Nachdem Max Delbrück seinen Berliner Arbeitsplatz bei Lise Meitner aufgegeben und den Weg in die USA gefunden hatte, nahm der junge Carl Friedrich von Weizsäcker seine Position ein, der unter den Physikern von Anfang an als philosophischer Kopf oder Schöngeist aufgefallen ist. Die beiden kannten sich aus gemeinsamen Kopenhagener Tagen mit jährlich stattfindenden Frühjahrstagungen, als noch Frieden in Europa herrschte und die Wissenschaft Grund hatte und Gelegenheit fand, sich selbst zu feiern. Als die Physiker im Frühjahr 1932 bei Niels Bohr eintrafen, erinnerten die beiden Professorensöhne Delbrück und von Weizsäcker ihre Kollegen an den hundertsten Todestag von Goethe, was die Idee aufbrachte, sich den Faust vorzunehmen und Goethes „geliebtes Original“ parodistisch umzuschreiben und aufzuführen. Die dazugehörigen Szenen stammen von Delbrück und dem damals 20-jährigen von Weizsäcker, die sich bei deren Verfassen sicher kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säue gefühlt haben.

Bei allem Jux und Vergnügen lohnt sich zu merken, dass damals eine internationale Gemeinde von theoretischen Physikern – ihre Mitglieder kamen unter anderem aus Deutschland, Dänemark, Holland, England und Österreich – mit Goethes Drama unterhalten werden konnte, weil die gebildeten Wissenschaftler sich in der Literatur auskannten und viele von ihnen mindestens einige Passagen der gewitzten Tragödie auswendig zu rezitieren wussten. Und anzumerken ist auch, dass ein italienischer Physiker auf Englisch ein Buch über den Faust in Copenhagen geschrieben hat. Deutsche Gelehrte halten sich schön fern und ducken sich weg, wenn Naturwissenschaftler ihren Geist entfalten.

Im Faust spielt bekanntlich der Teufel Mephisto eine große Rolle, die man in der Parodie dem ewig skeptischen und alle und alles kritisierenden Wolfgang Pauli auf den dicken Leib schreiben konnte. Er diskutiert auf der Bühne mit dem Herrn im Himmel, der natürlich von Bohr verkörpert wurde. 1932 durfte im Kopenhagener Faust der Teufel das letzte Wort haben und am Ende den anwesenden Wissenschaftlern zurufen,

„Gewiss! Das Alter ist ein kaltes Fieber,

Das jeden Physiker bedroht.

Hat einer dreißig Jahr vorüber,

So ist er schon so gut wie tot.“

Tot war nach diesem Kopenhagener Fest mit Faust bald auch die Hoffnung auf eine friedvolle Zukunft Europas, und gestorben war ebenfalls die Erwartung einer weiteren internationalen Zusammenarbeit der Physiker, obwohl in deren Laboratorien gerade etwas Besonderes entdeckt worden war. Man hatte ausfindig machen können, dass es neben den bislang bekannten beiden geladenen Elementarteilchen – dem negativen Elektron und dem positiven Proton – noch einen dritten, neutralen Mitspieler im Atomkern gab, der aus naheliegenden Gründen Neutron genannt wurde. Während des Faustspiels im Kopenhagener Frühling wurde zwar noch auf der Bühne Die Apotheose des wahren Neutrons zelebriert, aber bald konnten Irène Curie, die Tochter Maries, in Paris und Lise Meitner in Berlin mit den Neutronen bis in die Atomkerne vordringen, was zunächst in der Absicht geschah, sie zu vergrößern und dabei deren Aufbau und Stabilität zu erkunden. Doch kurz nachdem Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brach, zeigten Experimente, dass der Kern das Uranatoms zerplatzt, wenn ihn ein Neutron trifft, und dank der dabei frei gesetzten Energie verherrlichten schlagartig weniger die Wissenschaftler und mehr die Militärs das Neutron. Doch in diesen Tagen, in denen sich die Kernphysik voll historischer Dramatik von wissenschaftlicher Grundlagenforschung zu einem Einsatzgebiet für Waffenentwicklungen wandelte, war Delbrück längst über alle Berge und in aller Stille mit Genetik beschäftigt, während von Weizsäcker als sein Nachfolger mitten in Berlin und im damaligen Zentrum des nuklearen Geschehens agierte, wie noch zur Sprache kommt. Es gilt darauf hinzuweisen, dass von Weizsäcker politisches Denken von Kinderbeinen an gelernt hatte, denn sein Vater bekleidete im Deutschland der Nazis hohe Stellungen mit politischer Verantwortung. In den Nürnberger Prozessen ist Ernst von Weizsäcker schließlich als Kriegsverbrecher zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, wobei man anmerken kann, dass ihm sein Sohn Richard, der spätere Bundespräsident und Carl Friedrichs älterer Bruder, als Verteidiger zur Seite stand.

Als Student hatte ich viel und oft mit brennenden Augen in Büchern des philosophierenden Physikers von Weizsäcker gelesen, wobei es mir vor allem seine Ausführungen Zum Weltbild der Physik angetan hatten, in denen er sich über „die Unendlichkeit der Welt“ ebenso Gedanken gemacht hatte wie über die „gegenseitige Abhängigkeit von Anthropologie und Physik“, und selten haben wissenschaftliche Texte verführerischer für mich geklungen. Ich schwärmte als Student um 1970 von ihrer souveränen Eleganz und war damit nicht allein. Von Weizsäcker konnte viele Menschen enorm beeindrucken, und bei der ungeheuren Reichweite seines Wissens schien kein normaler Mensch intellektuell auch nur halbwegs mithalten zu können. Er hatte sowohl ein Studium der Physik als auch eines der Philosophie abgeschlossen und sich zusätzlich mit religiösen Bereichen von fernöstlicher Lebensweisheit bis zur christlichen Lehre vertraut gemacht. Nach dem Weltkrieg hatte sich der Universalgelehrte als Friedensforscher hervorgetan und im Jahre 1957 die berühmte „Göttinger Erklärung“ initiiert, in der sich Atomphysiker gegen eine Aufrüstung der Bundeswehr mit Kernwaffen aussprachen. 1963 wurde Weizsäcker mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, und ab 1970 erforschte er an einem Max-Planck-Institut die Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, für die er eine „Weltinnenpolitik“ konzipieren wollte, um nicht nur die Gefahr eines Atomkrieges zu bannen, sondern auch der drohenden Umweltzerstörung und dem wachsenden Nord-Süd-Konflikt etwas entgegenstellen zu können, die damals mehr Aufmerksamkeit bekamen als der sich erst langsam als Bedrohung zeigende Klimawandel.

1976 wollten die USA ihren zweihundertsten Geburtstag feiern, und Nationen aus aller Welt schickten Festredner ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wobei Deutschland Carl Friedrich von Weizsäcker entsandte und unter anderem zum Caltech schickte, wo man erwartete, dass sich Max Delbrück auf ihn freuen würde. Doch das Gegenteil war der Fall, und Delbrück entlud sich seiner Pflichten kurz entschlossen, indem er mich bat, den hohen Gast aus Deutschland durch die kalifornische Gegend zu kutschieren und zu den Universitäten zu bringen, wo man seinen auf Englisch vorgetragenen philosophischen Gedankenflügen zu den Quantenphänomenen folgen wollte. Auf den manchmal recht langen Autofahrten konnte ich mich ausführlich mit von Weizsäcker unterhalten, wobei ich ihn zunächst fragte, wie und wann er zur Physik gefunden habe. Heute ist zwar oft von der „Gnade der späten Geburt“ die Rede, doch er musste das Gegenteil erleiden, nämlich den „Fluch der späten Geburt“. Als jemand, der 1912 geboren worden war, konnte er als pubertierender Knabe nur zur Kenntnis nehmen, dass die neue Atomphysik in ihren Grundzügen seit 1925 Gestalt annahm und bereits um 1928 wohlgeformt vorlag.

Von Weizsäcker erzählte: „Meine Jugendlichkeit war für mich sicher nicht hilfreich, aber ich hatte trotzdem das große Glück, von Anfang mit dabei gewesen zu sein, und das kam so zustande. 1927 lebte ich mit meiner Familie in Berlin, und ich war gerade einmal 15 Jahre alt, als sich Werner Heisenberg ankündigte, den wir schon Jahre zuvor in Kopenhagen kennengelernt hatten, als er während seiner Zusammenarbeit mit Bohr uns zu Hause besuchte, um Klavier spielen zu können – und nebenbei versuchte er, mit meiner sehr jungen Schwester anzubandeln. Jetzt war er von Kopenhagen kommend unterwegs nach Leipzig, wo er seine erste Professur – im Alter von 26 Jahren – antreten konnte, und in Berlin musste er umsteigen und sogar den Bahnhof wechseln. Er bat mich, ihn bei der dazugehörigen Taxifahrt zu begleiten, er habe eine umwerfende Nachricht, und was er mir sagte, warf mich tatsächlich fast um. Heisenberg vertraute mir in meinen kurzen Hosen an, er habe den Philosophen Immanuel Kant widerlegt und Vorgänge entdeckt, die ohne Kausalität ablaufen. Heisenberg meinte das, was die Lehrbücher heute Unbestimmtheit nennen und womit sie etwas ansprechen, das bei Prozessen auf der atomaren Ebene eine Rolle spielt und dafür sorgt, dass mikroskopische Partikel erst dann bestimmt werden oder ihre Eigenschaften bekommen, wenn jemand einen Messvorgang an ihnen durchführt. Ohne diesen Eingriff bleiben sie unbestimmt und ihre Wirklichkeit eine wacklige Angelegenheit. Heisenberg sagte noch, diese Entdeckung scheine ihm das wichtigste philosophische Ereignis unserer Zeit zu sein, doch dann kam der Bahnhof in Sicht, und er musste in den Zug nach Leipzig steigen. Allein in dem Auto wurde mir plötzlich klar, unter welchen Umständen im 20. Jahrhundert noch philosophiert werden konnte, nämlich nachdem man die neue Physik und das dazugehörige Weltbild verstanden hatte.“

Ich reagierte etwas skeptisch und fragte meinen Fahrgast, ob er wirklich in diesen blutjungen Jahren erstens die quantenphysikalischen Einsichten verstanden und zweitens die philosophischen Konsequenzen gesehen habe, und bekam zur Antwort: „In meiner Erinnerung schon. Ich hatte ja früher schon mit Heisenberg gesprochen und von ihm erfahren, was er mit Bohr in Kopenhagen erörtert hatte, und ich hatte tatsächlich das Gefühl, etwas von dem zu verstehen, was er mir jetzt in Berlin bei der Taxifahrt zwischen den Bahnhöfen anvertraute. Er muss mir das auch zugetraut haben. Ich kam mir wie der Zeitzeuge einer großen wissenschaftlichen Entwicklung vor, und bei diesem Gedanken wurde ich so aufgeregt, dass ich mich zu einem Wagnis entschloss. Ich ließ mich zu dem Haus bringen, in dem Einstein wohnte, und wartete draußen auf der Straße, ob sich der große Mann blicken lassen würde. Ich hätte ihm so gerne von Heisenbergs Entdeckung berichtet und Einsteins Reaktion erlebt, aber als es dunkel wurde, stand ich immer noch allein vor seiner Wohnung. Zu klingeln traute ich mich nicht, und so musste ich unverrichteter Dinge nach Hause marschieren, ohne Ordnung in mein Denken bringen zu können.“

„Und wie ging es dann mit Ihnen weiter?“, wollte ich jetzt höchst aufgeregt wissen, und von Weizsäcker setzte seine Erzählung fort: „Schnell ging es erst einmal nicht. Zunächst galt es, die Schule zu beenden und danach ein Studium der Physik zu beginnen, Anfang der 1930er-Jahre – ich war immer noch keine 20 – rückten schließlich immer mehr die Atomkerne in das Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, und es wurde versucht, die neue Physik mit den Quantensprüngen einzusetzen, um ihren Zusammenhalt oder ihre Umwandlung zu verstehen, also das Geschehen im Innersten der Welt. Ich bekam in Berlin die Gelegenheit, ab 1936 bei Lise Meitner mitzumachen und konnte meine physikalischen Überlegungen dazu bald in einem Buch über ‚Die Atomkerne‘ zusammenfassen, das 1937 erschienen ist.“

„Damit kommen wir dem entscheidenden Jahr nah“, wie ich kurz einwarf, um danach weiter von Weizsäcker zuzuhören: „In der Tat: 1938 änderte sich alles. Durch die völlig unerwartete Entdeckung der für mich und andere Physiker anfänglich unbegreiflichen Kernspaltung verwandelte sich eine bislang unpolitisch betriebene Wissenschaft in ein höchst gefährliches Instrument der Kriegsführung, und sie vollzog diesen Schritt in äußerst unruhigen politischen Zeiten, die bald in den Zweiten Weltkrieg münden würden. Der entscheidende wissenschaftliche Fortschritt bestand in der Entdeckung, dass Uran durch Neutronen nicht vergrößert, sondern genau umgekehrt gespalten wird, wie es dem Chemiker Otto Hahn mit anderen in dem Berliner Institut nachzuweisen gelungen war, in dem ich mich als Assistent herumtrieb. Wenn es auch noch etwas dauern sollte, bis von Seiten der Physik genau verstanden war, was Hahn mit dem Element Uran beobachtet hatte und wie dessen Spaltung eine Kettenreaktion auslösen konnte, so war doch allen in Berlin schon bald klar, dass die hier gelungene Freisetzung von Kernenergie genutzt werden konnte, um den Bau von Bomben in Angriff zu nehmen, die allen bisherigen Waffen an Explosionskraft weit überlegen sein würden. Als Hahn dies klar wurde, erschrak er zutiefst und empfand Qualen bei dem Gedanken, dass Hitler solche Vernichtungsmittel als Erster in die Hand bekäme, wie er mir als seinem 26-jährigen Mitarbeiter anvertraute. Mit dieser schwerwiegenden und mich belastenden Information begab ich mich auf kürzestem Wege zu dem Philosophen Georg Picht, um mit ihm die Lage zu erörtern. Nach dem Gespräch mit ihm habe ich 1938 etwas notiert, das ich immer noch auswendig weiß:

1. Wenn Atomwaffen möglich sind, wird es jemanden auf der Erde geben, der sie baut.

2. Wenn Atomwaffen gebaut sind, wird es jemanden auf der Erde geben, der sie kriegerisch einsetzt.

3. Also wird die Menschheit wohl nur die moderne Technik überleben können, wenn es gelingt, die Institution des Krieges zu überwinden.“

„Die Institution des Krieges zu überwinden“, so musste ich jetzt von meinem Fahrersitz aus einwerfen, „klingt das nicht überheblich und vergeblich zugleich – in der Kriegsführung steckt doch die ganze evolutionäre und zivilisatorische Geschichte der Menschheit. Sowohl in der biologischen als auch in der sozialen oder politischen Geschichte finden unentwegt Kriege und Überlebenskämpfe statt. Wer soll dieses natürliche Verhalten womit eindämmen? Haben Sie nicht selbst einmal geschrieben, dass bei der bestehenden Struktur der Menschheit der Bau und Einsatz von Atomwaffen praktisch nicht würde verhindert werden können? Welche gesellschaftliche Institution kann sich denn zutrauen, die von Ihnen beschworene Institution des Krieges zu überwinden? In den letzten Jahrzehnten sind doch nicht weniger, sondern immer mehr Kriege geführt worden, mir scheint, dass man mit Ihrem Rat nicht weiterkommt, auch wenn er sinnvoll klingt und gut gemeint ist“.

Während wir weiter den Highway entlangfuhren und bald das Ziel erreichten, geriet das Gespräch ins Stocken. Ich verstand am Steuer des Wagens aber nach und nach, dass es neben glühenden Anhängern von Carl Friedrich von Weizsäcker auch Menschen gab, die sich von ihm abwandten, weil er ihnen aus seinen philosophischen Höhen keinen konkreten Rat geben konnte und sie allein gelassen hat, wenn es in den Niederungen der Praxis knifflig wurde. Als ich Delbrück am Abend des Tages zu diesem Thema befragte, nachdem ich den Freiherrn in sein Hotel gebracht hatte, meinte mein Lehrer, das Hauptproblem bei von Weizsäcker sei, dass er die Menschen, die ihm nach dem Zweiten Weltkrieg vertraut und ihn verehrt haben, über sein eigentliches Tun im Dritten Reich im Unklaren gelassen habe, was man auch drastisch so ausdrücken kann, dass der Freiherr von Weizsäcker vieles verschwiegen und seine Bewunderer getäuscht hat. Wie inzwischen umfassend bekannt geworden ist, hat er im Sommer 1941 ein Verfahren zur explosiven Erzeugung von Energie und Neutronen aus dem Element Plutonium beschrieben und diese Anleitung zum Bau einer Bombe sogar zum Patent angemeldet. Der Philosoph, der sich nach 1945 gerne als „radikaler Pazifist“ präsentierte, begann seine politische Karriere im Dritten Reich als „Werbetrommler eines radioaktiven Superknalls“, der den Führer führen wollte, wie Journalisten es einmal ausgedrückt haben. Von Weizsäcker unterrichtete das Heereswaffenamt der Nazis schon zeitig über die Möglichkeit einer Plutoniumbombe, er erstellte Geheimberichte zum Atomprogramm der USA und verfasste sechs Patentschriften zu Sprengkörpern und Kernmeilern – und statt die Öffentlichkeit über diese Aktivitäten und die dazugehörenden Intentionen zu informieren, trug er die ganze Zeit in der Bundesrepublik seine zwar pazifistisch klingende, aber hohl bleibende Heuchelei vor, dass die Menschheit, wenn sie überleben wolle, lernen müsse, „die Institution des Krieges zu überwinden.“

Kurzum: Carl Friedrich von Weizsäcker war ein Philosoph, der – nachdem er den kurzen Hosen der Knabenzeit entwachsen war – sich von der Macht fasziniert zeigte und deshalb die Bombe liebte, die er bauen konnte und wollte. Nur war er zu schwach, um dies nach 1945 einzugestehen. Deshalb taugt er in meinen Augen weder als Vorbild noch als Namensgeber für Stiftungen mit moralischem Anspruch, und dies erst recht nicht mehr, nachdem bekannt geworden ist, was Werner Heisenberg über seinen brillanten Schüler geschrieben hat. In einem Brief vom 14.10.1943 an seine Frau Elisabeth beklagt sich Heisenberg, dass ihm Carl Friedrich „völlig fremd“ sei. Von Weizsäcker „kann so Sätze sagen, wie etwa: Er wäre in einer total zerstörten Stadt ganz zufrieden, denn dann wisse man sicher, dass das nicht wiederkäme und dass die Menschen aus dem Erlebnis von Schuld und Sühne reif würden zu einer anderen Art zu denken – womit dann der Glaube gemeint ist, zu dem er sich selbst bekennt. Dann sagt er weiter, dass dieser Glaube natürlich dem der alten Welt, d. h. der Angelsachsen, unversöhnlich feind sei und dass ja auch Christus gesagt habe, er sei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert – worauf man dann wieder so weit ist, wie am Anfang, d. h. wer nicht das Gleiche glaubt wie ich, muss ausgerottet werden.“

So dachte der Freiherr von Weizsäcker, und er hat seine Lebenslüge viele Jahrzehnte in sich verschlossen und der zu ihm aufschauenden Welt ein philosophisches Spektakel vorgeführt, dem zu lange applaudiert worden ist. Bei von Weizsäcker kann ein normaler Mensch tatsächlich vom Wissen her nicht mithalten. Man müsste sich eigentlich von ihm fernhalten – wenn er sich nicht so fantastisch verständnisvoll und souverän Zum Weltbild der Physik geäußert hätte. Wissen ist Macht. Weizsäcker wollte beides – bis zuletzt, und so ist meine ursprüngliche Bewunderung für den Universalgelehrten in eine Verachtung für den Moralapostel umgeschlagen. Mich ärgerte zuletzt immer mehr, dass er Sätze der Art schreiben konnte, „Es gibt eine moralische Einsicht, der ich mich nicht habe entziehen können“. Von Weizsäcker sagte dies in einem Vortrag, mit dem er im Jahre 1980 „Rechenschaft über die eigene Rolle“ abgeben wollte, die er bei der Entwicklung sowohl der Kernphysik als auch der Atombombe gespielt hatte. Er betonte dabei ausdrücklich, nur um dieser moralischen Einsicht wegen „halte ich die heutige Rede. Sie heißt in einem Satz zusammengedrängt: Die Wissenschaft ist für ihre Folgen verantwortlich.“

Ich vermute, dass dieser Satz die allgemeine Zustimmung des damaligen Publikums gefunden hat und dass er auch von Leserinnen und Lesern dieser Stelle immer noch bereitwillig und ohne Zögern akzeptiert wird. Mir erscheint die Formulierung trotzdem fragwürdig, und ich stehe ihrer unverbindlichen Allgemeinheit nicht nur aus persönlichen Gründen eher skeptisch gegenüber. Auf der einen Seite ist der Satz trivial. Denn wenn die Folgen der Wissenschaft Luxus und Wohlergehen sind, wird niemand nach der Verantwortung fragen. Wenn die Folgen der Forschung Schäden und Probleme mit sich bringen, wie kann eine Gesellschaft dann anders als mit wissenschaftlichen Mitteln darauf reagieren? Zur Wissenschaft gibt es – im abendländischen oder europäischen Kulturkreis jedenfalls – keine Alternative, und wenn überhaupt, dann kann man nur aus ihren Reihen auf eine Antwort rechnen und damit von Verantwortung reden. Auf der anderen Seite ist von Weizsäckers Formulierung genau genommen unzutreffend. Denn „die Wissenschaft“ – das ist keine Person, und nur Menschen können moralische Verantwortung übernehmen. Sie tun dies – allgemein ausgedrückt –, wenn sie erstens so gut wie möglich beurteilen, was die Konsequenzen ihrer Handlungen sind, und wenn sie zweitens nach den dabei gewonnenen Einsichten handeln. Da aber alle Wissenschaftler, die diesen Namen verdienen und keine Verbrechen im Sinn haben, wenigstens im Prinzip so vorgehen, wird von Weizsäckers moralisch wirkender Satz wieder völlig selbstverständlich, und das eigentliche Problem, die Bewertung der konkreten wissenschaftlichen Befunde und der daraus sich ergebende Entschluss zum Handeln, kommt gar nicht erst in den Sinn. Es bleibt zudem unklar, was „die Folgen“ sein sollen, für die „die Wissenschaft“ zuständig sein soll. Die Folgen der Tatsache, dass eine christlich-abendländische Gesellschaft sich seit Hunderten von Jahren bei ihrem wirtschaftlichen Schaffen auf die Wissenschaft verlässt, die spätestens im 19. Jahrhundert für Millionen Menschen zum Beruf geworden ist, zeigen sich in den Möglichkeiten, die auf diese Weise in die Welt gesetzt und dort kräftig umgesetzt werden. Bäcker liefern Brötchen, und Wissenschaftler liefern Möglichkeiten, deren Nutzung weitgehende Veränderungen nach sich zieht, und zwar Veränderungen der Bedingungen, unter denen Menschen in Gesellschaften leben, wie sie etwa in der europäischen Welt zu finden sind, in der die moderne Wissenschaft im frühen 17. Jahrhundert geboren wurde. Mit anderen Worten, die Folgen der Wissenschaft zeigen sich in der Geschichte, und für die sind alle Menschen gemeinsam verantwortlich, auch wenn sich viele Politiker und Ethiker an diesen Gedanken erst noch gewöhnen müssen.

Diese Einsicht ist nicht neu und spätestens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt, als in der Epoche der Romantik – die schon wieder – verstanden wurde, dass Geschichte nicht etwas ist, das Menschen zustößt, sondern etwas, das sie zustande bringen. Wer bedenkt, dass im Jahre 1800 die erste Batterie Strom lieferte und hundert Jahre später die Haushalte elektrifiziert wurden, erkennt leicht, wie sehr die Folgen der Wissenschaft zum Leben der Menschen gehören und es beeinflussen. Dieses Wissen gehört aber nicht zur Bildung im Lande der Dichter und Denker, im dem viele Intellektuelle nur dann von Technik und Naturwissenschaft reden, wenn sie davor warnen dürfen – entweder im Fernsehen oder auf ihrem Laptop, die sie beide ebenso wenig wie die Drucktechnik und das Papier hätten, wenn Ingenieure oder andere wissenschaftlich tätige Menschen sie nicht ersonnen und angefertigt hätten. Dass Disziplinen wie Physik, Chemie und Biologie etwas mit der Geschichte der menschlichen Gesellschaft zu tun haben, wirkt bis heute für viele Historiker verstörend oder fremd. Sie kümmern sich lieber um militärische Aktionen oder geopolitische Strategien, lassen den machtvollen wissenschaftlichen Hintergrund unbeachtet und kommen gar nicht auf die Idee, zu fragen, warum man im 19. Jahrhundert damit begonnen hat, nach Öl zu bohren und warum seitdem so viel von Energie die Rede ist. Tatsächlich wird in den Geschichtsbüchern so getan, als ob die moderne Welt sowohl ohne die Fächer auskommt, für die Nobelpreise vergeben werden – warum eigentlich dafür? –, als auch ohne ihre Mitwirkung so geworden ist, wie wir sie erleben.

Mir scheint hier ein doppeltes Ungleichgewicht nach Ausgleich zu verlangen. Geschichte kann man nicht ohne Beitrag der Wissenschaft verstehen, und die Wissenschaft kann viele ihrer Fragestellungen nicht in Angriff nehmen, wenn sie die Geschichte ihrer Gegenstände nicht zur Kenntnis nimmt. Die Geschichte formt die Wissenschaft, und die Wissenschaft formt die Geschichte. Solch eine doppelte Sicht ist charakteristisch für die Epoche, die Fachleute mit dem verlockenden Wort „Romantik“ bezeichnen und in der auch der Philosoph Georg Wilhelm Hegel lebte, der in der Geschichte mehr als eine Folge von Ereignissen sah, die in Chroniken festgehalten werden. Geschichte findet mit Menschen nicht einfach statt, Geschichte wird von ihnen gemacht, und zwar in Europa mit den Mitteln der Wissenschaft, für die alle Menschen zusammen verantwortlich sind, und nicht nur ein Teil von ihnen. Indem von Weizsäcker die Gruppe der Forscher unter allen heraushebt, um ihnen die Schuld an Fehlentwicklungen aufladen zu können, fällt er erstens hinter die Romantik zurück und entbindet er zweitens die Nicht-Wissenschaftler – die Öffentlichkeit und die Medien – von jeder Verantwortung. Er erteilt dem Publikum und seinen Berichterstattern die Absolution. Das Ozonloch, das Wald- und Artensterben, der saure Regen, der Unfall im Atomkraftwerk, die übereilten Versuche bei der Gentherapie – dafür ist nun allein „die Wissenschaft“ verantwortlich. Die Öffentlichkeit kann sich beruhigt zurücklehnen und mit dem Finger auf die Verantwortlichen zeigen, ohne zu merken, dass drei Finger der ausgestreckten Hand auf sie selbst zurückweisen. Man hat doch wohl nichts mit dem Klimawandel zu tun. Den machen die anderen in Fabriken oder fernen Ländern. Man fühlt sich wohl bei dem Gedanken und applaudiert dem populistischen Satz des populären Philosophen, der den Menschen die Verantwortung für das Wissen abnimmt und sie einer ungeliebten Instanz aufbürdet, die zudem schwer verständlich daherkommt.