Schlüsselwörter

Knochenplastiken einer Kieferspalte können primär, sekundär oder tertiär durchgeführt werden. Wenn die Transplantation in der frühen Kindheit durchgeführt wird, wird die Osteoplastik als primär eingestuft. Der aktuelle „Stand der Technik” ist die sekundäre Knochentransplantation in der Wechselgebissphase – normalerweise zwischen dem 9. und 12. Lebensjahr. Die sekundäre Osteoplastik findet vor dem vollständigen Durchbruch des permanenten Eckzahns auf der Spaltseite statt. Dies soll in der Folge den Zahndurchbruch des Eckzahnes durch den transplantierten Knochen ermöglichen (Murthy und Lehman 2005; Weissler et al. 2016). Tertiäre oder späte Osteoplastiken werden in der permanenten Dentition durchgeführt, meist um eine knöcherne Basis für eine implantatgetragene prothetische Rehabilitation zu generieren. Obwohl Knochenersatzmaterialien bereits klinisch für die Kieferspaltosteoplastik eingesetzt wurden, haben sich autologe kortikospongiöse Knochentransplantate aus der Beckenkammregion als die beste Option erwiesen (Weissler et al. 2016; Guo et al. 2011).

Die Ziele der sekundären Kieferspaltosteoplastik sind:

  • Schaffung von Knochen für den Durchbruch der Zähne auf der Spaltseite, v.a. des Eckzahnes.

  • Stabilisierung der (intermediären) Kiefersegmente und Verhinderung des Kollapses.

  • Ermöglichen einer nachhaltigen kieferorthopädischen Therapie.

  • Schaffung einer knöchernen Kontinuität des Alveolarfortsatzes für die dentoalveoläre Rehabilitation.

  • Herstellung von Symmetrie im maxillofazialen Bereich.

  • Beseitigung oronasaler Fisteln.

  • Verbesserung der Ästhetik.

  • Verbesserung der Sprache (Weissler et al. 2016; McCrary und Skirko 2021).

Einige Aspekte des chirurgischen Verfahrens verdienen besondere Aufmerksamkeit. Das Weichgewebsmanagement für eine ausreichende Abdeckung des Knochentransplantats spielt eine wichtige Rolle. Ein spannungsfreier Verschluss sollte erreicht und eine Verkürzung des Vestibulums durch gezielte Schnittführung oder sorgfältige Auswahl des Weichgewebetransplantats vermieden werden. Bei bilateralen breiten Spalten wird aufgrund des Weichgewebedefizits ein zweistufiger Verschluss – eine Seite nach der anderen mit einem Mindestintervall von drei Monaten – empfohlen. Vor Einbringung eines Knochentransplantates sollte – falls kein suffizienter weichteiliger Abschluss zur Nasenhaupthöhle besteht – der Nasenboden mit einer lokalen Mukosaplastik verschlossen werden.

4.1 Geschichte und Entwicklung

Um das aktuelle Konzept der sekundären Osteoplastik zu verstehen, ist ein Rückblick auf die Entwicklung der Kieferspaltosteoplastik unerlässlich. Während zunächst archaische Methoden für die tertiäre Osteoplastik angezeigt waren, passten sich die Techniken im Verlauf an funktionelle und wachstumsentsprechende Prinzipien an. Die Morbidität der Knochenentnahmestelle erfuhr besondere Berücksichtigung. Im Folgenden werden die wichtigsten chirurgischen Entwicklungen und ihre Protagonisten anhand von Anekdoten beschrieben.

4.1.1 Primäre und tertiäre Osteoplastik

1901

Anton von Eiselsberg (geboren 1860 in Steinhaus in Niederösterreich, gestorben 1939 bei einem Zugunfall in der Nähe von Sankt Valentin in Niederösterreich) studierte Medizin in Wien, Würzburg, Zürich und Paris. Er absolvierte seine chirurgische Ausbildung bei Theodor Billroth in Wien. Ab 1893 war er Direktor der Chirurgie an der Universität Utrecht, ab 1896 an der Universität Königsberg/Ostpreußen, bevor er 1901 Leiter der Ersten Abteilung für Chirurgie an der Universität Wien wurde. Von Eiselsberg ging 1931 in den Ruhestand und gilt als Gründer einer der größten chirurgischen Schulen in Europa – Hans Pichler war einer seiner Schüler (Von Eiselsberg 1937). Neben seinen wertvollen Beiträgen zur Neurochirurgie unternahm von Eiselsberg erste Anstrengungen zum autologen Knochentransfer in Kieferspalten. 1901 berichtete er über einen ungewöhnlichen gestielten „Composite-Gewebe“-Transfer bei einer 19-jährigen Bäckerstochter. Von Eiselsberg transplantierte den gesamten kleinen Finger in die Kieferspalte der jungen Frau. Er entepithelialisierte die volare Oberfläche des Fingers, entfernte Sehnen und Fingernagel und fixierte den Finger an der Prämaxilla (Abb. 4.1). Zwanzig Tage später durchtrennte er den Stiel (Von Eiselsberg 1901; Haeseker 1990).

Abb. 4.1
figure 1

Zeichnung der Fingertransplantation bei einer 19-jährigen Frau (aus Von Eiselsberg F. Zur Technik der Uranoplastik. Arch Klin Chir. 1901;64:509-29; gemeinfrei)

1908

Erich Lexer (geboren 1867 in Freiburg im Breisgau, gestorben 1937 in einer Telefonzelle in Berlin) absolvierte das Medizinstudium in Würzburg. Nach anatomischer Forschung und Arbeit in Göttingen wurde er an der Charité in der Chirurgie ausgebildet. 1905 wurde er Direktor der Chirurgie an der Universität Königsberg/Ostpreußen, bevor er 1910 Leiter der Chirurgischen Abteilung der Universität Jena wurde. 1919 übernahm er den Lehrstuhl für Chirurgie an der Universität Freiburg, bevor er schließlich 1928 Leiter der Chirurgischen Abteilung an der Universität München wurde, wo er die chirurgische Kapazität auf fast 500 Betten ausbaute. Neben Jacques Joseph gilt Erich Lexer als Vater der plastischen Chirurgie in Deutschland. Während Jacques Joseph in den 1930er Jahren aufgrund seiner jüdischen Abstammung seine ärztliche Zulassung verlor (Bhattacharya 2008), war Erich Lexer ein angesehener Chirurg im Nationalsozialismus. Er veröffentlichte ein detailliert beschriebenes Verfahren zur Sterilisation und Kastration von Männern, die dem nationalsozialistischen Zwangssterilisationsgesetz zum Opfer fielen (Zimmermann 2016). Lexer war aber auch einer der ersten Chirurgen, die sich mit Knochentransplantationen beschäftigten. Am 21. April 1908 berichtete er in einem Vortrag auf dem Deutschen Chirurgenkongress über die Verwendung von autologen Tibiaknochentransplantaten bei älteren Spaltkindern (Lexer 1908; Bonatesta 2000).

1914

Richard Drachter (geboren 1883 in Ellwangen/Deutschland, gestorben 1936 an einer Lungengangrän verursacht durch Tuberkulose in Krailling bei München) absolvierte sein Medizinstudium in Kiel und München. Er begann seine Ausbildung als Chirurg, insbesondere als Kinderchirurg, an der Universität München im Jahr 1909. Während seiner Arbeit an der Hauner'schen Kinderklinik (1912-1936) legte er besonderen Wert auf die Spaltchirurgie und führte 1913 über 50 Gaumenplastiken durch. Zwanzig Jahre später berichtete er von 94 Gaumenplastiken pro Jahr, was zu der Zeit die größte Anzahl in einem einzelnen Zentrum in Deutschland war (Kaufmann 1998). Drachter beschrieb bereits 1914 die Knochentransplantation in eine breite bilaterale Kieferspalte bei einem 7-jährigen Jungen. Probleme bei der Operation zeigten sich bei Transplantation von Knochen und Periost von der Tibia zum Gaumen und Alveolarfortsatz. Als besondere Herausforderung erschien dabei die Schaffung des erforderlichen Wundbettes, das er aus der Weichgewebsmanschette von unterer Nasenmuschel und Vomer gewann (Drachter 1914).

1952

Eduard Schmid (geboren 1912 in Kressbronn am Bodensee, gestorben 1992 in Stuttgart) erhielt seine chirurgische Ausbildung in der Abteilung von Martin Wassmund an der Charité. Nach der Behandlung vieler Soldaten mit Gesichtsverletzungen im Zweiten Weltkrieg gründete Schmid 1950 die Abteilung für Rekonstruktive Chirurgie am Marienhospital in Stuttgart. Er trug wesentlich zur Weiterentwicklung der Kieferspaltosteoplastik bei. Nach einem Besuch bei Eduard Schmid beschrieb der US-amerikanische Chirurg Richard Schultz, dass dieser bereits 1944 begonnen hatte, Knochen in Gaumendefekte zu transplantieren. Anfangs hatte er dafür Rundstiellappen als Träger verwendet (Schultz 1964). Schmid selbst hatte seit 1952 über den primären Beckenkammtransfer zwischen die spaltbedingt getrennten Alveolarfortsätze berichtet. Er führte die Technik bei Patienten im Alter von 8 Monaten durch (Schmid 1955; Schmid 1954). Ab 1962 schlug er zusätzlich die knöcherne Augmentation der Spalte im harten Gaumen der Patienten vor (Schmid 1967).

4.1.2 Der Weg zur sekundären Osteoplastik

1954

In Schweden entwickelte sich eine weitere „Primäre Osteoplastik“-Gruppe um den plastischen Chirurgen Bengt Johanson (geboren 1920 in Borås, gestorben 2007). Johanson war bekannt für seine Beiträge zur Urethroplastik, setzte aber auch einen Meilenstein in der Kieferspaltosteoplastik. In seiner Zeit als außerordentlicher Professor am Karolinska-Institut in Stockholm arbeitete er mit dem Kieferorthopäden Karl-Erik Nordin zusammen. Ihr interdisziplinärer Ansatz beinhaltete die anfängliche kieferorthopädische Ausrichtung der Kieferstümpfe. Danach wurden die Stümpfe durch chirurgisch implantierten Knochen in die Kieferspalte und zusätzlich in die Hartgaumenspalte stabilisiert (Schultz 1964). Bengt Johanson wechselte 1956 nach Göteborg, wo er Leiter der Abteilung für Plastische Chirurgie am Sahlgrenska Universitätshospital wurde. Auf dem Hamburger Spaltsymposium 1964 begann er das Verfahren der primären Osteoplastik in Frage zu stellen. Angesichts der positiven Auswirkungen einer kieferorthopädischen Behandlung ohne frühe Osteoplastik änderte er seine Politik: Ab 1968 führte Johanson sekundäre Osteoplastiken in der gemischten Dentition durch (Johanson et al. 1974; Randall und LaRossa 2006).

1972

Die aktuellen Prinzipien der sekundären Osteoplastik wurden von Philip Boyne (geboren 1924 in Houlton, Maine, gestorben 2008 in Loma Linda, Kalifornien) definiert (Boyne und Sands 1972; Boyne und Sands 1976). Boyne schloss sein Studium an der Tufts Dental School in Boston im Jahr 1947 ab, bevor er 20 Jahre in der US-Marine tätig war. Danach begann er eine zweite Karriere und forschte mit Fokus auf Knochentransfer und ideale Biomaterialien. Zunächst arbeitete er als Wissenschaftler und Professor an der UCLA. 1975 wurde er Gründungsdekan der School of Dentistry an der University of Texas in San Antonio, bevor er sich drei Jahre später entschied, nach Kalifornien zurückzukehren. Boyne übernahm eine Position an der Loma Linda Dental School, wo er bis zu seiner Pensionierung arbeitete (Spector 2008).

4.2 Patientenfall

4.2.1 Sekundäre Kieferspaltosteoplastik

Im vorliegenden Fall wird eine rechtsseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte dargestellt. Dabei wird die Kieferspalte mit autologem spongiösen Knochen aus der anterioren Beckenkammregion augmentiert. Der weichgewebige Verschluss erfolgt mit palatinaler Schleimhaut und einem Axhausen-Lappen aus dem Oberkiefervestibulum (Abb. 4.2, 4.3, 4.4, 4.5, 4.6, 4.7, 4.8, 4.9, 4.10, 4.11, 4.12, 4.13, 4.14, 4.15, 4.16, 4.17, 4.18, 4.19, 4.20, 4.21, und 4.22) (Axhausen 1930).

Abb. 4.2
figure 2

Kieferspalte auf der rechten Seite, Frontansicht

Abb. 4.3
figure 3

Krestale Schnittführung knapp bukkal des Alveolarkamms und sorgfältige Präparation der palatinalen Mukoperiostlappen

Abb. 4.4
figure 4

Vereinigung beider palatinaler Lappen mit resorbierbarer Naht der Fadenstärke 4-0

Abb. 4.5
figure 5

Naht der palatinalen Lappen, Ansicht von bukkal

Abb. 4.6
figure 6

Vernähte Gaumenschleimhaut, falls notwendig erfolgt ein dichter Verschluss der Nasenbodens

Abb. 4.7
figure 7

Schnittführung posterior der Spina iliaca anterior superior (Markierung mit Kreuz)

Abb. 4.8
figure 8

Entnahme spongiösen Knochens mit einem Trepan/Shepard Zylinder Osteotom

Abb. 4.9
figure 9

Spongiöser Knochen aus der Beckenregion

Abb. 4.10
figure 10

Applikation eines bovinen Kollagenschwamms als Hämostyptikum in die Entnahmeregion

Abb. 4.11
figure 11

Axhausen-Lappen-Design im Oberkiefervestibulum

Abb. 4.12
figure 12

Hebung eines gestielten Axhausen-Lappens für die Vestibulumplastik

Abb. 4.13
figure 13

Transponierter Axhausen-Lappen für die Vestibulumplastik

Abb. 4.14
figure 14

Transplantation des spongiösen Knochens in die Kieferspalte

Abb. 4.15
figure 15

Vestibulumplastik mit dem transponierten Axhausen-Lappen unter Verwendung von resorbierbaren Nähten der Fadenstärke 4-0

Abb. 4.16
figure 16

Die Entnahmestelle des Axhausen-Lappens wurde primär verschlossen

Abb. 4.17
figure 17

Zehn Tage postoperativ nach Entfernung der Nähte

Abb. 4.18
figure 18

Sechs Wochen postoperativ mit durchgebrochenem Eckzahn (Zahn 13)

Abb. 4.19
figure 19

Fünf Monate postoperativ mit durchgebrochenem Eckzahn (Zahn 13) und Prämolar (Zahn 14)

Abb. 4.20
figure 20

19 Monate postoperativ nach Zahnstellungskorrektur

Abb. 4.21
figure 21

24 Monate postoperativ – kieferorthopädische Therapie abgeschlossen, intraorale Ansicht von lateral

Abb. 4.22
figure 22

24 Monate postoperativ – kieferorthopädische Therapie abgeschlossen, intraorale Ansicht von frontal