Joachim Sartorius: Zu Joachim Sartorius’ Gedicht „Lilia Brik mit Majakovskij in Samarkand (undatierte Fotografie)“

Joachim Sartorius: Zu Joachim Sartorius’ Gedicht „Lilia Brik mit Majakovskij in Samarkand (undatierte Fotografie)“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Joachim Sartorius’ Gedicht „Lilia Brik mit Majakovskij in Samarkand (undatierte Fotografie)“ aus Joachim Sartorius: Ich habe die Nacht.

 

 

 

 

JOACHIM SARTORIUS

Lilia Brik mit Majakovskij in Samarkand
(undatierte Fotografie)

Die Schatten sind gesprächig, obwohl sie nicht sprechen werden.
Das Licht spricht auf seine Weise: Ein stummer Lichtwinkel
quer über dem Boden, wie ein schlafender Körper. Und
Majakovskij spricht nicht, und Lilia lächelt. Weil sie nicht
sprechen können (es ist ja eine Fotografie) scheint uns,
sie tragen viele, zu viele Geheimnisse in sich herum.

Rast in Samarkand bei einer Imbißbude. Zwei Männer stehen
hinter der Auslage (Zwei Töpfe. Teigwaren? Früchte?),
ein dritter hinter flach auf der Erde gestapelten Kisten.
Im Vordergrund Lilia auf einer Holzbank, Majakovskij
auf usbekischem Rohrstuhl. Beide mit Wanderstöcken.
Alle fünf schauen in die Kamera. Wer nimmt auf? Ossip?

Sie lächelt nicht Ossip an. Es ist Sommer. Ihre Schultern sind
rund, braun. Sie ist entschlossen, die unwiederholbare Liebe
im Leben eines großen Dichters zu sein. Das sieht man.
Tatiana, die Rivalin in Paris, wird diesen Vicomte heiraten.
Noch ein paar Jahre, und Majakovskij schießt sich eine Kugel
durch den Kopf in der Lubianski-Gasse. Er sieht schon jetzt

nicht glücklich aus. Aber die entspannte Pose – aus schwarzem
Unterhemd mit weißer Bordüre ausgestreckter Arm, Feldherren-
hand auf Knauf – übertüncht alles. „Ich mag es nicht ohne dich“,
hatte er dieser Tatiana per Telegramm mitgeteilt. Jetzt ist er hier.
Er hat dicke Melonenkerne ausgespuckt. Die grüne Moschee ist,
so die Verfügung der Soviets, Quartier für den Arbeiterverein.

Sonst ist alles einladend, großzügig fast. Am oberen Rand
der Fotografie die Ränder der Oase. Es ist heiß. Erst der Abend
wird diese Ordnung verwirren, mit Vögeln, mit Kamelen
aus Buchara, Luftschiffen aus dem Hinterland. Vier Männer,
eine Frau. Eine Frau und ein Mann. Im Kopf des Mannes
ein Bienenkorb von Frauen. Er ist so gesucht, so höflich (angeblich)

und wird heute nacht auf dem Registan vor 5.000 lesen.
Doch in die gewaltsame Veränderung der Gesellschaft ist er
nicht so vernarrt wie früher. Seine Themen, immer öfter, stur:
Unerwiderte Liebe, Einsamkeit, Zerstörung. „Ich bin so einsam
wie das einzige Auge eines Mannes auf dem Weg zu den Blinden.“
Die Sprünge in den Gefäßen repariert man hier mit Gold.

Nie ist uns ein so scharfes Bild begegnet. Wegen der Verkürzung
kann man nicht in die Holzkisten sehen. Besser so. Die Vögel
regen sich. Lilia: ein leichtes Schwindelgefühl. Ossip: abwesend.
Majakovskij: Durst in einer Wüstenei von Überzeugungen.
Heute abend, lesend, wird er sich an Seide und Sinn beruhigen.
Wann kommt die Nacht, und mit der Nacht endlich

der ornithologische Zauber? Flügel, Schwärme, Schnörkel,
die nicht zur Wahrheit gehören. Ein Schwindelgefühl.
Wußte er viel von Frauen? Auf der Fotografie immer
noch Mittag, steiles Licht. Kein Zwielicht. Gezielter Blick
nur. Die Kartuschen der Liebe. Blendende Schachzüge aus Eis.
Man muß dies alles ersinnen aus verblichenen Erinnerungen

und zum Augenblick eindicken mit dem Weiß des Kleides,
dem Schwarz des Unterhemds, dem vergilbten Müll
am Rand der Sträucher, dem Weiß ihrer Augen, man muß
den Streit ersinnen und die endlosen, sinnlosen Wechsel
von Briefen, Telegrammen, Telefonaten, zu ersinnenden
Gefechten der Liebe und der überbelichteten Müdigkeit.

 

Jenseits von Samarkand

– Zu den Materialien für das Gedicht „Lilia Brik mit Majakowskij in Samarkand (undatierte Fotografie)“. –

 

Lilia Brik mit Majakovkij in Samarkand (undatiert, unbekannter Fotograf) aus der Sammlung David King

Lilia Brik mit Majakovkij in Samarkand (undatiert, unbekannter Fotograf) aus der Sammlung David King

 

Mitte Januar 2002 las ich im Intercity von Berlin nach Frankfurt den neuen New Yorker und stieß auf ein undatiertes Foto, das Lilia Brik mit Majakowskij bei einer Imbißbude in Samarkand zeigt. Das Foto war einem Essay beigegeben, dessen Anlaß die Entdeckung von bisher nicht bekannten Briefen und Telegrammen von Vladimir Majakowskij an Tatjana, eine Exilrussin in Paris, in die er sich verliebt hatte, war. Lilia Brik war auf diese Frau sehr eifersüchtig und hatte ihre Schwester Elsa Triolet, die in Paris lebte und mit Louis Aragon verheiratet war, gebeten, „diese Tatjana“ zu beschatten. Diese Geschichte kannte ich bereits; die neu gefundenen Briefe von Majakowskij interessierten mich wenig. Ich übernahm nur den Satz „Ich mag es nicht ohne dich“ aus einem Telegramm, das Majakowskij nach Paris sandte, kurz bevor Stalins Behörden ihm keine Ausreisevisen mehr erteilten. Was mich allerdings faszinierte, war das Foto, undatiert, von einem unbekannten Fotografen. Es ist der alleinige Auslöser des Gedichts.
Was mir nie zuvor und auch seither nicht mehr passierte: Ich fing, das Foto vor Augen, noch im Zug dieses Gedicht zu schreiben an, elektrisiert, wie unter einem merkwürdigen Zwang. Zeile kam zu Zeile. Es wurde ein längerer Text, den ich dann über mehrere Wochen wieder ausdünnte, veränderte, kürzte und wieder ergänzte. Daß dieses Bild eine die gesamte Zugfahrt anhaltende „Inspiration“ auslöste, kann ich mir nur dadurch erklären, daß ich zwei Jahre zuvor durch Usbekistan gereist und in Samarkand das Festival „Klänge des Ostens“ auf dem Registan besucht hatte, jenem gewaltigen, von prächtigen Moscheen und Medresen umringten Zentralplatz der Stadt, welche um 1400 die Hauptstadt des Eroberers Tim ur war. Dieses Gedicht muß in Samarkand bereits unterwegs gewesen sein, sammelte Eindrücke, merkte sich Bilder und Geschichten für mich. Im islamischen Museum von Samarkand zum Beispiel entdeckte ich zur heißen Mittagszeit – die Wärterinnen aßen Zwiebeln und Würste auf geblümelter Decke mitten in den Ausstellungsräumen – jene kostbaren Gefäße, deren Sprünge mit Gold repariert worden waren. Ein anderes Beispiel: Im Bazar kaufte ich Postkarten aus der Sowjetzeit, die Moscheen des frühen Mittelalters zeigten, als Bilderläuterung aber nur angaben: „Arbeiterclub“ oder „Parteibüro“.
Wahrscheinlich war das Gedicht aber schon viel früher unterwegs gewesen. In den frühen 80er Jahren hatte ich mich sehr für Lilia Brik interessiert. Ich hatte ihre Wohnung in Moskau besucht; eine Freundin besorgte mir Tonbänder mit ihrer Stimme, damals eine große Seltenheit, und den berühmten Buchumschlag mit der Rodschenko-Porträtfotografie von Lilia Brik. Der intensive Blick Lilias auf dem Samarkandfoto hatte mich wohl sofort an die weit aufgerissenen Augen der Aufnahme von Rodschenko erinnert. Lilia war mit Ossip Brik verheiratet. Beide waren glühende Marxisten und hatten einen „Liebespakt nach Chernyschevsky-Art“ geschlossen, eine Referenz an den radikalen russischen Denker des 19. Jahrhunderts, der für ,offene Ehen‘ plädierte. Ossip Brik akzeptierte von Anfang an alle ihre außerehelichen Bindungen. Als sie ihm 1915 erzählte, daß sie mit Majakowskij geschlafen habe, soll er gesagt haben:

Wie könnte man einem solchen Mann auch etwas abschlagen!

Die Liebesbeziehung zwischen Lilia Brik und Majakowskij dauerte bis 1923; die Freundschaft zwischen Ossip Brik und Majakowskij währte bis zu dessen Freitod.
So hatte das Foto im New Yorker offenbar eine Fülle von viele Jahre lang gehortetem Material mit einem Schlag freigesetzt, es präsent und verfügbar gemacht. Was ich davon ,nutzte‘, was im ,Vorrat‘ blieb, ist schwer zu sagen. Ab einem bestimmten Punkt der Entstehung des Gedichts geht es ohnehin mehr um schlüssige Gestalt, um wenige wichtige Aussagen, die wie ein Sieb agieren und einige Bilder/Geschichten zulassen und andere Bilder/Geschichten aussondern. Es kommt so etwas wie ,poetische Freiheit‘ hinzu. So ist die Lesung Majakowskijs auf dem Registan erfunden; auch die Vermutung, Ossip Brik hätte das Foto aufgenommen, ist durch nichts zu erhärten; schließlich befindet sich die zum ,Arbeiterverein‘ umfunktionierte Moschee nicht in Samarkand, sondern in Buchara.
Die oft zu hörende Behauptung, Gedichte seien nicht zu erklären, ist ein Klischee. Gemeint ist wohl, daß es in einem guten Gedicht einen Kern gibt, der resistent bleibt, einen rätselhaften Rest. Die Dichter selbst haben dieses Klischee gefördert. Sie äußern sich gern zur Poesie allgemein und zu poetologischen Fragen, sehr viel seltener zum eigenen konkreten Text, als wollten sie dessen Aura bewahren. Dieses Gedicht bildet vordergründig das Foto ab. Es ist aber nicht über Samarkand, nicht über Majakowskij, nicht über Lilia Brik, nicht über die Geheimnisse zwischen Mann und Frau. Das sind alles Anlässe, um etwas über den Prozeß des Gedichtemachens selbst zu sagen. Das Wort eindicken ist das wichtigste Wort des Gedichts. Das Gedicht selbst will ein eingedickter Augenblick sein.

Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

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