In der Netflix-Serie „Bridgerton“, die bisher Streaming-Rekorde gebrochen hat, geht es um eine kinderreiche Familie im Londoner Stadtteil Mayfair der Regency-Ära. In jeder Staffel erreicht einer der acht Bridgerton-Sprösslinge das heiratsfähige Alter und muss einen Partner finden. Und jedes Mal sieht sich das zu verheiratende Kind hin- und hergerissen zwischen Vernunftehe und Liebesheirat. Und am Ende siegt stets – die Liebe.
Es ist eine fiktive Geschichte, die allerdings auf wahren Begebenheiten beruht. Unter der englischen Königin Charlotte (1744 bis 1818) wurden jedes Jahr die Debütantinnen und Debütanten adeliger Familien auf einem Ball vor der Königin in die Gesellschaft eingeführt. Dieses Ereignis geriet Ende der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts wegen seines Anachronismus zunehmend in die Kritik und wurde unter Königin Elisabeth II. endgültig abgeschafft.
Warum die Bälle sich in der Streaming-Ära einer derartig großen Beliebtheit erfreuen, ist ein fast unerklärliches Phänomen. Alles dreht sich um die klassische Frage, wie man als Erwachsener in der Gesellschaft reüssieren kann. Dabei gibt es diese aristokratische Gesellschaft längst nicht mehr und die existenziellen Fragen unserer Zeit sind gänzlich andere. Doch viele scheinen sich in den Träumen dieser kindlichen Märchenwelt wohlzufühlen.
Manchmal wird man den Verdacht nicht los, diese Serie habe eine nostalgische KI geschrieben, weil sie aus derart vielen Plottwists bekannter Liebesromane, romantischer Filme und Schicksalsgeschichten besteht. Vielleicht liegt der „Bridgerton“- Erfolg deshalb auch schlicht in der Vorhersehbarkeit der Erzählmuster begründet und dem sich stets wiederholenden Inhalt, der das Belohnungssystem der Zuschauer bedient, weil sie immer schon genau wissen, was passieren wird.
Gebärdensprache und Rollstühle
Das Bekannte ist ja, wie die Netflix-Produzenten wissen, oft das Angenehmste. Doch Hegel sagt: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“ Einen Erkenntnisgewinn versucht die kluge Produktion dadurch zu erzeugen, dass sie unsere Sehgewohnheiten durch einen diversen Cast bricht und hinterfragt. In der neuen Staffel kommt abgesehen vom ausgewogenen Einsatz schwarzer und asiatischer Schauspieler noch die Diversifizierung durch Gebärdensprache und Rollstühle hinzu.
Neben den jeweils neuen Paaren, die in ihrer Liebe erst am Ende eines für heutige Verständnisse unerklärlichen Labyrinths aus aristokratischen Irrungen und Wirrungen zueinanderfinden, gibt es in dieser Serienwelt zwei ewige Heldinnen, die etwas moderner daherkommen.
Es sind die Freundinnen Eloise Bridgerton und Penelope Featherington. Eloise (Claudia Jessie) ist die widerspenstige Tochter der Bridgertons, Penelope (Nicola Coughlan), genannt Pen, ist die Tochter der Nachbarsfamilie Featherington. Unter dem Pseudonym Lady Whistledown schreibt Pen ein unregelmäßig erscheinendes Klatschblatt, in dem sie spitzzüngig die Geheimnisse der High Society ausplaudert und, oft folgenschwer, ihre Beobachtungen zu möglichen und tatsächlichen romantischen Beziehungen verbreitet.
In der neuen Staffel ist Pen allerdings nicht nur als Lady Whistledown die Stimme aus dem Off, sondern auch im realen Liebesgeschehen die Hauptfigur. Sie möchte nun einen Mann finden, denn von einer Heirat erhofft sie sich, endlich von zu Hause ausziehen und ihre schreckliche Mutter verlassen zu können. Dabei ist sie seit der ersten Staffel heimlich in Eloises Bruder Colin verliebt.
Es gibt noch ein zweites tragendes Prinzip von „Bridgerton“ neben der immer siegenden Liebe: das regelmäßig stattfindende „Glow-Up“ der Charaktere. Pen entspricht nicht den Schönheitsidealen der Zeit und unterzieht sich erfolgreich einem solchen „Glow-Up“ mit neuem Haarschnitt und neuen Kleidern. Sie legt den Wedgwood-Terrinen-Look ab und hebt ihre verführerische Seite durch betörend flimmernde Kleider mit tiefem Ausschnitt hervor. Doch auch innerlich verändert sie sich und wird selbstbewusster.
Viele Philosophen haben diese Selbsttransformation zu beschreiben versucht. Sei es Nietzsche mit seiner Theorie zur Selbstüberwindung, seien es Kierkegaards Stadien des Lebenswegs, Foucaults Technologien des Selbst oder Carl Jungs Prozess der Selbstverwirklichung und der Integration verschiedener Teile des Selbst. Das einstige Mauerblümchen Pen wird dabei zur verführerischen Sirene mit beeindruckendem Selbstbekenntnis – und Colin entdeckt seine lang unterdrückten Liebesgefühle für sie.
Wird er sich zu seinen Gefühlen bekennen können? Wer das Muster der Serie kennt, wird die Antwort schon kennen und sollte die Serie als „guilty pleasure“ trotzdem schauen. Die fantastische Nicola Coughlan als Pen und das Knistern mit ihrem Filmpartner Luke Newton lohnt die Auszeit allemal.