Gießener Verein befasst sich mit juristischer Aufarbeitung des Holocaust
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Gießener Verein befasst sich mit juristischer Aufarbeitung des Holocaust

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Am 20. Dezember 1963 wird der erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt eröffnet. Foto: Roland Witschel/dpa © Roland Witschel/dpa

Auf Einladung des Criminaliums Gießen blickt Werner Renz auf Prozesse gegen ehemaliges KZ-Personal. Nur die Wenigsten wurden verurteilt.

Gießen . »Im Namen des Volkes wurde noch in den 70er und 80er Jahren Recht gesprochen, die Gerechtigkeit blieb freilich angesichts der Nichtverfolgung, der Straflosigkeit von zahllosen Holocaust-Akteuren auf der Strecke.« Zu diesem ernüchternden Ergebnis kam nun der renommierte Germanist und langjährige wissenschaftliche Mitarbeiter des Fritz-Bauer-Instituts Werner Renz, der beim Verein Criminalium über »Den Auschwitz-Prozess und die Spätverfolgung von NS-Verbrechen« referierte. Neben erschreckenden Zahlen sprach der Experte vor allem über den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 und seine weitreichenden Folgen bei der justiziellen Aufarbeitung.

Zahlen beunruhigen

Ist die Aufarbeitung der NS-Verbrechen eine Erfolgsgeschichte? Die Zahlen, die Werner Renz präsentierte, beunruhigten zutiefst. So wurden bis zur Gründung der Bundesrepublik 6500 Personen vor westdeutschen Gerichten angeklagt - lediglich 182 davon wurden als Täter beziehungsweise Mittäter qualifiziert. Auch nach der Gründung im Jahr 1949 wurden, Stand 2021, 189 weitere Angeklagte als Täter verurteilt. »In der ehemaligen DDR sieht es leider nicht besser aus. Insgesamt wurden bloß 34 Angeklagte zur Verantwortung gezogen. Im Allgemeinen eine magere Bilanz«, berichtete Renz, der sich auf die Daten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg stützte. »Noch erschreckender ist es, wenn man bedenkt, dass nach neuesten Schätzungen etwa 200 000 bis 250 000 Menschen am Holocaust beteiligt waren und zur Rechenschaft hätten gezogen werden müssen.«

In Auschwitz, dem Ort, der symbolisch für die unmenschlichen Gräueltaten steht, waren im Verlauf von fünf Jahren 8200 SS-Männer- und Aufseher tätig. 6000 von ihnen überlebten den Zweiten Weltkrieg, lediglich 800 wurden international strafrechtlich belangt. 61 Auschwitztäter wurden vor bundesdeutschen Gerichten zur Verantwortung gezogen. Die meisten Beteiligten erhielten Freiheitsstrafen, die Gründe für diese bestürzenden Zahlen sind vielschichtig. Zum einen wäre die immer wieder aufkeimende »Verjährungsdebatte« zu nennen, die für viele Kontroversen sorgte und erst 1979 ein Ende fand.

Am 3. Juli 1979 wurde die Verjährung für Mord ausdrücklich aufgehoben, zuvor waren die während der NS-Zeit begangenen Verbrechen zum Teil nicht mehr verfolgbar gewesen - eine Schande aus heutiger Sicht. »Durch die Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg im Jahr 1958 trat allmählich eine Verbesserung ein«, erläuterte Renz.

Diese Zentralstelle trug Informationen für Vorermittlungen gegen NS-Verbrechen zusammen, trieb die staatsanwaltlichen Ermittlungen der Bundesländer voran und bündelte sie. Erste Früchte trug dieses System beim Bonner Gerichtsurteil aus dem Jahr 1963, welches zum ersten Mal das Vernichtungsgeschehen als eine Tat, an der alle beteiligt waren, betrachtete. Bestätigung erhielt dieses Urteil ein Jahr später vom Bundesgerichtshof (BGH). Dort hieß es: »Nach den Feststellungen haben die Angeklagten allein durch ihre Zugehörigkeit zu dem Sonderkommando, das eigens für die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung gebildet worden war, bei der Tötung der Opfer Hilfe geleistet. Die Art der Aufgabe ist dabei ohne Bedeutung.« Durch die intensive Aufklärungsarbeit in Ludwigsburg waren beim Frankfurter Auschwitz-Prozess zwischen Dezember 1963 und August 1965 über 360 Zeugen und 200 Überlebende von Auschwitz anwesend, die vernommen wurden.

»Durch die gründlichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und des Untersuchungsrichters und die umfassende Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung wurde das in Auschwitz verübte Menschheitsverbrechen als unbestreitbare Tatsache festgestellt«, war eines der Ergebnisse des Gerichts im Verlauf des Verfahrens. Es ließ darauf hoffen, dass alle 22 Angeklagten ihrer gerechten Strafe unterzogen würden. Der damalige Leiter der Zentralen Stelle, Adalbert Rückerl, hoffte auf einen »historischen Prozess par excellence«. Doch das Urteil, zu dem das Frankfurter Schwurgericht im August 1965 kam, erntete reichlich Kritik.

Vielzahl an Willensentschlüssen

Denn mit dem Urteil wurde das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz nicht mehr als eine Tat beurteilt, an der funktionell mitwirkte, wer im Vernichtungsapparat eine fördernde und unterstützende Tätigkeit ausgeübt hatte. Sondern es bedurfte »einer Vielzahl an Willensentschlüssen der verschiedenen Personen in den oberen, mittleren und unteren zuständigen Dienststellen und jeweils eines besonderen Einsatzbefehls.«

Fritz Bauer, der die Prozesse seit 1959 ins Rollen gebracht hatte, kritisierte die Urteilssprechung rückblickend hart: »Die Gerichte machten oft den Versuch, das totale Geschehen beziehungsweise den Massenmord an Millionen von Juden in den Vernichtungslagern in Episoden aufzulösen. Zudem wich die juristische Behandlung völlig von dem ab, was sonst in unseren Strafprozessen üblich, ja selbstverständlich ist.«

Immerhin hatte der Prozess eine Art Signalwirkung für die weitere justizielle Aufarbeitung und Spätverfolgung der NS-Verbrechen, die unter anderem im Verjährungsbeschluss vom 3. Juli 1979 mündeten. So bewertete das Lüneburger Landgericht im Jahr 2015 Oskar Grönings untergeordnete Tätigkeit in Auschwitz (Bewachung von Hab und Gut der Deportierten) »als Hilfeleistung bei der Begehung der Haupttat«. Im Gegensatz zum Frankfurter Urteil wurde jede Handlung, die die Herbeiführung des Taterfolgs durch den Haupttäter objektiv fördere und erleichtere, als Beihilfe gewertet. Ein erfolgreiches Beispiel der Spätverfolgung - allerdings auch eines der wenigen. »Denn erst als kaum mehr Beteiligte am Leben waren, änderte sich die Rechtspraxis gegen NS-Verbrechen. Wäre in Frankfurt damals so gerichtet worden wie im Fall Gröning, wären Aberhunderte Beteiligte mehr verurteilt worden«, lautete das abschließende Fazit von Werner Renz.

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Werner Renz Foto: Müller © Müller

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