehr hinreichend befriedigen und sucht deshalb Kompensation dadurch, dass es sich mit Kollektiven identifiziert, auf die es seinen Machttrieb überträgt. In der internationalen Politik ist dieses Kollektiv die Nation. Dabei ist die Nation für Morgenthau kein empirischer Gegenstand.

„Sprechen wir […] empirisch von der Macht oder der Außenpolitik einer bestimmten Nation, ist darunter nur die Macht oder die Außenpolitik bestimmter Individuen, die einer Nation angehören, zu verstehen“ (Morgenthau 1963, S. 125).

Für Morgenthau sind Nation und Staat abstrakte Begriffe, die empirisch nur erfasst werden können, wenn man das macht- und außenpolitische Handeln ihrer Führer analysiert. Personen werden somit zu Repräsentanten des Staates und der Staat zu einer „Quasipersönlichkeit“ (Link 1965, S. 20; Byman und Pollack 2001).

Die Verschiebung des individuellen Hungers nach Macht auf das Kollektiv „Nation“ erfolgt bei Morgenthau, weil dem Hunger nach Macht in den internationalen Beziehungen besonders exzessiv nachgegangen werden kann, da „nationaler Machtbefriedigung im anarchischen internationalen System keine strukturellen Grenzen gesetzt“ (Siedschlag 1997, S. 53) sind. Für Morgenthau gibt es deshalb drei Idealtypen von Politik: Machterhaltung, Machtsteigerung und Machtdemonstration. Der Hauptinhalt aller Politik ist Macht und „the struggle for power is universal in time and space and is an undeniable fact of experience“ (Morgenthau 1963, S. 16–17).

Nachdem er verschiedene Formen nationalstaatlicher Machtpolitik diskutiert und bewertet hat, wendet sich Morgenthau der Frage nach der Begrenzung exzessiver Machtpolitik zu. Dies geschieht mittels Induktion. Morgenthau identifiziert drei Arten der Begrenzung: die Balance of Power, internationale Moral und internationales Recht (Morgenthau 1963, S. 161–296). Die Balance of Power bezeichnet Morgenthau als wichtigste Form der Eingrenzung zügelloser Macht.

„[T]he aspiration for power on the part of several nations, each trying either to maintain or overthrow the status quo, leads of necessity to a configuration […] called the Balance of Power and to politicians aimed at preserving it“ (Morgenthau 1970, S. 258).

Bezogen auf die Analyse der europäischen Balance of Power identifiziert er sechs Bedingungen, die zur Herstellung eines Gleichgewichts und seiner Aufrechterhaltung beitragen. Diese sind (Morgenthau 1948, S. 167–195):

  • Die Existenz einer großen Anzahl unabhängiger Staaten;

  • die gemeinsame europäische Kultur;

  • die geografische Begrenzung des internationalen Systems;

  • die Abwesenheit von Massenvernichtungswaffen;

  • die Freiheit der Politiker, Politik zu gestalten;

  • die Existenz eines externen Balanciers.

Balance of Power ist für Morgenthau der „chief mechanism“ (Smith 1986, S. 144), und gute Diplomatie zeichnet sich demzufolge dadurch aus, dass sie in der Lage ist, die Balance of Power zu managen, sie aufrechtzuerhalten oder sie herzustellen. Dabei ist es jedoch wichtig zu betonen, dass sich die Balance of Power bei Morgenthau sowohl als Folge unintendierter Effekte von Großmächtepolitik als auch als das Ergebnis bewusst betriebener Politik einstellen kann (Little 2007, S. 137–140).

In seinem machtzentrierten Ansatz ist die Herstellung und Aufrechterhaltung einer Balance of Power für Morgenthau nicht nur unvermeidlich, sondern auch der stabilisierende Faktor in einer Gesellschaft souveräner Staaten. Nur Gegenmacht kann Macht einschränken, so könnte man Morgenthaus Überlegungen auf den Punkt bringen. Völkerrecht, Moral, internationale Organisationen und Abrüstung sind für Morgenthau keine realen Alternativen, um den Hunger nach Macht, der kennzeichnend für die zwischenstaatlichen Beziehungen ist, einzuhegen. Anknüpfend an Hobbes argumentiert Morgenthau, dass es außerhalb von staatlich verfassten Gesellschaften keine bindende Moral oder bindendes Recht gebe. Zwischenstaatliche Politik vollzieht sich somit zwar nicht in Abwesenheit moralischer oder völkerrechtlicher Grundsätze, sondern in Abwesenheit ihrer einschränkenden Wirkung auf staatliches Handeln. Souveräne Staaten werden in ihrem Handeln durch ihre nationalen Interessen (resp. was sie dafür halten)Footnote 8 angetrieben, „rather than by the allegiance to a common good which, as a common standard of justice, does not exist in the society of nations“ (Morgenthau 1948, S. 460). Unter diesen Bedingungen ist eine Außenpolitik, die auf die Herstellung und Aufrechterhaltung der Balance of Power abzielt, eher in der Lage, Stabilität und eine Einhegung des Hungers nach Macht zu garantieren, als dies internationales Recht oder internationale Moral wären.

Mit Blick auf die Veränderungen in der internationalen Politik nach 1945Footnote 9 äußert Morgenthau jedoch Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit der Aufrechterhaltung einer globalen Balance of Power, da er die meisten der sechs Bedingungen, die seiner Ansicht nach in der Vergangenheit für Gleichgewicht und damit auch für Frieden in Europa sorgten, nicht mehr vorhanden sind. Damit negiert er jedoch nicht, dass auch nach 1945 Balance of Power eine Möglichkeit bietet, Stabilität in der internationalen Politik zu gewährleisten. Auch die „Zwei-Blöcke“-Balance of Power, wie Morgenthau die Nachkriegssituation zu nennen pflegte, „is a mechanism which contains in itself potentialities for unheard-of good as well as for unprecedented evil“ (1948, S. 285). Andreas Jacobs hat in seiner Morgenthau-Interpretation zu Recht darauf hingewiesen, dass Morgenthau die Balance of Power nicht als ein mechanisches Phänomen – im Sinne eines exakten Gleichgewichtes – verstanden hat, da Macht nach Morgenthau nicht exakt gemessen oder verglichen werden könne (Jacobs 2010, S. 47; Little 2007, S. 159).

Mit „Scientific Man vs. Power Politics“, „Politics among Nations“ sowie einer Reihe weiterer Schriften, die hier keine Berücksichtigung gefunden haben (Rohde 2004; Smith 1986) entwickelte Morgenthau zwar keine Theorie des Realismus. Viele seiner mittels Induktion gewonnenen Einsichten stehen unverbunden nebeneinander, ja sind zum Teil sogar widersprüchlich (Jacobs 2010, S. 54) und in der Folgezeit vehementer Kritik ausgesetzt gewesen (vgl. Jacobs 2010, S. 54–58; Link 1965). Durch die Wahl der induktiven Methode blieb Morgenthau vor den Fehlern des methodologischen Individualismus nicht gefeit. Es gelang ihm mit seiner historischen Methode nicht, systematische Kausalitäten aufzuzeigen, die theoretisch konsistent und gültig wären. Man muss der Fairness halber aber auch anmerken, dass dies nicht Morgenthaus analytisches Anliegen war. Wie andere prominente Realisten seiner Zeit war Morgenthau skeptisch hinsichtlich dessen, was wir heute sozialwissenschaftliche Theoriebildung (insbesondere in ihrer positivistischen Ausprägung) nennen würden. Für ihn war Theorie nicht nur deskriptiv, sondern immer auch normativ. Die heute allzu übliche Trennung zwischen empirischer und normativer Theorie spielte für ihn keine Rolle, ja er betrachtete sie auch als artifiziell, da in seinem theoretischen Verständnis beide darin ähnlich seien, Regelmäßigkeiten zu suchen, die politisches Handeln beeinflussen. Darüber hinaus würden sich empirische und normative Theorie auch ergänzen, da erstere ein Regulativ letzterer sei (Snyder 2011, S. 61).

Das Verdienst von Morgenthau ist es jedoch, dass er – anders als realistische Denker vor ihm – das Augenmerk seiner Analyse nicht nur auf die Frage nach Herrschaftstechniken lenkte, sondern den Anspruch erhob, internationale Politik als einen eigenständigen Analysebereich zu betrachten und ihre Möglichkeiten und Begrenzungen zu verstehen. Damit ergänzte Morgenthau den Fokus der realistischen Debatte um eine empirisch-analytische Ebene.

In den letzten 10 Jahren erlebt Morgenthau eine Art Revival. Insbesondere Kritiker des Neorealismus eines Kenneth Waltz wenden sich wieder mit verstärktem Interesse dem Werk Morgenthaus zu. Dieses neu erwachte Interesse hat verschiedene Gründe. Zum einen ist hier eine generelle Zuwendung zu den historischen und philosophischen Wurzeln der akademischen Disziplin der Internationalen Beziehungen zu nennen. Ferner gibt es in den letzten Jahren ein wachsendes Interesse, die Verbindungen zwischen IB-Theorie und der Politischen Theorie genauer auszuloten. Im Zuge dieser Entwicklung gibt es unzählige Studien zu den philosophischen Einflüssen auf Morgenthaus Denken über internationale Politik.Footnote 10 Und es ist auch nicht zuletzt der Versuch, Morgenthaus Widersprüche produktiv zu nutzen, um auf mögliche Anknüpfungspunkte mit anderen Theorien, insbesondere der KRITISCHEN THEORIE, zu verweisen.Footnote 11 Nicht zuletzt – und dies wird im späteren Verlauf des vorliegenden Beitrages noch eine Rolle spielen (Stichwort: neoklassischer Realismus) – wenden sich Autoren erneut Morgenthaus Werken zu, weil sie darin Anhaltspunkte finden, mit denen es ihnen möglich wird, die strukturelle Variante des Neorealismus, wie sie von Waltz entwickelt wurde, um innerstaatliche Faktoren zu ergänzen, mit denen sich Außenpolitik analysieren lässt (Williams 2007c, S. 5–9).Footnote 12 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Morgenthau mit seinem Werk den Grundstein für eine intensive Diskussion und Forschung im Bereich der IB legte, die sich die Aufgabe stellte, eine realistische Theorie internationaler Politik zu entwickeln.

Die ersten Ansätze zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Theorie des Realismus ließen sich bereits 1959 beobachten, als ein Nachwuchswissenschaftler seine an der Columbia University unter der Betreuung von William T. Fox verfasste Doktorarbeit unter dem Titel „Man, the State and War“ veröffentlichte.Footnote 13 Der Name dieses damals noch unbekannten Promovenden, der 20 Jahre später zum Begründer des Neorealismus avancieren sollte: Kenneth N. Waltz. Seinem Denken und der Entwicklung des Neorealismus ist das nächste Kapitel gewidmet.

Vor dem Erscheinen von Alexander Wendts „Social Theory of International Politics“ (1999) war „Theory of International Politics“ (1979) von Kenneth N. Waltz das einflussreichste Werk in der akademischen Disziplin der Internationalen Beziehungen. Die Debatten um die Entwicklung von Theorien der IB seit den 1980er-Jahren, aber insbesondere seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, entfalteten sich zumeist vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit der von Waltz 1979 niedergelegten neorealistischen Theorie. Dabei wurde der Neorealismus als Folie benutzt, um konkurrierende Theorien und Theoreme zu entwickeln. Ohne eine gründliche Kenntnis des Neorealismus ist auch die aktuelle Theoriediskussion deshalb nur schwer nachvollziehbar. Die Diskussion um den Neorealismus wurde und wird allerdings oftmals entlang eines falschen Verständnisses von dem, was der Neorealismus ist und was er zu leisten vermag, geführt. An diesem Missverständnis sind aber nicht nur die Kritiker des Neorealismus schuld, wenngleich sie diesen oftmals falsch oder gar in karikierender Weise dargestellt haben (Masala 2005, 2014), sondern auch viele selbstdeklariert Neorealisten, die den Eindruck erweck(t)en, dass die neorealistische Theorie eine „Eier legende Wollmilchsau“ sei, mit der sich alles erklären ließe.

Das Ziel des nächsten Kapitels ist es daher herauszuarbeiten, was der Neorealismus ist und was er zu leisten vermag. Hat doch die Tatsache, dass Neorealisten selbst ihre Theorien und Theoreme als ein einheitliches, progressives Forschungsparadigma präsentiert haben, Anfang der 1990er-Jahre wesentlich zu deren Diskreditierung beigetragen.

4 Die Geburtsstunde des Neorealismus: Theory of International Politics

Die Ursprünge neorealistischer Theoriebildung reichen eigentlich bis in die 1950er-Jahre zurück (Waltz 1959). Da sonst zweimal jedoch kein Raum ist, um diese Entwicklung in extenso nachzuzeichnen (Masala 2005, 2014), konzentriert sich dieses Kapitel auf Waltz‘ eingangs erwähntes Werk „Theory of International Politics“ (1979). Ohne Zweifel stellt es den Höhepunkt sowie den Schlusspunkt der Bemühungen von Kenneth N. Waltz dar, eine Theorie der internationalen Politik zu entwickeln.

Zunächst einmal sei die Frage gestellt, welche Intentionen Waltz mit der Entwicklung seiner Theorie verfolgte. Für Kenneth Waltz ging es in einem ersten Schritt darum, den Realismus eines Hans J. Morgenthau (Jacobs 2003; Rohde 2004), der wichtige, jedoch unsystematische und zumeist aus Induktion gewonnene Einsichten vermittelte, zu systematisieren.

Dass Waltz mit seiner IB-Theorie an realistische Annahmen anknüpft, ist evident, soll an dieser Stelle jedoch noch einmal explizit gemacht werden. Hierzu werden die zentralen Annahmen von Kenneth Waltz dargestellt, welche sich wie folgt zusammenfassen lassen:

  1. (a)

    Staaten sind die wichtigsten Akteure in der internationalen Politik.

  2. (b)

    Staaten sind insofern rationale Akteure, als dass sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen ihre Ziele zu erreichen versuchen.Footnote 14

  3. (c)

    Das Minimalziel der Staaten ist die Sicherung ihrer Existenz.

  4. (d)

    Staaten agieren und interagieren in einem Kontext, der ihnen in ihrem Handeln Begrenzungen auferlegt bzw. ihr Handeln dergestalt konditioniert, dass auf der Ebene der Gesamtbeziehungen ganz bestimmte, stets wiederkehrende Muster (Balance of Power und Hegemonie) produziert werden.

Damit knüpft Waltz bei den ersten drei Annahmen (a-c) bewusst an die realistische Tradition an. Im Prinzip ist auch die vierte Annahme (d) aus der realistischen Tradition entliehen, denn auch Morgenthau hatte den anarchischen Charakter der internationalen Politik erkannt und ihn zum Gegenstand seines Forschungsprozesses gemacht. Er hatte jedoch – laut Waltz – nicht erkannt, dass die immer wiederkehrenden Muster den Konstellationen im internationalen System geschuldet und nicht das Ergebnis einer seitens der Staaten bewusst betriebenen Politik sind – weswegen Waltz dem Morgenthauschen Realismus „Reduktionismus“ vorwirft (Waltz 2005, S. 119).

Ein zweites, in der Literatur zum Neorealismus oftmals übersehenes Anliegen von Waltz war es, der in den 1960er- und 1970er-Jahren in den IB vorherrschenden Strömung des Behavioralismus entgegenzutreten, der mittels Induktion und quantitativer Methoden Gesetzmäßigkeiten der internationalen Politik aufdecken wollte (und heute noch will). Darauf Waltz (1979, S. 14): „Before a claim can be made to have tested something, one must have something to test“. Die Kritik am Behavioralismus richtet sich weniger gegen die Methodenwahl, obgleich Waltz keineswegs von dem Einsatz quantitativer Methoden in den IB überzeugt war und es sicherlich zutreffend wäre, ihn als Vertreter einer klassischen qualitativen, an der Geschichtswissenschaft orientierten Methode zu bezeichnen. Der Hauptkritikpunkt von Waltz betrifft vielmehr die Theorie-„Feindlichkeit“ der Behavioralisten, denen er vorwirft, Beobachtungen zu machen, Daten zu generieren, alles gegen alles zu korrelieren, „without any effort to define variables as they were defined in the theories presumably being dealt with“ (Waltz 1979, S. 15). Es ist der erklärende Anspruch, d. h. der Erklärung von Gesetzmäßigkeiten, den Waltz ins Zentrum seiner Überlegungen stellt.

Aus den beiden Punkten, Anknüpfung an die zentralen Erkenntnisse des Realismus sowie Ablehnung des Behavioralismus, entwickelt Waltz sein zentrales Anliegen: die deduktive Entwicklung einer Theorie der internationalen Politik. Wiederholt hat Waltz darauf hingewiesen, dass es nicht seine Intention gewesen ist, eine Gesamttheorie (Waltz 1986, S. 340) oder eine Theorie der Außenpolitik (Waltz 1979, S. 72) zu entwickeln. Sein Anliegen war es, systematische Aussagen über die strukturellen Bedingungen zu formulieren, unter denen Staaten in der internationalen Politik agieren und interagieren.

Waltz hat sehr genaue Vorstellungen davon, wie eine Theorie entwickelt werden muss und was sie leisten kann. Sein eigenes Theorieverständnis entlehnt Waltz den Natur- und Wirtschaftswissenschaften. In einem ersten Schritt hält er fest, dass eine Theorie das Auftauchen von Gesetzmäßigkeiten erklären soll (Waltz 1975, S. 4). Durch ein solches Verständnis von Theorie grenzt sich Waltz scharf von anderen Ansätzen ab, die Theorie als ein „set of laws pertaining to a particular behavior or phenomenon“ (Waltz 1975, S. 3) verstanden wissen wollen oder Theorie die Funktion zuweisen, Aussagen zu sein, die Gesetze erklären (Waltz 1975, S. 3). Dabei unterscheidet Waltz sehr genau zwischen Gesetzen und Theorien. Erstere werden durch Beobachtung gewonnen, letztere durch spekulative Prozesse, die erstere erklären sollen (Waltz 1975, S. 4). Da Theorien nur „Spekulationen“ sind, sind sie mit der realen Welt auch nur lose verbunden. „Theories, though not divorced from the world of experiments and observations, are only indirectly connected with it“ (Waltz 1975, S. 4). Aus dieser definitorischen Trennung zwischen Theorie und Gesetz folgt, dass Theorien nicht danach beurteilt werden können, ob sie wahr oder falsch sind. Nur Gesetze können nach diesen Kriterien beurteilt werden. Nachdem er Theorien definiert hat, geht Waltz noch einen Schritt weiter und gibt zwei Kriterien an, die bei der Entwicklung von Theorien Berücksichtigung finden müssen.

Das erste Kriterium ist, das Theorien diskriminieren müssen. „Discrimination is required because the amount that can be learned about matters that bear upon international relations, as upon any complex realm, is indefinite“ (Waltz 1975, S. 6). Waltz lässt in seinem Verständnis von Theorie und Theoriebildung unzweifelhaft seine Nähe zu den Überlegungen des kritischen Rationalismus, wie er Ende der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre u. a. von Karl Popper, Joseph Agassi, Paul Feyerabend, Imre Lakatos und John W. N. Watkins entwickelt wurde, erkennen. Demzufolge gibt es eine Realität, die unabhängig von Sprache und von Theorien existiert. Dass Waltz einem solchen Verständnis von Wissenschaft nahe steht, ergibt sich aus der Aussage, wonach „a theory, while related to the world about which explanations are wanted, always remains distinct from that world. Theories are not descriptions of the real world, they are instruments that we design in order to apprehend some part of it“ (Waltz 1975, S. 8). Allerdings weicht Waltz an einer entscheidenden Stelle vom Popperschen Rationalismus ab, bei der Falsifizierbarkeit von Theorien. Anders als Popper sieht Waltz die Hauptaufgabe der Wissenschaft keineswegs darin, Theorien bzw. die aus Theorien abgeleiteten Hypothesen zu falsifizieren (Waltz 1986, S. 334 f.), sondern er plädiert für ein pluralistisches Verständnis:

„Theories gain credibility in a variety of ways – by unsuccessfully attempting to falsify, by successfully attempting to verify, by demonstrating that outcomes are produced in the way the theory contemplates, and by the intellectual force of the theory itself“ (Waltz 1986, S. 336).

Die Fähigkeit, exakt zu prognostizieren oder gar präskriptiv zu sein, wie dies z. B. John Mearsheimer (2002a) fordert, negiert Waltz zwar nicht ausdrücklich, er weist jedoch darauf hin, dass dies nicht seinem Theorieverständnis entspricht:

„A limitation of the theory [neorealism], a limitation common to social science theories, is that it cannot say when. […] neorealist theory is better at saying what will happen than in saying when it will happen“ (Waltz 2000, S. 27).

Um eine Theorie zu entwickeln, ist Konzentration unvermeidlich. Es gibt einen, wie Waltz konzediert, inhärenten Widerspruch zwischen umfassender Allgemeinheit und komplexitätsgerechter Präzision (Waltz 1990, S. 22), der nicht beseitigt werden kann. Daher entscheidet sich Waltz gegen die komplexitätsgerechte Präzision, da Theorien kein Spiegelbild der Realität sind, sondern „an instrument to be used in attempting to explain a circumscribed part of reality of whose true dimensions we can never be sure. The instrument is of no use if it does little more than ape the complexity of the world“ (Waltz 1997, S. 913–914).

Für Waltz sind die meisten „Theorien“ der IB, die in den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelt wurden, „imprecise“, „contradictory“ (Waltz 1975, S. 13) und konfus, da sie nicht in der Lage sind, Ursache und Wirkung klar zu identifizieren.

Diesen Missstand in der Disziplin IB will Waltz beseitigen, indem er sich folgendes zum Ziel setzt:

„(1) Develop a more rigid theory of international politics than earlier realists had done.Footnote 15

(2) Show how one can distinguish unit-level from structural elements and then make connections between them.

(3) Demonstrate the inadequacy of the prevalent inside-out pattern of thinking that has dominated the study of international politics.

(4) Show how states behavior differs, and how expected outcomes vary, as systems change.

(5) Suggest some ways in which the theory can be tested and provide some examples of its practical application, largely to economic and military problems“ (Waltz 1986, S. 322).

Entsprechend der bereits genannten Kriterien für die Entwicklung einer Theorie definiert Waltz zunächst den Gegenstandsbereich seiner Theorie, die internationale Politik, als „[…] distinct from economic, social and other international domains“ (Waltz 1979, S. 79). Damit negiert Waltz nicht die möglichen Wechselwirkungen, die es zwischen Ökonomie, Politik und sozialer Ordnung geben kann. Aus seiner Sicht kann eine Theorie jedoch nur dann konstruiert werden, wenn „various objects and processes, movements and events, acts and interactions, are viewed as forming a domain, that can be studied in its own right“ (Waltz 1990, S. 23).

Den methodischen Zugriff auf die internationale Politik vollzieht Waltz mithilfe eines System-Modells, wobei er System definiert als „composed of a structure and of interacting units“ (Waltz 1979, S. 79). Obgleich Waltz seine Theorie als eine „ system theory“ bzw. „systemic theory“ bezeichnet, hat Volker Düsberg (1992) zu Recht darauf hingewiesen, dass die deutsche Übersetzung „Systemtheorie“ Missverständnisse erzeugt. Denn Waltz nimmt mit „System“ lediglich einen eigenen Bereich – die internationale Politik – mit einem inneren Gefüge – der Struktur – an, welches das Verhalten der Teile beeinflusst. „Außenwelten“ und „Informationsabläufe“, wie sie bei der Systemtheorie von K.W. Deutsch, Talcott Parsons oder Niklas Luhmann eine Rolle spielen, werden bei Waltz nicht thematisiert (Düsberg 1992, S. 13–14). Deshalb erscheint es angemessener, von einer „ structural theory“ anstatt von einer „systemic theory“ zu sprechen, zumal Waltz auch lange Zeit als Vertreter eines „strukturellen Realismus“ galt.Footnote 16

Wodurch ist aber das System „internationale Politik“ gekennzeichnet? Ein System ist laut Waltz ein Konzept für eine soziale Struktur (Waltz 1979). Definiert ist diese durch die Anordnung der Teile im System und durch das Prinzip, nach dem diese Teile angeordnet sind.

Die Teile – units – sind klar voneinander abgrenzbare Einheiten, die durch beständige Aktionen/Interaktionen miteinander in Verbindung stehen – interacting units. Die wichtigsten, jedoch nicht die einzigen, Einheiten des Systems sind nach Waltz Staaten. Jeder Staat ist eine souveräne politische Einheit, wobei Souveränität nicht bedeutet, dass jeder Staat so handeln kann, wie es ihm beliebt. Souveränität meint im Waltzschen Verständnis vielmehr die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie auf interne und externe Herausforderungen reagiert wird (Waltz 1996). Dies schließt auch die Entscheidung ein, ob man zur Bewältigung dieser Herausforderungen mit anderen Staaten zusammenarbeitet oder nicht. Dieser Souveränitätsbegriff verkennt weder die real existierenden Dependenzen zwischen Staaten, noch die Auswirkungen, welche die Handlungen von Staaten auf andere Staaten haben.

Letzten Endes ist der Souveränitätsbegriff auch der Schlüssel zum Verständnis für die Gleichbehandlung aller Staaten in der neorealistischen Theorie bzw. ihrer Subsumierung unter dem Begriff der „like units“. Trotz aller Unterschiede hinsichtlich ihrer territorialen Größe, ihres Bruttosozialproduktes und ihrer militärischen Stärke gleichen sich alle Staaten darin, dass sie die gleichen Funktionen erfüllen. Sie alle schaffen Sicherheit nach innen wie nach außen.Footnote 17 Alle Staaten gleichen sich darin, dass sie die Freiheit der gesellschaftlichen Eigenentwicklung (Löwenthal 1971, S. 11) aufrechterhalten wollen. Wie sie diese Funktionen erfüllen, variiert jedoch, da die Erfüllung der genannten Funktionen letzten Endes von der Einsetzbarkeit der den Einheiten zur Verfügung stehenden Machtpotenziale abhängig ist. „The units […] are functionally undifferentiated. The units of such an order are then distinguished primarily by their greater or lesser capabilities for performing similar tasks“ (Waltz 1979, S. 97).

Die Einführung eines Struktur-Modells erlaubt es Waltz, analytisch zwischen der Struktur-Ebene und der Ebene der interagierenden Einheiten zu unterscheiden. Ziel dieser Unterscheidung ist es, „to show how the structure of a system affects the interacting units and how they in turn affect the structure“ (Waltz 1979, S. 40). Damit hat Waltz sein erkenntnisleitendes Interesse deutlich formuliert. Allerdings ist Waltz terminologisch nicht ganz eindeutig. Des Öfteren spricht er von „unit- level“ wenn er offensichtlich die Ebene der „interacting units“, also die Prozessebene meint. Ein Aufsatz von 1990 (Waltz 1990) verschafft hier Klarheit. In der dort dargelegten Argumentation wird deutlich, dass der Begriff „unit- level“ diejenige Analyseebene meint, die die Einheiten (Staaten) mit ihrer internen Ordnung und ihrem spezifischen Außenverhalten bezeichnet Abb. 1.

Abb. 1
figure 1

Das Akteur-Struktur-Verhältnis nach Waltz

Damit wird auch deutlich, dass es ein wechselseitiges Beeinflussungsverhältnis zwischen den Ebenen gibt. Nur so ist zu verstehen, dass Kenneth Waltz in mehreren Aufsätzen davon spricht, dass die Struktur die Einheiten beeinflusst und vice versa. „[…] the […] causes run not in one direction […] but rather in two directions“ (Waltz 1990, S. 34). Als Ergebnis hält Waltz fest: „causes at the level of the units […] interact with those at the level of the structure“ (Waltz 1990, S. 34). Für das Ziel von Waltz, eine Theorie der internationalen Politik zu entwickeln, sind allerdings mögliche Veränderungen auf der Ebene der „units“, sowohl intern als auch in ihrem Außenverhalten, nur sekundär. Diese Phänomene, die Waltz in ihrer Bedeutung nicht negiert,Footnote 18 sind nach seinem Verständnis Gegenstandsbereich einer Theorie der Außenpolitik. Das Erkenntnisinteresse seiner Theorie der internationalen Politik liegt jedoch in der Beantwortung von Fragen wie den folgenden: „[W]hy the range of expected outcomes falls within certain limits“, „why patterns recur“ und „why patterns repeat themselves“ (Waltz 1979, S. 69).

In einer Replik auf Colin Elman (1996), der Ende der 1990er-Jahre eine neorealistische Theorie der Außenpolitik zu entwickeln versuchte, formuliert Kenneth Waltz mit deutlicher Klarheit das Erkenntnisinteresse, das seiner Theorie zugrunde lag und das eine Theorie der internationalen Politik von einer Theorie der Außenpolitik unterscheidet: „My old horse [Theory of International Politics] cannot run the course [serving as a theory of foreign policy] and will lose if it tries“ (Waltz 1996, S. 54). Bei seiner Theorie der internationalen Politik ging es ihm darum zu erklären, „why states similarly placed [in the international system] behave similarily despite their internal differences. […] That is why the theory is called a theory of international politics. […] Differences in behavior arise from differences of internal composition“ (Waltz 1996, S. 56). Die Definition von Struktur darf sich nach Waltz somit nicht auf Charakteristika, Verhalten oder Interaktionen der Akteure beziehen, um genau unterscheiden zu können, ob Prozessergebnisse strukturelle Ursachen haben oder allein mit dem Verhalten der Akteure zu begründen sind (Rossbach 1992, S. 240).

Es geht Waltz in seiner „Theory of International Politics“ somit lediglich darum, die Wirkung, die von der Struktur des internationalen Systems auf die Interaktion der Einheiten und auf die Einheiten selbst ausgeht, zu erklären. Dabei negiert er weder, dass es auch Einflüsse anderer Art auf die Interaktion und die Einheiten gibt, noch, dass diese selbst einen möglichen Einfluss auf die Struktur haben. Im Zentrum der Waltzschen Theorie steht also das Bemühen, das internationale System als eine eigenständige Analyseebene zu etablieren und den Zusammenhang zwischen dem strukturellen Aspekt der internationalen Politik und dem Außenverhalten von Staaten systematisch zu entwickeln.

Staaten, so lautet die Grundannahme des Neorealismus, stehen auf der System-Ebene in einem spezifischen Beziehungszusammenhang, der sie von Aktionen abhält oder zu solchen hinlenkt und das Ergebnis staatlicher Interaktionen beeinflusst, ohne es zu determinieren. Dabei ist die Unterscheidung wichtig, der zufolge die Struktur der Gesamtbeziehungen zwar aus den Aktionen und Interaktionen der Staaten entsteht, mit diesen jedoch nicht identisch ist. Die Struktur bezeichnet das Arrangement, das die Staaten auf der System-Ebene zueinander eingehen. Sie gibt Auskunft über die Positionierung der Staaten im internationalen System. Um eine Unterscheidung zwischen strukturellen und akteursabhängigen Variablen zu ermöglichen, muss bei der Bestimmung der Struktur von den Eigenschaften der Staaten und ihren Aktionen und Interaktionen abstrahiert werden. Waltz beschreibt diesen Sachverhalt wie folgt:

„To define a structure requires ignoring how units relate with one another (how they interact) and concentrating on how they stand in relation to each other (how they are arranged or positioned) […]. The arrangement of units is a property of the system“ (Waltz 1979, S. 80).

Die Struktur bestimmt sich nach Waltz also nach:

  1. (a)

    dem Ordnungsprinzip (in der Dichotomie anarchisch vs. hierarchisch);

  2. (b)

    der fehlenden Funktionsdifferenzierung zwischen den Einheiten;

  3. (c)

    der Machtverteilung.

Die Staaten konkurrieren in einem anarchisch-dezentralisierten Selbsthilfesystem um die knappen Güter, die sie zur Aufrechterhaltung bzw. zur Verbesserung ihrer Situation benötigen. Wegen der strukturell begründeten Ungewissheit über das Verhalten der anderen Staaten müssen die Staaten beständig Macht akkumulieren, um ihre eigene Sicherheit und damit auch die eigene Handlungsfreiheit zu garantieren. Diese Machtakkumulation wird wiederum von den anderen Staaten als Bedrohung ihrer Sicherheit und Handlungsfreiheit wahrgenommen. In Abwesenheit einer zentralen Autorität führt der Wettbewerb im anarchischen System häufig zu Konflikten, die auch in Kriege münden können.

Da die strukturellen Bedingungen lediglich eine Milderung des Dilemmas, keinesfalls aber dessen vollständige Auflösung zulassen, wird die Bildung von Macht- und Gegenmachtbildung zu dem typischen Ergebnis der zwischenstaatlichen Konkurrenz um das knappe Gut Sicherheit“ (Meimeth 1992, S. 138, Hervorhebung im Original).

Die Konfliktgefahr wird durch die Existenz von Gegenmachtsystemen verringert, mit denen sich die Staaten gegenseitig beschränken. Je weniger Großmächte mit großen militärischen Machtpotenzialen im internationalen System existieren, die die Struktur des internationalen Systems bestimmen, desto geringer ist die Konfliktgefahr. Denn die Polarität des internationalen Systems ist letztendlich bestimmend für die Aktionen und Interaktionen der Staaten in diesem System. Dies ist die Essenz der neorealistischen Theorie, wie sie von Kenneth Waltz entwickelt wurde.

Wie deutlich geworden sein dürfte, hat Waltz seine Theorie auf einer relativ hohen Abstraktionsebene entwickelt und überlässt es anderen, die Konsequenzen aus der von ihm entwickelten Theorie für die Analyse realer internationaler Politik zu eruieren. Dabei mag es dann auch nicht verwundern, dass eine Vielzahl von Forschern, die Waltz’ Theorie als Ausgangspunkt ihrer eigenen Analysen genommen haben, sehr schnell auf die analytischen Beschränkungen dieser Theorie stieß. Dies führte dazu, dass entweder Alternativen zum Neorealismus entwickelt wurden, die dezidiert die vermeintlichen oder realen Schwächen bzw. logischen Inkonsistenzen der Waltzschen Theorie zum Anlass nahmen, um eigene Theorien vorzuschlagen. So etwa der neoliberale Institutionalismus eines Robert Keohane (1984) oder der Konstruktivismus eines Alexander Wendt (1999). Oder aber es wurden innerhalb des neorealistischen Paradigmas argumentierende Alternativen zum Werk von Kenneth Waltz generiert. Diese Alternativen, von denen im Folgenden die wichtigsten skizziert werden sollen, sind dabei oftmals, und hier ist Wohlforth und Brooks (2008, S. 135–136) zuzustimmen, von denjenigen, die sie entwickelt haben, als Verfeinerung der Waltzschen Theorie dargestellt worden, wodurch eine vermeintliche Linearität eines Forschungsprogrammes suggeriert wurde, die bei näherer Betrachtung nie existierte.

Es handelt sich bei vielen, wenn nicht gar den meisten dieser Arbeiten um Ausdifferenzierungen innerhalb der neorealistischen Forschungstradition und Forschungslogik, teilweise auch unter Rückgriff auf den Realismus von Hans Morgenthau. Diese Arbeiten teilen die Waltzschen Grundannahmen über die Struktur des internationalen Systems, weichen jedoch in vielen Punkten von der Waltzschen Theorie ab und widersprechen ihr zum Teil sogar.

Die Selbststilisierung als einheitliches progressives Forschungsprogramm hat letzten Endes auch dazu geführt, dass dem Neorealismus der Vorwurf gemacht wurde, er sei ein im Lakatosschen Sinne degeneriertes Forschungsprogramm (Vasquez 1997).

Welches sind aber nun die wichtigsten Neorealismen, die sich in Anknüpfung an die Waltzsche Theorie entwickelt haben? Da es eine Vielzahl von Arbeiten gibt, die Waltz’ zentrale Aussagen aufgreifen, um daran anschließend ihre eigenen neorealistischen Arbeiten zu betreiben, ist es schwierig, eine Auswahl zu treffen. Diese Vielzahl reicht von Gilpins (1981) Versuch, Wandel im internationalem System zu thematisierenFootnote 19 über Stephen Walts Balance of Threat-Hypothese (1985) als Alternative zur Balance of Power-Annahme von Waltz, bis hin zu den Bemühungen Joseph Griecos (1988, 1990), die Waltzschen Annahmen zu den kooperationshemmenden Wirkungen des internationalen Systems mit der Spieltheorie zu kombinieren. Darüber hinaus dürfen die Theorie hegemonialer Stabilität sowie die „Power Transition Theory“ nicht unerwähnt bleiben. Beide beschäftigen sich mit Fragen der Möglichkeit von Hierarchie in den internationalen Beziehungen unter systemweiter Anarchie (Tammen et al. 2000) sowie der Möglichkeit von Kooperation und Konflikt zwischen auf- und absteigenden Großmächten.

Diese kleine selektive Auswahl verdeutlicht, dass der Neorealismus bereits kurz nach Erscheinen von Waltz’ zentralem Werk zu einer breiten und diversifizierten Strömung wurde, die zwar von Waltz’ Hauptwerk Annahmen über die Struktur des internationalen Systems inspiriert wurde, diese jedoch für ihre eigenen Fragestellungen modifizierte bzw. ergänzte.

Zu den heutzutage wichtigsten neorealistischen Weiterentwicklungen gehört zum einen die Debatte zwischen defensiven und offensiven Neorealisten sowie die Vielzahl von Arbeiten, die unter dem Rubrum „neoklassischer Realismus“ subsumiert werden.

5 Defensiver vs. offensiver Neorealismus

Waltz’ Theorie lässt Staaten wenig Handlungsfreiheit. Die Struktur des internationalen Systems determiniert zwar staatliche Verhaltensweisen nicht, sie lässt den Staaten jedoch wenig Spielraum, wenn sie – im Sinne der Selbsterhaltung – „erfolgreiche“ Politik betreiben wollen. Trotzdem lassen die Grundannahmen der Waltzschen Theorie im Prinzip offen, in welcher Art und Weise sich ein Staat verhält. Faktoren wie seine geografische Lage, die Qualität seiner Streitkräfte und vor allem die Perzeption der Wirkung von Anarchie auf die Rahmenbedingungen staatlichen Handelns tragen dazu bei, dass Staaten sich durchaus unterschiedlich verhalten können. Es ist somit möglich, je nachdem wie man diese Faktoren in ihren Auswirkungen auf staatliches Handeln gewichtet, dass Staaten sich unter den gleichen Bedingungen höchst unterschiedlich verhalten (Jervis 1986; Glaser 1997), ohne dass die Varianz dieses Verhaltens nur durch ein Öffnen der black box Staat zu erklären ist.

Randall Schweller z. B. hat seit Mitte der 1990er-Jahre in einer Reihe von Aufsätzen gefordert, dem revisionistischen Staat mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Die Waltzsche Theorie, so argumentiert Schweller, habe eine Status quo-Orientierung. Diese These leitet Schweller aus der Annahme von Waltz ab, alle Staaten seien nur an Sicherheit und der Wahrung ihrer Position im internationalen System interessiert. Demzufolge würde sich laut Schweller eine Welt ergeben, in der es nur „Polizisten und keine Räuber“ gebe. Wenn dem so wäre, wenn also alle Staaten in der Tat nur an der Aufrechterhaltung ihrer Position im internationalen System interessiert wären und wenn nur Sicherheit das höchste Ziel staatlichen Handelns wäre, dann würde kein Macht- und Sicherheitsdilemma existieren. Wenn alle Staaten nur die Wahrung ihrer Position im internationalen System als Ziel ihres Handelns verfolgen würden, dann bräuchte sich kein Staat wegen der Politik eines anderen Staates Sorgen zu machen (Schweller 1994).

Im internationalen System, so Schwellers Annahme, gibt es jedoch auch revisionistische Staaten, d. h. Staaten, deren Ziel nicht die Wahrung ihrer Position, sondern der Ausbau ihrer Position ist. Einige Staaten akkumulieren demnach Macht nicht nur um der Sicherheit willen, wie Waltz es annimmt, sondern streben Machtmaximierung mit dem Ziel der Positionsverbesserung an (Schweller 1994). Anders als Waltz, der davon ausgeht, dass das Hauptziel von Staaten nur die Verhinderung der Dominanz anderer Staaten ist, gibt es laut Schweller Staaten, deren Ziel die Dominanz über andere Staaten ist.

John Mearsheimer hat diesen Gedanken aufgegriffen und generalisiert. Ihm zufolge gilt die generelle Regel, wonach „states in the international system aim to maximize their relative power position over other states“ (Mearsheimer 1994/95, S. 11; 2001). Die Entwicklung des sogenannten „offensiven Realismus“, wie er von Schweller und Mearsheimer vertreten wird, verändert eine zentrale Argumentation der Waltzschen Theorie, die in einem direkten Zusammenhang mit der Kooperationsproblematik steht. Für Waltz, wie auch für Joseph Grieco (1990), sind Staaten primär daran interessiert, die Schere bei der Verteilung relativer Gewinne nicht zu weit zu ihren Ungunsten auseinanderklaffen zu lassen. Kooperation zwischen Staaten ist mithin schwierig, aber nicht unmöglich. Beim offensiven Realismus wird aber genau die Ungleichverteilung relativer Gewinne zum eigenen Vorteil als Ziel staatlichen Handelns artikuliert. Grieco fasst die Kernaussage des offensiven Realismus treffend zusammen, wenn er schreibt, „[…] states seek not to avoid gaps in gains favouring partners but instead to maximize gaps in their favour“ (Grieco 2002, S. 70).

Wenden wir uns dem Hauptargument des offensiven Realismus zu, das lautet: Staaten maximieren Macht, um ihre relative Machtposition gegenüber anderen Staaten zu verbessern. Man muss konzedieren, dass diese Feststellung empirisch durchaus zu rechtfertigen ist. Die Geschichte der internationalen Politik kennt zahlreiche Beispiele von Staaten, deren erklärtes Ziel das Erlangen regionaler oder gar globaler Hegemonie bzw. Dominanz gewesen ist und die zur Verfolgung dieses Zieles Macht akkumuliert haben (Dehio 1996; Mearsheimer 2006a).

Im Gegensatz dazu argumentieren defensive Neorealisten wie Joseph Grieco (1990), Stephen Van Evera (1999) und Charles Glaser (1997) aber, dass Staaten sich trotz aller Schwierigkeiten durchaus sicher fühlen können und dadurch wenig Anreiz haben, ihre Position im internationalem System verbessern zu wollen.

Die kurze Darstellung der Debatte zwischen offensiven und defensiven Neorealisten verdeutlicht, wie divers verschiedene Autoren in Anknüpfung an die „Theory of International Politics“ arbeiten. Aus den von Waltz dargelegten Grundannahmen der Struktur des internationalen Systems lassen sich unterschiedliche, teils sich einander ausschließende Schlüsse ziehen. Eines eint jedoch all diese Autoren: Ihr Anspruch, reale Fragen der internationalen Politik zu erklären.

6 Der neoklassische Realismus

In den 1990er-Jahren ging eine neue Generation neorealistisch inspiriert arbeitender Autoren so weit, die Diversität des Neorealismus nicht nur anzuerkennen, sondern ihr auch etwas Positives abzugewinnen und sie zur Grundlage ihrer eigenen Arbeiten zu machen. Ausgangspunkt all dieser Autoren ist ein problemlösungsorientiertes Vorgehen. Aus ihrer Sicht wichtige politische Fragen sollten, wenn nötig auch unter Einbeziehung von Variablen bzw. Erkenntnissen aus anderen Theorien, beantwortet werden. Die von Waltz entwickelte Theorie dient diesen Autoren dabei als Referenzrahmen sowie als nachahmenswertes Beispiel für exzellente deduktive Logik.

Was ihren eigenen theoretischen Anspruch anbelangt, so steht ein „eklektisches Vorgehen“ (Katzenstein und Sil 2008) im Mittelpunkt. Die Wahl der „richtigen“ Theorie zur Beantwortung einer Fragestellung wird vom Kontext der Frage bestimmt und nicht, wie oftmals bei einem „paradigmatistischen“ (Hellmann 2002) Vorgehen (Legro und Moravcik 1999) die Frage bzw. der zu beobachtende Gegenstand so ausgewählt, dass er der Verfolgung einer theoretischen Fragestellung dient.

Dieses eklektisch-pragmatische Vorgehen hat zu zwei Entwicklungen geführt. Zum einen dazu, dass neoklassische Realisten wichtige Einsichten in die „fine grained structure“ (Van Evera 1999) staatlichen und internationalen Handelns zu Fragen der militärischen Intervention (Taliaferro 2004), den Ursprüngen von revisionistischen Staaten (Davidson 2006), dem Ende des Ost-West-Konflikts (Wohlforth 1993), der Entwicklung US-amerikanischer Währungspolitik nach dem Ende von Bretton Woods (Sterling-Folker 2002) sowie der Außenpolitik unter Präsident George W. Bush (Layne 2006), um nur einige zu nennen, vermittelt haben.

Zum zweiten, dass neorealistisch inspirierte Wissenschaftler sich zunehmend zentralen Einsichten aus anderen Theorien und Theoremen in der pragmatischen Absicht geöffnet haben, mit diesem Vorgehen den Erkenntniswert gewonnener Aussagen zu steigern. Insbesondere von Konstruktivisten in die IB-Debatte eingebrachten Faktoren, wie Kultur, Identität, Rollenverständnis etc. sind in die oben genannten Arbeiten auf produktive und erkenntnisfördernde Art und Weise eingeflossen (Jackson und Nexon 2004).

Neoklassische Realisten arbeiten eklektisch und haben sich dezidiert von dem Ziel verabschiedet, die verschiedenen Neorealismen unter einem Dach zu einer „one size fits all“-Theorie zusammenzufügen. Im Zentrum ihres Interesses steht nicht der Kampf um die beste aller Theorien, sondern der um die beste aller Antworten auf konkrete Fragestellung der internationalen Politik.

7 Realismus als normative Theorie

Es gehört zu den weitverbreiteten Mythen in der IB-Community, dass Neorealisten kriegslüstern sind, „war-mongering Neanderthals“ (Edelstein 2010), die die Lösung der meisten sicherheitspolitischen Probleme dieser Welt in dem begrenzten oder gar massiven Einsatz militärischer Macht sehen. Aus diesem Grund (aber auch aus anderen Gründen) liebt keiner politische Realisten, hat Robert Gilpin (1996) einst die Stellung von Realisten und Neorealisten unter Fachkollegen sarkastisch beklagt. Die den Realisten unterstellte kriegslüsterne Tendenz wird von Kritikern zumeist mit drei Argumenten untermauert. Zunächst damit, dass der Realismus Nachfolger eines „militaristischen und rassistischen Sozialdarwinismus“ (Halliday 1994, S. 11) sei und deshalb dem survival of the fittest das Wort reden würde. In der realistischen Welt, in der Macht nicht nur, aber auch aus Gewehrläufen kommt, sei es dann nur folgerichtig, wenn Vertreter dieser Theorie dem Einsatz von Streitkräften zur Regulierung von Konflikten das Wort reden und Krieg als immer wiederkehrendes Phänomen bezeichnen, der sich nicht von der Bildfläche der internationalen Beziehungen verbannen lässt.

Die zweite Erklärung, die zur Begründung der „Kriegslüsternheit“ von Realisten herangezogen wird, verweist auf den intellektuellen Einfluss, den problematische Denker wie z. B. der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt auf die Gründerväter moderner realistischer Theoriebildung gehabt haben (Honig 1996; Scheuerman 2009).

Und zuletzt wird die realistische Ignoranz gegenüber jedem intellektuellen Versuch, das konfliktgeladene internationale System in ein friedliches zu transformieren, in dem Realpolitik durch geteilte ethische Werte und Normen und kooperative Beziehungen zwischen Staaten ersetzt wird, als Indiz für die Faszination durch und die Überhöhung von militärischer Macht herangezogen (Ashley 1984, S. 281).

Interessanterweise haben sich Realisten und Neorealisten aber seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zumeist ablehnend hinsichtlich militärischer Interventionen geäußert. Von Korea über Vietnam bis zu den Einsätzen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, dem Irak-Krieg 2003 und der Afghanistan-Intervention, ebenso im Falle der Durchsetzung der Flugsverbotszone über Libyen im Jahre 2011: immer wieder waren Realisten und Neorealisten unter den wortgewaltigen Kritikern und Gegnern eines militärischen Eingreifens in den genannten Konflikten. Ob Hans Morgenthau, Kenneth N. Waltz, Stephen Walt oder John Mearsheimer, um nur einige prominente Namen zu nennen, sie alle beteiligten sich intensiv an den öffentlichen Debatten über Nutzen und Sinn militärischer Interventionen und fanden sich dabei zumeist auf der Seite jener, die die Sinnhaftigkeit einer solchen Intervention anzweifelten. Sicherlich gab und gibt es auch Realisten mit einer positiven Haltung zu militärischen Interventionen. So gehörte Henry Kissinger zumeist zu den Befürwortern eines militärischen Eingreifens, und zwar sowohl in seiner Zeit als Wissenschaftler wie auch als Praktiker (Isaacson 1992). Doch blieb er damit eine Ausnahme. In aller Regel waren und sind Neorealisten zurückhaltend und skeptisch, wenn es um den Einsatz militärischer Macht geht und ging, dabei die meisten militärischen Interventionen der Vereinigten Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg ablehnend und als nicht im amerikanischen Interesse stehend verurteilend.

Interessanterweise trennen Neorealisten und Realisten ihre politische Ablehnung aktueller Kriege oder militärischer Interventionen zumeist von ihren theoretischen Annahmen.

„Realism doesn’t take a normative or ethical position […]. Realism is a positive theory of international politics, not a normative theory, and it is essentially amoral. It explains why international politics is a competitive arena and why states act as they do, but it is mostly silent on whether this behavior is morally acceptable“ (Walt 2009, Hervorh. dort).

Dieses Argument ist jedoch nur schwer nachvollziehbar, geht es doch davon aus, dass Wissenschaftler in ihren politischen Urteilen nicht durch die Art und Weise beeinflusst werden, wie sie theoretisch über internationale Politik denken. Eine solche Trennung, dergestalt, dass „their ethical agenda is not derived from their theory of international politics“ (Desch 2003, S. 419), wie es von Realisten selbst immer wieder betont wird, würde nur dann glaubhaft sein, wenn Realisten in ihrer politischen Einschätzung militärischer Interventionen divergieren würden, obgleich sie theoretisch mit denselben Axiomen arbeiten. Da dies jedoch nicht der Fall ist und Realisten – wie eingangs bereits angedeutet – sich in ihrer Einschätzung der realen Anwendung militärischer Macht in aller Regel einig sind, liegt die Vermutung nahe, dass die Art und Weise, wie Realisten die Welt theoretisch fassbar machen, auch ihre ethisch-moralischen Vorstellungen hinsichtlich ihrer Einschätzung realer Politik beeinflusst. Anders ausgedrückt: Entgegen des neorealistischen, von Machiavelli entlehnten Credos, die Dinge zu erklären, wie sie sind, geht der vorliegende Beitrag vielmehr davon aus, dass die neorealistische Theorie auch eine verdeckte normative Dimension enthält, die darauf abzielt darzustellen, was „getan werden muss oder sollte“ (Frost 1996, S. 2).

Ein zweites puzzle, dass mit der Skepsis realistisch arbeitender Wissenschaftler hinsichtlich des Gebrauchs militärischer Macht einhergeht, ergibt sich aus der negativen Einschätzung deliberativer Momente in der internationalen Politik. „Talk is cheap“ lautet ein immer wiederkehrendes Credo neorealistischer Forschung (Mearsheimer 2006b, S. 123), denn Entscheidungen und Ergebnisse in der internationalen Politik sind das Resultat der Verteilung materieller Macht und konditionierender struktureller Bedingungen, denen sich Staaten im internationalen System ausgesetzt sehen (Waltz 1979; Mearsheimer 2001). Der „Marktplatz der Ideen“ (Kaufmann 2004), dessen Wichtigkeit von konstruktivistisch und poststrukturalistisch arbeitenden Wissenschaftlern stets betont wird, trägt aus Einschätzung realistisch arbeitender Wissenschaftler nicht dazu bei, politische Entscheidungen zu beeinflussen, allenfalls nur marginal. Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass sich ebendiese Realisten im Vorfeld und während militärischer Interventionen so engagiert auf diesem Marktplatz tummeln und policy-Schriften gegen Interventionen (Mearsheimer und Walt 2003) verfassen oder gar für viel Geld Anzeigen in Printmedien schalten, in denen sie vor den Folgen solcher Interventionen warnen (Mearsheimer et al. 2002). Auch diese Beobachtung steht in scheinbarem Widerspruch zu den Grundaxiomen neorealistischer Theoriebildung.

Beide Phänomene verweisen auf die Frage, ob die neorealistische Theorie nicht doch eine versteckte normative Grundlage hat, die dazu führt, dass sich Neorealisten als politische Aktivisten betätigen und ihre Haltung in politischen Fragen maßgeblich durch ihr neorealistisches Denken bestimmt wird. Es wird im Folgenden gezeigt werden, dass der Neorealismus eine implizite normative Basis hat, die im Kern eine Skepsis gegenüber der Universalität von Normen und Werten sowie eine Ablehnung von Übermacht im internationalen System beinhaltet. Beide Elemente zusammengenommen können erklären, warum sich die meisten Neorealisten in ihren policy-Schriften zumeist gegen militärische Interventionen wenden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Realisten glauben, dass sich die Welt grundsätzlich verbessern lässt. Jedoch geht es ihnen bei ihrem politischen Engagement darum, die schlimmsten Auswüchse, die aus der anarchischen Struktur des internationalen Systems resultieren, einzudämmen (Kaufmann 2004, S. 6–7).

Um diese These zu entfalten, wird zunächst einmal das neorealistische Selbstverständnis als eine nicht normativ argumentierende Theorie kritisch hinterfragt und nach möglichen normativen Annahmen in der neorealistischen Theorie gesucht. Im Zentrum dieses Kapitels steht die „Theory of International Politics“ von Kenneth Waltz. In Anlehnung an John Mearsheimer (2009, S. 253) wird argumentiert, dass Waltz’ „Theory“ im Kern eine normative Theorie ist, die ein perfektes internationales System beschreibt, in dem sich Großmächte durch Mäßigung auszeichnen und diese Mäßigung zur Stabilität führt. Der weitestgehende Verzicht auf Hegemoniestreben seitens der Großmächte sowie der Durchsetzung partikularer Gerechtigkeitsvorstellungen produziert eine Stabilität im internationalen System, die kriegsverhindernd wirkt. Gerade die Konzentration auf die Frage, wie sich Großmächtekonflikte verhindern lassen, machen die neorealistische Theorie zu einer Friedenstheorie (Trachtenberg 2003, S. 194). Dann wird gezeigt werden, wie die normativen Postulate neorealistischer Theorie Neorealisten dahingehend beeinflussen, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen, obwohl die neorealistische Theorie prima facie skeptisch hinsichtlich der Beeinflussung politischer Entscheidungen durch öffentliche Diskurse ist.

Obgleich es in der Forschung zum Realismus eines Hans Morgenthau bereits allgemein anerkannt ist, dass er eine normative Komponente enthält, deren Ursprünge in der relativistischen Philosophie zu suchen sind und deren konkreter Ausdruck bei Morgenthau eine tiefe Skepsis gegenüber jeglicher Form von nationalistischen Universalismus ist (Masala 2005, S. 89–91), so gilt Waltz bis heute als einer wertfreien Spielart des Realismus. Diese Interpretation Waltz’ lässt sich bei einer genaueren Lektüre seiner Schriften nicht aufrechterhalten.

Wie Morgenthau, so begründet Waltz seine Version des Realismus aus einer Skepsis gegenüber den politischen Konsequenzen idealistischer Theorien in den IB. Diese würden – in letzter Konsequenz in die Praxis umgesetzt – zu demokratischen Kreuzzügen führen (Waltz 1959, S. 112–113).

Zentral für Waltz’ Kritik an idealistischen Theoretikern ist dabei seine Skepsis gegenüber der Möglichkeit, Gerechtigkeit „objektiv“ (Waltz 1979, S. 201) zu definieren. Daraus resultiert für Waltz, dass Gerechtigkeit ein Kampfbegriff für die Mächtigen ist, um die wahren Intentionen ihres Handelns zu verschleiern (Waltz 1979, S. 201). Internationale Politik im Namen der Gerechtigkeit birgt somit für Waltz immer die Gefahr von unbegrenzten und ewigen Kriegen und gefährdet somit die Grundlagen für Frieden im internationalen System (Waltz 1988, S. 42–44). Der Frieden als zentrales Motiv der theoretischen Überlegungen von Waltz durchzieht alle seine Schriften; Pangle und Ahrensdorf haben in diesem Zusammenhang nachgewiesen, dass Waltz dem friedensfördernden Realismus eines Thomas Hobbes (Pangle und Ahrensdorf 1999, S. 239) näher steht, als den eher kriegsbegrüßenden und kriegsbefördernden Realismen eines Thukydides, Machiavellis oder Treitschkes.

Um die Gefahr globaler, ewiger Kriege zur Durchsetzung subjektiv empfundener oder definierter Gerechtigkeitsvorstellungen zu minimieren, entwickelt Waltz die Balance of Power als Alternative zur Weltregierung, die er in Anlehnung an Kants Bonmot von der Friedhofsruhe als eine Form des Weltbürgerkrieges kennzeichnet (Waltz 1959, S. 113).

Um zu verstehen, warum Balance of Power aus der Sicht von Kenneth Waltz kriegshemmend wirkt, ist es zunächst notwendig, sich mit seiner Kritik am Kantschen Liberalismus zu beschäftigen.

Waltz argumentiert, dass selbst, wenn sich alle Staaten und alle Bürger auf die gleichen liberalen republikanischen Prinzipien einigen würden und im Zuge dessen alle Staaten sich zu liberalen Demokratien transformieren würden, diese intern gleich strukturierten Staaten unter den Bedingungen eines anarchisch dezentralisierten Systems agieren und interagieren würden. Unter dem Faktum der Anarchie würden selbst liberale Staaten dazu geneigt sein, ihre Interessen gegebenenfalls unter Rückgriff auf militärische Mittel durchzusetzen. Da es auch in einer Welt liberaler Demokratien keine Instanz gibt, die Rechtsbruch automatisch sanktioniert, würden auch die Beziehungen liberaler Demokratien untereinander immer mit dem Problem des Misstrauens über die „wahren“ Intentionen des anderen konfrontiert sein und jeder Staat müsste zu jedem Zeitpunkt damit rechnen, dass ein anderer Staat (auch wenn es sich dabei um eine liberale Demokratie handelt) seine Interessen gegebenenfalls mit Gewalt durchsetzt (Waltz 1979, S. 88). „The recurrence of war is explained by the structure of the international systems“ (Waltz 1988, S. 620).

Da die Frage der internen Strukturierung von Staaten nach Waltz kaum Einfluss auf die Frage nach Krieg und Frieden im internationalem System hat, müssen Mechanismen, die Kriege zwischen Staaten im internationalem System minimieren, auf der Ebene der Struktur des internationalen Systems gesucht werden. Das Gleichgewicht der Mächte, welches Waltz in seiner Theorie zu einem Gesetz erhebt, ist ein solcher Mechanismus, dem er die Funktion zuschreibt, Kriege auf der Ebene des internationalen Systems (dies sind Kriege zwischen Großmächten) zu minimieren.

In der Beschreibung der Funktionsweise der Balance of Power vermischt Waltz deskriptive und normative Elemente, ohne dass er sich dieses Spannungsverhältnisses bewusst ist oder es thematisiert. Denn einerseits erklärt Waltz die Entstehung von Balance of Power aus strukturellen Zwängen (Masala 2005, S. 55–58), andererseits empfiehlt er Großmächten die Balance anzustreben, um die Übermacht eines Staates im internationalen System zu verhindern (Waltz 1979, S. 131–132; 1964, S. 882–884). Dem liegt die Überlegung von Waltz zugrunde, dass eine systemische Konfiguration, die durch Übermacht eines Einzelnen gekennzeichnet ist, mit Instabilität im internationalen System einhergeht.

Für Waltz ist Unsicherheit ein Charakteristikum, unter dem alle Staaten im internationalem System agieren und interagieren. „States, like people, are insecure in proportion to the extent of their freedom. If freedom is wanted insecurity must be accepted“ (Waltz 1979, S. 112). Da das internationale System ein „large number system“ ist und in ihm große Ungleichgewichte hinsichtlich der Machtverteilung zwischen seinen Einheiten besteht, existiert eine systemweite „imbalance of power“ (Waltz 1979, S. 131), die eine beständige Gefährdung für die schwachen Staaten bedeutet. Der Umkehrschluss dieser Feststellung müsste somit lauten, dass eine ungefähre Gleichheit aller Staaten (bezogen auf die Machtverteilung) anzustreben sei, weil dann jeder Staat in der Lage wäre, für seine Sicherheit selbst Sorge zu tragen (Kissinger 1963; Kohnstamm 1964). Das Resultat solcher Gleichheit wäre die Reduzierung von Konflikten zwischen den Einheiten und die Stabilisierung des Gesamtsystems. Waltz widerspricht dieser Annahme mit einem Blick auf die Geschichte, die lehrt, dass „inequality is inherent in the state system“ (Waltz 1979, S. 131) und geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur, dass Ungleichheit zwischen den Einheiten eines anarchisch-dezentralisierten Selbsthilfesystems unvermeidbar ist, nein: Sie hat sogar Vorzüge für die Stabilität des Gesamtsystems (Waltz 1964). Entgegen der Auffassung, dass annähernde Gleichheit Stabilität produziert, wartet Waltz exakt mit der entgegengesetzten These auf. Gleichheit ist für ihn „associated with instability“ (Waltz 1979, S. 131).

In jeder politischen Gesellschaft, so argumentiert Waltz, sind eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Akteure für die Stabilität dieser Gesellschaft unverzichtbar, wobei die diversen Akteure nicht alle gleich mächtig oder gleich einflussreich sind und sein können. Diese Ungleichheit übt eine moderierende Wirkung auf die politischen Gesellschaften aus und sorgt für deren Stabilität. Der Versuch der Akteure, in einer Gesellschaft „gleich mächtig“ zu werden, würde die Stabilität dieser Gesellschaft gefährden. „ [I]n a collection of equals, any impulse ripples through the whole society“ (Waltz 1979, S. 131). Auf das internationale System übertragen folgt daraus, dass „[t]he inequality of states, though it provides no guarantee, at least makes peace and stability possible“ (Waltz 1979, S. 132). Somit ist zunächst einmal festzuhalten, dass ein internationales System, in dem nur wenige Mächte eine herausgehobene Position einnehmen, mehr Stabilität produziert als ein internationales System, in dem die Akteure durch Gleichheit geprägt sind.

Nun führt die anarchische Struktur des internationalen Systems jedoch dazu, dass die wenigen mächtigen Akteure beständig bestrebt sind, noch mächtiger zu werden, um das internationale System zu dominieren. Denn die größte Sicherheit, so die subjektive Wahrnehmung von Staaten, gibt es nur, wenn man „the only great power in the system“ (Mearsheimer 2001, S. 2) ist. Da die Übermacht eines einzelnen Staates die Sicherheit der anderen Großmächte im System bedroht, werden diese versucht sein, den stärksten Staat auszubalancieren (Waltz 1979, S. 117–128; Mearsheimer 2001, S. 41).

Eine deskriptive Theorie der IB, wie sie der Neorealismus – egal ob in der defensiven oder in der offensiven Spielart – vorgibt zu sein, müsste an dieser Stelle einhalten, da die grundlegende Dynamik der internationalen Politik aus neorealistischer Sicht dargestellt ist. Waltz hingegen – wie auch Mearsheimer – liefert jedoch eine Reihe von normativen Begründungen, warum die systemweite Dominanz eines einzelnen Staates nicht wünschenswert ist. Unter Rückgriff auf den französischen Philosophen und Schriftsteller François Fenelon argumentiert Waltz z. B., dass ein Staat mit Machtpotenzialen, die alle anderen Staaten überragen, sich nicht mehr moderat in seiner Außenpolitik verhalten wird (Waltz 1993, S. 52–53) und damit der Versuchung erliegt, anderen Staaten seine Gerechtigkeitsvorstellungen, notfalls unter Einsatz militärischer Mittel, aufzuzwingen, sich somit als Weltexekutive und zugleich als Weltpolizist (Mearsheimer 2001, S. 392) verhalten wird. Dadurch würde die Übermacht Gegenmacht provozieren (Waltz 2000, S. 36; 1988, S. 49). Bereits hier wird deutlich, dass die Ablehnung von Übermacht im internationalen System bei Waltz normativ bedingt ist, da sie Sicherheit und Frieden gefährdet. Nur wenn die Übermacht „in check by any other country or combination of countries“ (Waltz 1993, S. 52) gehalten wird, wird sie sich moderat im Sinne von weniger aggressiv verhalten und dadurch die Stabilität und Friedfertigkeit des Systems erhöhen.

Die erwarteten nachteiligen Folgen systemweiter Übermacht, die von den meisten Neorealisten geteilt wird,Footnote 20 führte nach 1990 zu diversen Überlegungen, wie die Vereinigten Staaten ihre systemweite Übermacht beibehalten könnten, ohne Gegenmachtbildung durch andere Staaten oder Staatenkoalitionen zu provozieren. Die verschiedenen Überlegungen, die in diesem Zusammenhang angestellt wurden, lassen sich alle mit dem Begriff „Kultur der Zurückhaltung“ bezeichnen. Stephen Walt (2005) z. B. empfiehl den USA, sich weitestgehend aus Konflikten in Übersee herauszuhalten und nur dann aktiv einzugreifen, wenn die nationalen Interessen der USA gefährdet sind. Eine Fortführung des globalen Engagements der USA würde, auch wenn deren Intentionen gut gemeint seien, „alarm, irritate, and at times anger others“ (Walt 2005, S. 60). John Mearsheimer (2001) und Christopher Layne (2002) empfehlen den USA, sich auf die Strategie des Offshore-Balancing zu beschränken. Diese sieht im Kern vor, dass die Vereinigten Staaten nur dann aktiv werden, wenn sich irgendwo auf der Welt eine Situation abzeichnet, in der ein anderer Staat oder eine Staatengruppe sich anschickt, die regionale Hegemonie über eine Landmasse zu erlangen. Die aus der Perspektive von John Mearsheimer und Stephen Walt traditionelle „grand strategy“ (2008, S. 339) der USA, ist die einzige Möglichkeit, so Dale Copeland (2000), Gegenmachtbildung gegenüber den Vereinigten Staaten zu vermeiden bzw. noch über einen gewissen Zeitraum hinauszuzögern.

Die Darstellung der versteckten normativen Elemente in realistischen Theorien erklärt aber noch immer nicht, warum sich Neorealisten so intensiv darum bemühen, politische Entscheidungen mit Blick auf Krieg und Frieden zu beeinflussen, obwohl sie in ihren theoretischen Schriften skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit sind, dass öffentliche und veröffentlichte Meinung oder gar akademische Ideen politische Entscheidungen beeinflussen können (Trachtenberg 2010, S. 9).

John Mearsheimer war zu Beginn der 1990er-Jahre extrem skeptisch über die Möglichkeiten mittels eines öffentlichen Diskurses politische Entscheidungen zu beeinflussen. „[P]ublic opinion about national security issues is notoriously fickle and responsive to elite manipulation“ (Mearsheimer 1990, S. 41). In seinem Buch über Lügen in der internationalen Politik zeigt er, dass Staatsmänner aus verschiedensten Beweggründen die Öffentlichkeit belügen, wenn es um Außenpolitik und auch um die Entscheidung, Krieg gegen andere zu führen, geht (Mearsheimer 2011). Dennoch ist es gerade John Mearsheimer, der sich seit Mitte der 1990er-Jahre immer wieder, sei es alleine oder mit anderen prominenten Realisten zusammen, immer dann in die öffentliche Debatte einschaltet, wenn es aus seiner Sicht darum geht, bestimmte Entscheidungen – vornehmlich der US-Administrationen zu kritisieren oder gar zu beeinflussen. Mearsheimer selbst ist es, der Hinweise darauf gibt, dass sein Engagement von starken ethischen und normativen Beweggründen geleitet wird, die unter dem Stichwort der sozialen Verantwortung der Politikwissenschaft gegenüber der Gesellschaft subsumiert werden können. Dabei – und dies ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse – stellt er sein politisches Engagement in einem direkten Zusammenhang mit seinem theoretischen Denken und begibt sich dadurch selbst in einen Widerspruch zu der immer wieder in seinen theoretischen Schriften vorzufindenden Skepsis gegenüber einem möglichen Einfluss der Agora auf die Politik.

„One thing that bothers me greatly about most political scientists today is that they have hardly any sense of social responsibility. They have hardly any sense that they’re part of the body politic and that the ideas that they are developing should be articulated to the body politic for the purposes of influencing the public debate and particular policies in important ways. They believe that theyʼre doing ‚science‘, and science is sort of an abstract phenomenon that has little to do with politics. In fact, I think exactly the opposite should be the case. We should study problems that are of great public importance, and when we come to our conclusions regarding those problems, we should go to considerable lengths to communicate our findings to the broader population argument here, by the way, for coming up with particular answers to important questions. In fact, if different scholars come up with different answers, fine. But in a democracy like the United States, you want to have a very healthy public debate about the key issues of the day. And I think that scholars can go a long way towards making that debate richer and healthier so that we can help influence the debate in positive ways“ (Mearsheimer 2002b, S. 4/7).

Zwei Sachverhalte werden durch dieses Zitat verdeutlicht. Zum einen, dass Neorealisten eine besondere Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft, die sie zumeist durch Steuergelder finanziert, sehen und zum anderen, dass Neorealisten durchaus die Möglichkeit sehen, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Denn obwohl die neorealistische Theorie davon ausgeht, dass die Struktur des internationalen Systems staatliches Verhalten beschränkt und beeinflusst, so gestehen sie dem Staatsmann und der Staatsfrau dennoch eine gewisse Entscheidungsfreiheit zu (Desch 2003, S. 420).

Und exakt diese Kombination aus Verantwortungsethik (Weber 1992 [1919], S. 70–71) und angenommenem Handlungsspielraum politischer Entscheidungsträger erklärt auch, warum sich Neorealisten so häufig durch op-eds und policy-Artikel oder durch Fernsehauftritte in der Agora betätigen. Die Verbindung beider Elemente erklärt auch, warum Neorealisten im Jahr 2004 eine Nichtregierungsorganisation namens „Coaliton for a Realistic Foreign Policy“ gegründet haben, deren mission statement deutlich macht, dass es den Gründern dieser NGO, um die Beeinflussung der öffentlichen Meinung und darüber der politischen Entscheidung geht.

„The Coalition for a Realistic Foreign Policy is a group of scholars, policy makers and concerned citizens united by our opposition to an American empire. The Coalition is dedicated to promoting an alternative vision for American national security strategy that is consistent with American traditions and values.

The Coalition has attracted interest and participation from individuals from across the political spectrum. The effort began as an informal study group, but has evolved into a formal response to the prominent think tanks and publications that are openly advocating an activist American foreign policy in which the United States would use its predominant military and economic power to promote change abroad. While few oppose the goal of political and economic liberalization, many individuals question both the morality and the efficacy of using military force and diplomatic pressure to achieve these aims“ (Coalition 2004).

Sie erklärt auch, warum prominente Neorealisten, wie Stephen Walt, zunehmend neue Medien benutzen (Blogs), um die öffentliche Debatte zu beeinflussen.Footnote 21

Und trotz der Tatsache, dass es Neorealisten nicht gelang, die Bush-Administration von ihren Plänen, einen Krieg gegen den Irak zu führen, abzubringen (Payne 2007, S. 506), zogen sich Wissenschaftler wie Waltz, Mearsheimer, Walt, Layne, Art, Pape, um nur einige zu nennen, nicht frustriert aus dem öffentlichen Diskurs über internationale Politik und amerikanische Außenpolitik zurück, sondern bleiben bis heute in diese Debatte involviert. Die Tatsache, dass sich Neorealisten nicht „beleidigt“ aus der öffentlichen Debatte mit dem Verweis darauf, dass gesellschaftliche Diskurse politische Entscheidungen nicht beeinflussen können, wie sie es in ihrer Theorie vermuten, verabschiedet haben, kann als Indiz für die Tatsache herangezogen werden, dass die in der neorealistischen Theorie implizit vorhandenen normativen Annahmen einen solchen Rückzug nicht zulassen.

Wenn man akzeptiert, dass die neorealistische Theorie auch normative Aussagen über die Frage trifft, wie die internationale Politik beschaffen sein soll, dann erscheint das policy-Engagement neorealistischer Theoretiker nur folgerichtig und lässt sich somit nicht von der theoretischen Denkweise trennen.

8 Fazit: Die Aufgaben des Neorealismus heute und in Zukunft

Wenn der Neorealismus, wie auch der Realismus, keine einheitliche Theorie darstellt, sondern vielmehr ein Konglomerat unterschiedlicher Ansätze ist, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass gewisse Annahmen über die Tiefenstruktur der internationalen Politik geteilt werden, dann stellt sich die Frage, welche Rolle all diesen Realismen in der theoretischen Debatte der Zukunft zukommen soll.

Zunächst einmal sei angemerkt, dass die in den letzten Jahren stärker betriebene Ausrichtung realistischer Theorien an Fragen, die sowohl von politikwissenschaftlichen als auch von politischem Interesse sind, mit aller Konsequenz weiter betrieben werden sollte. Ferner sollte der Neorealismus stärker in einen Dialog mit anderen Theorien treten (Hellmann 2002) – und zwar mit dem Ziel, die dort gewonnenen Einsichten stärker in die eigenen Arbeiten zu inkorporieren. Mögliche ontologische und epistemologische Barrieren dürfen dabei, wenn es dem Ziel dient, die beste Antwort auf eine Frage zu finden, getrost ignoriert werden. Ein interessanter Dialogpartner hierfür wären postmoderne Ansätze. Interessanterweise treffen sich postmoderne und realistische Diskurse dort, wo es um normative Empfehlungen an die reale Politik geht. Chantal Mouffe zum Beispiel fordert die Schaffung einer multipolaren Weltordnung, um Übermacht auszubalancieren. „[T]he only conceivable strategy“, so schreibt sie, „for overcoming world dependence on a single power is to find ways to ‚pluralize‘ hegemony“ (Mouffe 2005, S. 118). Und Danilo Zolo, ein postmoderner Philosoph aus Italien, spricht sich zum Zwecke der Einhegung US-amerikanischer Übermacht im 21. Jahrhundert für die Schaffung regionaler Blöcke aus (Zolo 2002, S. 85). Unlängst hat Giorgio Agamben die Schaffung eines lateinischen Imperiums in Europa unter französischer Führung vorgeschlagen, um die ökonomische und politische Hegemonie Deutschlands in der EU auszutarieren (Agamben 2013). All dies klingt wie viele policy-Empfehlungen, die realistisch arbeitende Autoren in der Vergangenheit gegeben haben (Waltz 2000). Zur Überraschung einiger Fachkollegen hat Peter Gowan, ein britischer marxistischer Historiker, unlängst angemerkt, dass die Linke von John Mearsheimers „Tragedy of Great Power Politics“ mehr lernen könne, „than from any number of treaties from the coming wonders of global governance“ (Gowan 2002, S. 67).

Zunächst einmal erscheinen problemlösungsorientierte und kritische Theorie, so die berühmte Unterscheidung von Robert Cox (1981, S. 128–130), als seltsame Bettgefährten. Doch ein genauer Blick, insbesondere wenn es um Empfehlungen an die praktische Politik geht, zeigt, dass beiden durchaus die Geisteshaltung gemeinsam ist, etablierte Ordnungen kritisch zu hinterfragen oder herauszufordern trotz des grundlegenden Unterschiedes, dass Realisten skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit von „human emancipation“ (Cox 1996, S. 53) sind. Realisten sollten zukünftig akzeptieren, dass ihre Theorien neben einer analytischen auch eine normative Dimension haben (Masala 2011, 2014, S. 161–171). Wird diese doppelte Dimension realistischer Theorie von Realisten akzeptiert, öffnet sich die diskursive Tür für einen fruchtbaren Dialog mit postpositivistischen Theorieansätzen. Seitens der Postpositivisten sollte aber auch die Einsicht greifen, dass eine positivistische Grundhaltung in Wissenschaftsfragen kein Hindernis ist, um sich an öffentlichen Diskursen zu beteiligen und dazu auch nicht im Widerspruch steht.

Eine wichtige Aufgabe neorealistisch argumentierender Forschung besteht – gerade in der heutigen Zeit, in der der Neorealismus seine Rolle als führendes Paradigma der Disziplin IB eingebüßt hat und nicht selten als degeneriert betrachtet wird – darin, die Rolle der „skeptischen Gegenwartswissenschaft“Footnote 22 einzunehmen, die in den 1990er-Jahren dem Konstruktivismus zufiel. Denn in Zeiten, in denen konstruktivistischen Arbeiten und anderen dem Post-Positivismus verpflichteten Ansätzen die Rolle einer neuen Orthodoxie an Universitäten zufällt, bedarf es Forschern, die deren Ergebnisse kritisch hinterfragen. Für manch etablierten Neorealisten mag die Vorstellung des Neorealismus als einer „skeptischen Gegenwartswissenschaft“ nur schwer mit ihrem eigenen Verständnis vom Neorealismus als der einzig wahren Theorie in Einklang zu bringen sein. Nichtsdestotrotz liegt letzten Endes in der von mir angedeuteten Entwicklung die Zukunft neorealistischer Theorie im 21. Jahrhundert.