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Privilegien Editorial Neustart der Privilegienkritik. Ein Plädoyer Privilege Studies. Einführung und Überblick Gerechtigkeit durch Ungleichbehandlung? Eine rechtshistorische Betrachtung des Privilegs White Privilege. Das gute Leben auf den Schultern der Anderen Privateigentum als Privileg Erscheinung und Gegenstand: Privilegien im Bildungsbereich Vom Nutzen und Schaden eines Begriffs. Kleine Diskursgeschichte des „Privilegs“

Vom Nutzen und Schaden eines Begriffs Kleine Diskursgeschichte des „Privilegs“ - Essay

Jörg Scheller

/ 16 Minuten zu lesen

Der Begriff des „Privilegs“ ist im heutigen Sprachgebrauch so schwammig und tendenziös geworden, dass er Teile der Realität, die er verändern soll, nicht adäquat erfasst und sie stattdessen verzerrt. Zudem ist nicht jede Ungleichheit auf „Privilegien“ zurückzuführen.

Der Begriff des Privilegs hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Traditionell meint „Privileg“, von lateinisch privus (einzeln, eigentümlich, gesondert) und lex (Gesetz), ein Vor- oder Sonderrecht, das einem Individuum oder einer Gruppe explizit von einer höheren Machtinstanz gewährt wird. In vormodernen Zeiten, als in hierarchisch geordneten Gesellschaften mit geringer sozialer Mobilität keine Rechtsgleichheit im Sinne heutiger liberaldemokratischer Verfassungsstaaten bestand, konnten Mächtige – etwa Fürsten, Könige oder Päpste – nach Gutdünken Menschen bevorteilen. Dekrete, Schutz- oder Freibriefe sind typische Dokumente dieser Zeit.

Während im heutigen Deutschland jeder erwachsene Mensch prinzipiell das Recht hat, unter bestimmten Auflagen eine Getreidemühle zu betreiben, bestanden in deutschen Herzogtümern der Neuzeit sogenannte „Zwangsmühlen“: Nur wer vom Herzog entsprechend privilegiert wurde, durfte Müller werden. Ähnlich verhielt es sich mit der Religionsfreiheit. Als im Königreich Württemberg die Evangelische Brüdergemeinde eine pietistische Idealstadt gründen wollte, bedurfte sie eines Privilegiums des Königs Wilhelm I. Er gewährte es im Jahre 1818 zähneknirschend, weil die arbeitsamen Christen sonst nach Russland oder Amerika ausgewandert wären. Auch Bildung war lange Zeit kein Recht, auf das ein allgemeiner Anspruch bestand, sondern ein Privileg für wenige, eben ein Sonder- oder Vorrecht. Hier konnte die Privilegierung sogar gewaltsam erfolgen: Friedrich Schiller beispielsweise wurde von Herzog Karl Eugen gegen den Willen seiner Eltern 1773 an die Militärische Pflanzschule auf Schloss Solitude bei Stuttgart zwangsverpflichtet. Das aufstrebende Herzogtum Württemberg bedurfte neuer Eliten, und der junge Schiller hatte das Pech – oder das Glück? – als hochbegabt zu gelten. Dass er an der autoritär geführten Institution unter seiner „privilegierten“ Position litt, ist ein gutes Beispiel für die Ambivalenzen des Bessergestelltseins. Je nach Perspektive kann ein und dieselbe Position für die einen ein Privileg sein und für die anderen eine Qual.

Derzeit begegnet uns der Begriff „Privileg“ weniger im Bereich des Rechts als vielmehr im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, in denen manche Gruppen anderen Gruppen attestieren, privilegiert zu sein: „Check your privilege!“ ist ein häufig zu vernehmender Weckruf, dessen Echo in Feuilletons, Seminarräumen oder Mitarbeiterschulungen international tätiger Unternehmen widerhallt. Die Zuschreibung „privilegiert“ hat dabei einen wenn nicht immer eindeutig abwertenden, so doch stets mahnenden und moralischen Beiklang. „Privilegiert“ meint hier weniger eine selbst verdiente und gerechte Besserstellung als vielmehr eine unverdiente und ungerechte.

Vielsagend ist, dass man sich nicht selbst „privilegieren“ kann. Privilegiert wird man, entweder durch konkrete Personen und Institutionen in höheren Machtpositionen oder durch diffuse, die Gesellschaft prägende „Strukturen“. Damit steht die jüngere Privilegienkritik in der Tradition linken Denkens, dessen Axiome weniger die Eigenmächtigkeit des Individuums (wie im Liberalismus) oder die angeblich naturgegebenen Hierarchien (wie im rechten Denken) betonen, sondern historisch kontingente Klassengegensätze. Die Rede von „Privilegien“ lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was uns bestimmt, nicht auf das, was wir bestimmen; auf das, was die Gesellschaft mit uns macht, nicht auf das, was wir mit der Gesellschaft machen.

So gilt man als „privilegiert“ aufgrund von Vorteilen, die man etwa durch eine bestimmte Hautfarbe, ein bestimmtes Geschlecht, eine bestimmte sexuelle Orientierung, eine bestimmte Herkunft, einen bestimmten Bildungshintergrund, ein bestimmtes Alter oder ein bestimmtes Wohlstandsniveau angeblich automatisch genießt. An diesem Punkt gerät der Motor des Privilegienchecks jedoch ins Stottern. Denn nicht immer ist einfach und klar zu bestimmen, ob die vorteilhafte Lage eines Individuums oder einer Gruppe eigenen Verdiensten oder willkürlichen Begünstigungen durch Dritte zu verdanken ist. Während manche Familien Einfluss und Vermögen über Generationen erhalten, steigen andere Familien unter denselben äußeren Bedingungen ab. Und nicht immer ist es einfach, eine nachteilige Lage eines Individuums oder einer Gruppe monokausal beispielsweise auf Rassismus zurückzuführen.

Verzerrungen

Damit ist ein Grundproblem des gegenwärtigen Diskurses über Privilegien umrissen. Nicht nur werden die Unterschiede zwischen der rechtlichen und der sozialen Dimension verwischt. „Privileg“ kann schlicht alles bedeuten – gesund zu sein, über Bildung zu verfügen, ein Mann oder eine weiße Frau zu sein, im globalen Norden geboren zu sein, Erfolg im Beruf zu haben, und so weiter. Der Psychologe Nick Haslam hat dafür den Ausdruck concept creep geprägt: Phänomene, die als problematisch, inakzeptabel oder intolerabel gelten, werden immer breiter definiert. Das Privileg steht diesbezüglich in einer Reihe mit Begriffen wie „Phobie“, „Trauma“, „Rassismus“, „Gewalt“. Zwar hat diese Begriffsausweitung auch Vorteile, etwa die Sichtbarmachung subtilerer Formen von Benachteiligung und Diskriminierung, aber die Nachteile liegen auf der Hand: Wenn es einen „Rassismus ohne Rassen“ gibt, dann gibt es auch „Privilegiertheit ohne Privilegien“. Solche diskursiven Winkelzüge mögen originell sein, erschweren aber nebst basaler Verständigung auch Versuche, spezifische Aspekte der Realität auf spezifische Weise zu analysieren und für spezifische Probleme spezifische Lösungen zu finden. Schwammige Begriffe mit moralischer Schlagseite haben den Vorteil und Nachteil zugleich, dass man sie nach Belieben instrumentalisieren kann: „Gerade in der Ungenauigkeit liegt die Macht des moralischen Vokabulars, weil man es je nach Kontext taktisch einsetzen und sich damit vor Kritik und Gegenangriffen schützen kann.“

Als Kampfbegriff ist das Privileg Teil jener emotionalen und stark polarisierten culture wars, welche die hybride Medienöffentlichkeit des von Polykrisen geprägten 21. Jahrhunderts kennzeichnen und in denen Machtpositionen – oder die Zugänge zu ihnen – neu ausgehandelt werden. Etwas holzschnittartig formuliert, treffen dabei progressive Gruppen, die Minderheitenanliegen vertreten und nach Macht streben, auf von Haus aus konservativer ausgerichtete Mehrheitsgesellschaften oder Eliten, die ihre bestehenden Machtpositionen verteidigen und als privilegiert gelten. Dass in diesen Begegnungen, die entgegen der weitverbreiteten Filterblasen-Theorie durch Social-Media-Netzwerke nicht verhindert, sondern sogar intensiviert werden, nicht immer die subtilsten Argumentationsweisen und die höflichsten Formen der Auseinandersetzung dominieren, liegt in der Natur der Sache.

Bei der Privilegienkritik geht es in erster Linie um Macht und erst in zweiter Linie um sachliche Analysen und wissenschaftliche Wahrheit. Letztere könnte den eigenen Anliegen gar zuwiderlaufen und die erhoffte politische Wirkung durchkreuzen. Das ist im Aktivismus nicht anders als in demokratischen Parlamenten, wo ebenfalls mit harten diskursiven Bandagen gekämpft wird. Stellt ein solcher Umgang mit Kommunikation auch einen Sachzwang im Ringen um Sichtbarkeit, Teilhabe, Mitbestimmung und nicht zuletzt materielle Ressourcen dar, also überall dort, wo es um konfligierende Interessen geht, so droht doch stets die Gefahr, dass die Auseinandersetzung immer aggressiver wird und Verständigung, die Ziel eines jeden demokratisch-pluralistischen Miteinanders sein sollte, nicht mehr möglich ist.

Dies ist spätestens dann der Fall, wenn schwammige, moralische und taktisch instrumentalisierte Begriffe nicht mehr dem Begreifen einer potenziell allen Menschen zugänglichen Realität dienen, sondern primär dem Angreifen. Der Medientheoretiker Vilém Flusser hat in diesem Zusammenhang unterschieden zwischen offenem Dialog, der Neues hervorbringt, und autoritärem Diskurs: „Der Diskurs ist ein Prozess, bei dem der Sender eine bestehende Information an den Empfänger sendet (…) Der Dialog hingegen ist ein Prozess, bei dem verschiedene Inhaber von zweifelhaften und bezweifelten Teilinformationen versuchen, durch Austausch dieser Teilinformationen eine neue Information zu erreichen. Dies verleiht dem Dialog einen zugleich revolutionären und zirkulären Charakter.“

Sind Begriffe Instrumente eines so verstandenen „Diskurses“, so ignorieren oder verzerren sie, genauer gesagt: verzerrt der soziale Gebrauch der Begriffe die Realität auf eine Weise, dass die erwünschte Wirkung gar nicht eintreten kann, da eben jene Realität, die verändert werden soll, nicht richtig erfasst wird. Der Diskurs sendet stets nur die gleiche, bereits feststehende Information, auch wenn sich die Verhältnisse geändert haben. Das Resultat ist, dass sich die Auseinandersetzungen im Kreise drehen, destruktive Züge annehmen und schlussendlich in Gewalt, ob psychische oder physische, umschlagen. In seinem „Terrestrischen Manifest“ gibt der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour deshalb auf die alte Lenin-Frage „Was tun?“ eine hintersinnige Antwort: „Zunächst beschreiben. Wie könnten wir politisch handeln, wenn wir vorher nicht Lebewesen für Lebewesen, Kopf für Kopf, Zentimeter für Zentimeter inventarisiert und vermessen haben, woraus sich das Terrestrische für uns zusammensetzt? Wir könnten dann zwar kühne Thesen propagieren und für respektable Werte eintreten, aber unsere politischen Affekte liefen ins Leere.“

Genau so verhält es sich auch mit den aktuellen Diskussionen über Privilegien – politische Affekte laufen ins Leere. Der Begriff des „Privilegs“ ist so schwammig und tendenziös geworden, dass er Teile der Realität, die er verändern soll, nicht adäquat erfasst und sie stattdessen verzerrt. Er ist historisch-empirisch unscharf und, im Sinne Flussers, oft Teil eines Diskurses, nicht eines Dialogs. Dort, wo von „Privilegien“ die Rede ist, wird häufig mehr verdunkelt als erhellt, eben weil der Begriff einerseits pauschal kritisch bis abwertend konnotiert ist und andererseits alles Mögliche meinen kann – allgemeine Vorteile und spezifische Vorrechte, selbst erarbeitete Verdienste und willkürlich gewährte Begünstigungen, Zufall und Determiniertheit. Das lädt zur Willkür ein.

Grundsonderrechte?

Wie aber ist es dazu gekommen, dass das „Privileg“ einerseits immer breiter gefasst und andererseits immer kritischer konnotiert wird? Die jüngere Verwendung des Begriffs geht auf Theoretikerinnen und Social-Justice-Aktivistinnen aus dem angloamerikanischen Raum wie Peggy McIntosh zurück. In ihrem einflussreichen, autobiografisch gefärbten Artikel „White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack“ von 1989 definiert McIntosh Privilegien wesentlich ex negativo: In einer bestimmten Hinsicht keinen Nachteil zu haben, ist für sie gleichbedeutend damit, privilegiert zu sein. Gerecht behandelt zu werden wird zum „Privileg“. Einerseits ist McIntoshs Vorgehen gewitzt: Anstatt auf die Benachteiligten zu fokussieren, fokussiert sie auf diejenigen, die Vorteile haben. So dekonstruiert sie einen paternalistischen Blick auf die „Armen“ und „Schwachen“. Andererseits verliert der Begriff „Privileg“ so seine spezifische Bedeutung und wird zum Plastikwort.

Denkt man McIntosh konsequent zu Ende, so gibt es eigentlich keine Grundrechte und Menschenrechte, sondern Grundsonderrechte und Menschenvorrechte. Die Aktivistin war sich dessen durchaus bewusst und hielt in ihrem Text fest: „Mir erscheint das Wort ‚Privileg‘ heute als irreführend. Gewöhnlich denken wir bei Privilegien an einen bevorzugten Status, sei er verdient oder durch Geburt oder Glück verliehen. Doch einige der von mir hier beschriebenen Bedingungen führen auf systematische Weise zu einer Übermacht bestimmter Gruppen. Ein solches Privileg verleiht einfach eine Vormachtstellung aufgrund der Rasse oder des Geschlechts.“

McIntosh ist überzeugend, was ihre Motivationen und Intentionen anbelangt. Überall dort, wo Macht ungerecht verteilt ist; wo Hierarchien unhinterfragt verfestigt worden sind; wo Menschen durch ideologische, wertende Gruppenzuschreibungen ihrer Individualität beraubt werden, sind Widerspruch und Widerstand geboten. Dafür bedarf es zunächst einmal schonungsloser Selbstreflexion. Für diese wiederum müssen eingeschliffene Muster komfortabler Selbstverortung aufgebrochen werden. Weniger überzeugend sieht es auf der methodologischen und terminologischen Seite aus. Nicht nur verfestigt McIntosh aufs Neue angeblich homogene Gruppenidentitäten, anstatt sie aufzubrechen. Sie erteilt auch dem Begriff „Privileg“ zunächst eine Absage, nur um das, was an seine Stelle treten soll, doch wieder „Privileg“ zu nennen und sich den Kampf gegen white privilege auf die Fahnen zu schreiben. Das ist ebenso wenig konsistent wie die Tatsache, dass McIntosh zwar zwischen unverdienter Macht, die systematisch weitergegeben wird, und verdienter Stärke differenziert – doch nur, um Letztere weitestgehend auszublenden.

Dass McIntosh bis heute auf dem Begriff „Privileg“ beharrt, dürfte nicht zuletzt an dessen unzeitgemäßen, an die Vormoderne erinnernden Nebenbedeutungen liegen. Damit eignet er sich gut als Kampfbegriff: Wer als privilegiert markiert ist, gehört nicht zur egalitären Moderne. Eine analytisch präzise, historisch fundierte und differenzierte Begriffsbegründung sowie ein sorgfältiges Studium der Kontexte, auf die sich der Begriff bezieht, ist für diese Markierung nicht zwingend, ja sogar hinderlich. Auch hinsichtlich des Begriffs „weiß“, als dessen Sidekick das „Privileg“ seine Renaissance erlebt, sind McIntoshs Ausführungen schwammig. Als Sammelbegriff ist white privilege schlicht zu groß – was und wer ist eigentlich mit „weiß“ gemeint? Die biologische Hautfarbe oder das ideologische Konstrukt? Die Selbstidentifikation oder die Fremdidentifikation? Wo beginnt, wo endet „weiß“? Und was ist mit der faktischen Mehrheit der Menschheit, nämlich sogenannten mixed-race people? Derart heterogene und widersprüchliche Phänomene für aktivistische Zwecke unter einen Begriff zu subsumieren, ist heikel, ganz zu schweigen von der genannten Entgrenzung des Begriffs „Privileg“ hin zur Bedeutung „alles, was einer Person nicht zum Nachteil gereicht“.

Dass diese begriffliche Nachlässigkeit Schule macht, zeigt sich beispielhaft in einer Ausgabe der Populärphilosophiesendung „Bleisch & Bossart“ im Schweizer Rundfunk, in der behauptet wird, Privilegien seien in der Vergangenheit „nicht aufgrund eines Verdienstes“ verliehen worden, was schlicht nicht stimmt. In dieser Behauptung kristallisieren sich das quintessenzielle Vorurteil und die dogmatische Setzung heutiger Privilegiendiskurse aus. Wer es gut hat, hat das willkürlichen, also ungerechten Begünstigungen zu verdanken. Das mag, von Fall zu Fall, auch zutreffen. Entscheidend ist jedoch das Nicht-Gesagte: Die eigene Leistung, die eigene Freiheit, die eigene Verantwortung, die soziale Mobilität in liberalen Demokratien – das auch nur zu erwähnen, wäre ja ein Lob der kalten Meritokratie.

In Wahrheit wurden Privilegien selbst in vormodernen Zeiten nicht nur in Form willkürlicher Gnadenakte verliehen. Es war durchaus möglich, durch bestimmte Leistungen oder das Eingehen von Risiken in den Genuss von Privilegierungen zu kommen. So konnten etwa (männliche) Bewohner des Römischen Reiches Bürgerrechte erwerben, indem sie Militärdienst leisteten („Militärdiplom“). Ausschlaggebend war ihre Entscheidung, ein Risiko einzugehen. Ähnlich verhielt es sich mit Deutschen, die im 19. Jahrhundert nach Russland auswanderten. Dort erhielten sie Privilegien wie Steuerbefreiung oder Religionsfreiheit, waren also in dieser Hinsicht bessergestellt als jene, die in der Heimat blieben. Doch dafür hatten sie Leistungen zu erbringen, etwa die Urbarmachung von Land, und ein Risiko einzugehen, eben das Verlassen der vertrauten Umgebung und den Aufbruch in eine ungewisse Zukunft. Solche bedingten Privilegierungen bestehen bis heute, im Guten wie im Schlechten.

Um ein drastisches Beispiel zu nehmen: Im Krieg Russlands gegen die Ukraine können Schwerverbrecher eine Begnadigung erhalten, wenn sie sich bereit erklären, für den Kreml zu kämpfen. Überleben sie die Gefechte, wird ihnen die Strafe erlassen und sie kehren zurück ins „normale Leben“. Im Vergleich mit anderen Straftätern sind sie eindeutig „privilegiert“, sie genießen ein Sonderrecht. Dieses Sonderrecht ist jedoch an Bedingungen geknüpft, zu denen das Eingehen von Risiken gehört.

Auch Menschen der Mittel- und Oberschicht, die unter vorteilhaften Bedingungen ins Leben starten, müssen Leistungen erbringen, um diese Bedingungen aufrechtzuerhalten. Tun sie das nicht, steigen sie ab. Gehen sie keine Risiken mehr ein, laufen sie Gefahr, dass Fortschritt und Wachstum erlahmen. Manche Menschen steigen aus unvorteilhaften Startpositionen auf, andere steigen aus vorteilhaften Startpositionen ab oder halten gerade mal so das von ihren Vorgängern erreichte und hinterlassene Niveau.

Nicht jeder soziale Unterschied, nicht jede Ungleichheit kann somit auf „Privilegien“ zurückgeführt werden, wie sich an weiteren Beispielen verdeutlichen lässt. Dass ein Mitglied der Zeugen Jehovas, das von der Glaubensgemeinschaft dazu angehalten wird, seinen Ehrgeiz nicht aufs Geschäftsleben zu richten, in der Einkommensstatistik schlechter abschneidet als ein atheistischer Highperformer, hat nichts mit „Privilegierung“ zu tun, sondern mit der Entscheidung, ein Leben auf eine bestimmte Weise zu leben. Und wessen Kultur die Heirat innerhalb der eigenen Familie erlaubt, muss Letztere nicht verlassen und wird andere Erfahrungen machen als Mitglieder einer Kultur, die nur außerhalb der Familie ehelichen dürfen und so in ein neues soziales Umfeld gelangen. Infolgedessen sind neue Sozialkompetenzen und Kulturtechniken gefragt, die sich als Vorteil erweisen können – der Anthropologe Joseph Henrich etwa sieht den Aufstieg des christlichen Westens in genau dieser Einschränkung der Freiheit bei der Partnerwahl durch die katholische Kirche, nämlich im Verbot der Vetternheirat, begründet. Auch das hat wenig mit „Privilegierung“ zu tun, eher könnte man mit Michel Foucault von nicht-intendierten produktiven Folgen einer eigentlich repressiv gedachten Maßnahme sprechen.

Differenzierungen

Zu untersuchen, warum es in welchen Fällen und unter welchen Bedingungen dazu kommt, dass die einen in dieser Hinsicht und die anderen in jener Hinsicht besser oder schlechter gestellt sind, und was „besser“ und „schlechter“ für welche Gruppen jeweils bedeutet, sollte das Ziel von Kritik an Ungerechtigkeit und Ungleichheit sein – nicht das Hantieren mit unscharfen moralisierenden Begriffen, die vermittels einer dogmatischen Setzung insinuieren, soziale Unterschiede seien nur durch ungerechte, willkürliche Bevorteilung durch Machthaber oder Strukturen herbeigeführt worden. Der Philosoph Philipp Hübl sieht in einem solchen Umgang mit dem Begriff „Privileg“ denn auch die Gefahr eines „Moralspektakels“. Dieses suggeriere „der Mehrheit der rechtschaffenen und wohlmeinenden Menschen, die niemanden diskriminiert haben, dass sie andauernd etwas falsch machen, vermeintlich verletzende Wörter verwenden oder unverdiente ‚Privilegien‘ genössen, obwohl sie sich wie die meisten anderen Menschen durchschlagen, zur Arbeit gehen, sich ehrenamtlich engagieren, für ihre Familie sorgen und im Freundeskreis aushelfen. Umgekehrt verhindert die neue Moralkultur, dass Trittbrettfahrer schnell entlarvt werden, also moralische Narzissten, Hochstapler, Trolle, Manipulatoren und rachsüchtige Menschen, die in der halbanonymen digitalen Öffentlichkeit ihre Statusfixierung ausleben können.“

Und gibt es nicht auch positive Tendenzen? Trotz aller Verfehlungen, Doppelmoral und Selbstgerechtigkeit kennzeichnet die moderne westliche Ära, dass unter den Vorzeichen der Aufklärung immer mehr überkommene Privilegien sowie die damit verbundene Willkür der Macht nicht nur hinterfragt, sondern auch Schritt für Schritt abgeschafft wurden – zumindest auf dem Papier. Dies geschah zwar allzu oft auf selektive Weise, wie unter anderem die lange fortbestehende rechtliche und soziale Ungleichbehandlung der Frauen oder die Unterdrückung und Ausbeutung der Kolonien von Haiti bis Polen zeigen. Aber die grundsätzliche Stoßrichtung war und ist egalitär; zumindest deutlich egalitärer als in vorigen Epochen. Eine allgemeine Dynamisierung, gespeist aus den unterschiedlichen, aber ineinanderfließenden Quellen von Aufklärung, Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie und Liberalismus, erfasst das moderne westliche Leben, wie es im „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848 heißt: „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“

Zu diesem „Ständischen und Stehenden“ zählen insbesondere die als willkürlich, ungerecht und reaktionär eingestuften Privilegien von Aristokratie und Klerus; ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch die vorteilhafte Machtposition der neuen dominierenden Klasse – des Bürgertums. Es ist indes bezeichnend, dass der Begriff „Privileg“ in Karl Marx’ Hauptwerk „Das Kapital“ keine tragende Rolle spielt und im „Kommunistischen Manifest“ überhaupt nicht auftaucht. Auch Synonyme wie „Vorrecht“ oder „Sonderrecht“ sucht man in Letzterem vergeblich. Die Auslassung legt nahe, dass die Autoren von neuen Formen ungerechter Machtverteilung ausgingen, für die sich der altehrwürdige Begriff „Privileg“ mit seinen höfisch-feudalen, klerikalen und vor allem rechtlichen Konnotationen nicht mehr eignete. Wer unter modernen Bedingungen bessergestellt war, konnte sich eben nicht mehr auf ein göttliches oder natürliches Gesetz, geschweige denn auf die Selbstverständlichkeit der Tradition berufen. Nein, nichts war von nun an mehr selbstverständlich, alles war kritikabel, alles war verhandelbar geworden, und damit war auch alles politisch. Mit dem Philosophen Odo Marquard gesprochen, schwenkte die Aufklärung vom „Schicksal“ zum „Machsal“ um.

Die heutige Privilegienkritik steht auch dort, wo sie sich auf nicht-westliche Quellen bezieht, in dieser westlichen Tradition. Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich der Sinn eines Satzes der Postkolonialismus-Theoretikerin Nikita Dhawan: „Ohne koloniale Gewalt zu rechtfertigen, muss die postkoloniale Welt lernen, das Erbe der europäischen Moderne zu lieben.“ Mit ähnlicher Stoßrichtung argumentierte der Soziologe Kenan Güngör auf dem Grazer Elevate Festival 2023, es fehle gerade auch im sogenannten Westen selbst ein Verständnis dafür, in was für revolutionären Zeiten wir lebten, verglichen mit der bisherigen Menschheitsgeschichte: „Ich rede jetzt nur von lächerlichen 40 bis 50 Jahren – das ist nichts, wenn Sie wissen, wie die Ungleichheitssemantiken die Geschichte über Jahrtausende hinweg geprägt haben. Heute kommen Sie [an Themen wie Inklusion] nicht mehr vorbei. Auch wenn Sie nicht daran glauben, müssen Sie darauf Bezug nehmen.“ Inklusion sei im Westen ein „Makrotrend“. Auch die „wohlfahrtsstaatlichen Strukturen“ im Allgemeinen stünden für Inklusion.

Paradoxien

Dass „Privilegien“ im Westen derzeit so intensiv diskutiert und kritisiert werden, zeugt vor dem Hintergrund der Argumentation Güngörs nicht davon, dass sich die Verhältnisse nicht geändert hätten, sondern vom Gegenteil: Wo diskutiert man in der Medienöffentlichkeit über strukturellen Rassismus? Wo entspinnen sich Debatten über das Patriarchat und Sexismus, wo entfaltet eine Kampagne wie #MeToo Breitenwirksamkeit? Wo werden Lehrstühle für Genderwissenschaften oder Transcultural Studies eingerichtet? Wo ruft man „Check your privilege“? Die Antworten liegen auf der Hand: nur dort, wo der Rassismus, das Patriarchat oder die „Privilegierten“ keine Macht haben, das zu verhindern – dort, wo Privilegien nicht (mehr) strukturell sind. In der sozialwissenschaftlichen Forschung spricht man diesbezüglich vom Tocqueville-Paradox: Kritik an den Mächtigen kann erst dann laut werden, wenn die Mächtigen nicht mehr wirklich mächtig sind. So verhält es sich auch mit Revolutionen. Ihr Furor trifft nicht mehr diejenigen, die die verhassten alten Zustände verkörperten. Die französischen Antiroyalisten beispielsweise köpften nicht den absolutistischen Louis XIV. oder Louis XV., der die Parlamente verbot und Frankreich in eine Schuldenmisere stürzte, sondern den kompromissbereiten Louis XVI. Seine Vorgänger hatten noch über genug Machtmittel verfügt, den aufbegehrenden „Dritten Stand“ niederzuhalten. In diesem Licht gilt es auch die heutige Privilegienkritik zu betrachten. Sie entfaltet sich in genau jenen Gegenden, in denen die alten Privilegien weniger denn je gelten. Aus all diesen Gründen ist die Rede von „Privilegien“ heute irreführend, sowohl was die Etymologie des Begriffs als auch seinen jüngeren sozialen Gebrauch betrifft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eine vertiefte Auseinandersetzung vgl. Jörg Scheller, (Un)Check Your Privilege. Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindert, Stuttgart 2022.

  2. So steigen in den USA manche Migrantengruppen schnell auf (etwa Nigerianer), andere nicht (etwa Somalier). Vgl. Abel Chikanda/Julie Susanne Morris, Assessing the Integration Outcomes of African Immigrants in the United States, in: African Geographical Review 1/2020, S. 1–18.

  3. Vgl. Nick Haslam, Concept Creep: Psychology’s Expanding Concepts of Harm and Pathology, in: Psychological Inquiry 1/2016, S. 1–17.

  4. Philipp Hübl, Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht, München 2024, S. 244.

  5. Vilém Flusser, Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Bensheim–Düsseldorf 1992, S. 99f.

  6. Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, Berlin 2018, S. 108.

  7. Peggy McIntosh, White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack, in: dies., On Privilege, Fraudulence, and Teaching as Learning, New York–London 2020, S. 29–34.

  8. Vgl. ebd., S. 32.

  9. Siehe SRF Kultur, Bleisch & Blossart, Privilegien: Darf ich über Diskriminierung sprechen?, 28.6.2023, Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=L6uUzgRzJ_s.

  10. Vgl. Joseph Henrich, Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde, Berlin 2022.

  11. Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1976.

  12. Hübl (Anm. 4), S. 28.

  13. Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies., Werke, Bd. 4, Berlin 1977, S. 459–493, hier S. 465.

  14. Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 67.

  15. Nikita Dhawan, Frankfurter, Fritten und Currywurst: Kritische Theorie, Postmoderne und Postkolonialismus, in: Bundeskunsthalle Bonn (Hrsg.), Alles auf einmal. Die Postmoderne, 1967–1992, München 2023, S. 128–133, hier S. 133.

  16. Elevate Festival, Missing Links, 3.3.2023, Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=vBxcjhLinw4.

  17. Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika [1835], Stuttgart 2021, S. 314: „Der Hass der Menschen gegen das Privileg wird umso größer, je seltener und unbedeutender die Privilegien werden.“

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jörg Scheller für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste und Autor des Buches "(Un)Check Your Privilege. Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindert" (2022).