Nemo
Nemo nach dem Auftritt, der zum ersten Platz in Malmö führte. "Ich liebe es, mir das Gender als Galaxie vorzustellen und mich als kleinen Stern zu zeichnen", sagt der nonbinäre Musikstar.
AFP/TOBIAS SCHWARZ

Nemo, Schweizer Nummer eins bei dem sonst an Pannen reichen Eurovision Song Contest 2024, hat eine politische Message. Eine, die gleichzeitig persönlich ist. Nemo identifiziert sich weder als Mann noch als Frau, sondern als nonbinäre Person. So stand es bereits in einem Instagram-Posting im Oktober vergangenen Jahres.

"Ich bin nur Nemo. Ich liebe es, mir das Gender als Galaxie vorzustellen und mich als kleinen Stern zu zeichnen, der irgendwo darin schwebt. Dort fühle ich mich am wohlsten", schrieb Nemo da. Den Weg dorthin schildert der heute 24-jährige Star in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen. Bestimmend sei das Gefühl gewesen, im eigenen Körper nicht zu Hause zu sein. Weder die ursprünglich männliche noch eine weibliche Zuschreibung hätten gepasst.

Anarchie und Chaos

Der Staat müsse Menschen in einer solchen Lage schützen, meint Nemo. Nach dem Triumph mit dem Lied The Code sei daher ein Gespräch mit dem Schweizer Justizminister Beat Jans angesagt, um diesem nahezulegen, auch in der Eidgenossenschaft alternative Geschlechtsbezeichnungen einzuführen. Im Unterschied etwa zu Deutschland und Österreich gibt es das in der Schweiz bis dato nicht.

Gegen dieses Begehr formierte sich rasch Widerstand. In der renommierten Neuen Zürcher Zeitung erteilte die Journalistin Christine Neuhaus den Plänen in einem Kommentar eine Absage. Die Schweizer Rechtsordnung beruhe auf dem Mann-Frau-Geschlechtsmodell, sei also binär, schreibt sie. Der Aufwand das zu ändern, wäre enorm – nicht zuletzt wegen des Militärdiensts und des, wie in Österreich, immer noch ungleichen Pensionsalters von Mann und Frau.

Daher, so Neuhaus, sei "zweifelhaft, ob die Schweizer Gesellschaft für ein drittes Geschlecht bereit wäre". Echte Gleichbehandlung für alle sei vielmehr nur durch eine "radikalliberale Lösung" möglich: "die Abschaffung aller Geschlechter". Eine Vorstellung, die wohl viele Bürgerinnen und Bürger mit Anarchie und Chaos in Verbindung bringen und daher strikt ablehnen, nicht nur in der Schweiz.

Österreichs sechs Geschlechter

Doch die NZZ-Journalistin schüttet hier das Kind mit dem Bade aus. Ein Blick in Nachbarstaaten hätte genügt: Nicht die Geschlechterordnung an sich ist in Gefahr, wenn sich ein Land aufmacht, um Menschen, für die die traditionellen Mann-Frau-Kategorien zu eng sind, eine juristische Existenz zu ermöglichen. Sie wird vielmehr erweitert.

In Österreich etwa ist nach der erfolgreichen Beschwerde einer intergeschlechtlichen Person beim Verfassungsgerichtshof seit 2019 neben "weiblich" und "männlich" auch der Eintrag "divers" möglich, seit September 2020 zusätzlich die Einträge "inter", "offen" sowie die Streichung jeder Bezeichnung. Ein Antrag, auch die Bezeichnung "nichtbinär" zuzulassen, ist bereits auf dem Instanzenweg zum Höchstgericht. Der behördliche Aufwand, der den bereits vollzogenen Änderungen folgte, hielt sich bis dato in engen Grenzen. Laut Statistik Austria hatten am 1. Jänner des heurigen Jahres bundesweit 23 Menschen ihren Personenstand als "divers", fünf als "inter", sieben als "offen" und 40 ohne Bezeichnung eingetragen. Bei drei Personen war die Geschlechtszugehörigkeit unbekannt.

Recht auf Anerkennung

Warum aber wurde überhaupt für eine so kleine Gruppe von Personen an der staatlich definierten Geschlechterordnung gedreht? Weil transsexuelle, intergeschlechtliche und nonbinäre Personen das Recht auf staatliche Anerkennung ihrer Identität haben, wie die heterosexuelle, männlich oder weiblich identifizierte Mehrheit auch. Das ergibt sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. In seinem Entscheid aus dem Jahr 2018 bezieht sich der VfGH hier auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

Die Menschenrechte gelten für alle Menschen. Die Lage von Minderheiten in einem Land zeigt in besonderem Maß, wie es um den Respekt der Menschenrechte steht. Damit sind auch sexuelle Minderheiten gemeint. Doch vielen ist nicht geheuer, dass es hierzulande außer Frauen und Männern noch andere behördlich bestätigte Geschlechtszugehörigkeiten gibt. Sie erachten den Aufwand als übertrieben.

Das ist das Einfallstor für Reaktionen über sachlich vorgetragene Kritik à la NZZ hinaus. Tatsächlich führen Berichte über nonbinäre, intergeschlechtliche oder transsexuelle Menschen häufig zu Hassexzessen, etwa in den sozialen Medien. Rechte und Konservative schimpfen, Frauen dürften nicht mehr Frauen sein, Männer keine Männer, die klassische Familie sei bedroht und natürliche oder biologische Fakten würden abgeschafft. Kurz: Tohuwabohu!

Rechtsfeministische Allianz

Diese Befürchtungen sind alles andere als neu. So tönte es bereits vor Jahrzehnten, als die Frauenbewegung sichtbarer und erfolgreicher wurde. Doch heute kommt die Behauptung hinzu, man müsse die "echten Frauen", also die Cis-Frauen, beschützen. Transfrauen gäben sich nur als weiblich aus, um in Frauenräume wie Saunen oder Toiletten einzudringen und Frauen sexuelle Gewalt antun.

Durch dieses Schutzargument entsteht eine ungewöhnliche, wenn auch nicht ganz neue Allianz zwischen Rechten und Feministinnen. So, wie sie sich etwa bereits in den Debatten rund um das Kopftuch muslimischer Frauen bildete.

Manche Feministinnen meinen gar, hinter Nonbinarität oder Transgeschlechtlichkeit stecke in Wahrheit Frauenhass. Demnach treibe die tiefverankerte Misogynie Betroffene dazu, das Frausein zu vermeiden. Außerdem werde eine zunehmende Aufweichung der Geschlechterkategorien "die Frau" an sich verschwinden lassen. Das Subjekt des Feminismus drohe, verlorenzugehen. Künftig wäre es dann nicht mehr möglich, Diskriminierung von Frauen sichtbar zu machen.

Klischeehafte Genderkategorien

Dem halten andere Feministinnen allerdings entgegen, dass nicht die Biologie die Grundlage von Frauenunterdrückung sei, sondern Zuschreibungen und Bewertungen des Weiblichen. Unter klischeehaften Genderkategorien litten heterosexuelle Frauen, lesbische Frauen, Transfrauen- und Transmänner oder nonbinäre Menschen, schwule Männer gleichermaßen. Der angeborene Körper könne nicht der einzige Ausgangspunkt sein, um über Diskriminierung wegen des Geschlechts zu diskutieren.

Der Streit um einen Quotensitz bei den deutschen Grünen bringt diesen Konflikt zum Ausdruck: Die Grünen-Politikerin und Transfrau Tessa Ganserer, seit 2021 Abgeordnete im Deutschen Bundestag, besetze zu Unrecht einen Frauenquotenplatz, empörte sich die feministische Zeitschrift Emma. Ganserer sei "physisch und juristisch ein Mann", habe weder geschlechtsanpassende medizinische Behandlungen gemacht noch ihren Personenstand ändern lassen.

Die deutschen Grünen konterten: "Frauenquotenplätze" seien für alle Frauen da. Also für alle, die sich "selbst so definieren". Nemo würde es wohl ähnlich sehen. (Irene Brickner, Beate Hausbichler, 18.5.2024)