“Dritte Denkungsarten etablieren”

(…) Es scheint nur noch die Alternative „Pro-Israel“ oder „Pro-Palästina“ zu geben, wobei diese Unterscheidung fast alles verdeckt, worum es in diesem Diskurs geht. Das ließe sich nur durch dritte Perspektiven entschlüsseln. Aber gerade an diesem angedeuteten Beispiel kann man sehen, wie schwer es ist, dritte Perspektiven überhaupt für möglich zu halten – ohne bestimmte Dinge zu relativieren. Eine komplexe, vielschichtige Gemengelage dampft sich ein in eine falsche Alternative und erzeugt Blindheit auf unterschiedlichen Seiten, Blindheit für den Ausgangspunkt des gegenwärtigen Geschehens am 7. Oktober und Blindheit für das antisemitisch-elminatorische Skandieren auf der einen Seite, Blindheit für die Nebenfolgen und die katastrophalen Konsequenzen durch die Reaktion auf der anderen.*

Die Folgen des 7. Oktober sind nur ein Beispiel für solche intellektuellen Verhältnisse Auch andere öffentliche Themen werden so ausgetragen – es sieht dann manchmal so aus, als könne man nur „für“ oder „gegen“ Klimaschutz sein, statt gerade hier die mehrwertigen Möglichkeiten zu bedenken, die sich geradezu empirisch aufzwingen. Dass das ökologisch Notwendige politische und ökonomische Folgen hat, ist für manche schon unvorstellbar. Auch hier braucht es mehrere dritte Blicke. In der Pandemie war es ähnlich. Dass jede Maßnahme zugleich richtig und falsch sein konnte, hat intellektuell überfordert. Und am Migrationsthema lässt es sich ebenso nachverfolgen wie an der Fundamentalkritik am politischen Gegner, die derzeit erhebliche Blüten treibt.

Will man intellektuell irgendetwas bewegen, muss man aus dieser Binarität ausbrechen und dritte Denkungsarten etablieren. Denn wenn es einen Beitrag von Intellektuellen, von Wissenschaftlern, von Reflexionsarbeit gibt, dann ist es sicher nicht, für operative Lösungen zu sorgen, sondern den Diskurs mit Abweichungen zu versorgen, mit mehrwertigen Beobachtungsformen, mit anderen Unterscheidungen, mit Transzendierungen binärer Denkgefängnisse. Dass es gerade nicht wenige, wenn man so will, Geistesarbeiter sind, die das kaum beherzigen, ist enttäuschend.

Wenn man all diese Themen unter der Programmformel der „Demokratie“ verhandeln will, sollte daran erinnert werden, dass diese Formel nicht einfach die Durchsetzbarkeit von Mehrheiten gemeint hat, denn dann wäre sogar ein Lynchmob demokratisch. Demokratische Formen müssen sich vor allem darum bemühen, die Minderheit loyal zu halten. Deshalb holen die politischen Systeme die Opposition mit in die staatlichen Institutionen, und Parlamente haben die Gegenrede geradezu institutionalisiert. Deliberation ist nur möglich, wenn Pluralismus der Rede ausgehalten werden kann. Politische Überzeugungen kann man nur haben, wenn es auch konkurrierende Überzeugungen gibt. Regierungen brauchen nur Gründe für ihr Tun, wenn andere Möglichkeiten sichtbar werden.

Und all das ist nur möglich, wenn es Nischen dafür gibt, aus der Zweiwertigkeit des immer schon Richtigen und der Selbstverabsolutierung herauszukommen. Demokratische Verfahren – Stichwort Loyalität der Minderheit – erzwingen fast dritte Blicke, etwa in Form des Kompromisses oder der zeitlichen Dehnung von Kooperation. Das Dritte meint dabei nicht Konsens (zumal es im Politischen immer um Machtchancen und Gefolgschaft geht) – wer Konsens erwartet, wird fast immer enttäuscht werden. Es geht darum, Differenz auszuhalten, Ambiguität zu verarbeiten, role taking zu ermöglichen. Die Binarität des Guten und des Bösen, des eigenen und des anderen führt am Ende dazu, dass es in jeder Frage ums Ganze geht – und das kann nicht gut ausgehen.

Das Schlimmste an den vorstehenden Überlegungen ist ihre Naivität – Naivität im Hinblick darauf, warum Akteure auf ihre sicheren Positionen, ihre Lieblingsfeinde, Projektionen und Pappkameraden, auf ihre Machtchancen verzichten sollen, wenn sie doch gut damit fahren (und es zum Teil curricular gelernt haben). Gerade in Zeiten größter und harter Auseinandersetzungen und Positionen klingt all das noch naiver. Vielleicht ist es gerade deshalb angezeigt, in aller Naivität aus einer Position der Distanzierung statt unbedingten Engagements engagiert auf die Folgen des Verzichts auf das Dritte hinzuweisen. Vielleicht zeichnet sich zivilisiertes Verhalten dadurch aus, dass man erstens nicht gleich alles sagt, was einem in den Sinn kommt (weswegen Twitter/X und Co. so eskalierende Medien sind), und zweitens wenigstens zu verstehen versucht, wie manche Zweiseitigkeit zustandekommt. Übrigens eröffnet das auch eher Machtchancen, weil dann das eigene Argument sich zugleich ein ökologisches Milieu schaffen kann, in dem es eine Wirkung haben könnte.

Armin Nassehi, Kursbuch Newsletter: Montagsblock, /273- Kursbuch – 13.05.2024

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.