Vielleicht gehört es zum Glück eines Menschen, über sein eigenes Leben staunen zu können und sich zu wundern, was alles dazugehört. Wenn man Historikerinnen oder Kenner der Geschichte nach knappen Charakteristiken des 20. Jahrhunderts fragt und bittet, dabei über Kriege und andere Katastrophen hinwegzusehen, bekommt man meistens etwas von den goldenen 1920er-Jahren, dem 1950er-Syndrom und optimistischen Ausblicken der 1960er-Futurologen zu hören, bevor in den 1970er-Jahren The Limits to Growth – also Die Grenzen des Wachstums – bemerkt und verkündet wurden. Tatsächlich haben sich in der Epoche, die politisch unter dem Namen Weimarer Republik bekannt ist, große Veränderungen sowohl in der Philosophie – es war offenbar so etwas wie die „Zeit der Zauberer“ – als auch in den Naturwissenschaften ereignet, was ich als Die Stunde der Physiker beschrieben habe. Aufgewachsen bin ich in den 1950er-Jahren, als der allgemeine Energieverbrauch keine Grenzen zu kennen schien, viele Familien ein Auto anschafften und zu Urlaubsreisen aufbrachen, bevorzugt in südliche Länder. Dieser Konsumschwung ermutigte einige Intellektuelle, in den 1960er-Jahren – eher im Licht als im Schatten des Mondfluges – als Zukunftsforscher aufzutreten, die eine „Kommission für das Jahr 2000“ ins Leben riefen, um sich und ihren Mitmenschen zu erklären, wie Der Weg ins Jahr 2000 aussieht, an dessen Ende sie in eine Welt höchster Qualität und voller Freiheit eintreten. Die Redaktion der „Zeit“ wollte unbedingt kurzfristig erreichbare Möglichkeiten für eine Gesellschaft im neuen Jahrtausend vorführen, weshalb sie eine Team-Prognose für Das 198. Jahrzehnt publizierte, auf der sich die Autoren auf über 500 Seiten der Lächerlichkeit preisgeben. Dies hat das Blatt nicht gehindert, nach 1980 weitere ökonometrische Trendberechnungen zu veröffentlichen, die ebenso hoffnungslos daneben lagen wie ihre ersten Versuche. Bekanntlich ist Papier geduldig, und wer sich köstlich amüsieren möchte, braucht bloß diese optimistischen Bücher aus der Hochzeit der Futurologie zu lesen, die unter anderem verkündeten, die Zeit religiös motivierter Kriege sei endgültig vorbei, der Zugriff zu den Atomen habe alle Fragen der Energieversorgung gelöst und die Physik gehe ihrer Vollendung entgegen, worüber sich Max Planck bereits im 19. Jahrhundert lustig gemacht hat.

Natürlich nahm mein eigenes Dasein den so herrlich optimistisch klingenden Lebensmut der 1960er-Jahre auf, und so wird sich niemand wundern, dass meine danach folgenden 1970er-Jahre das Leben als Fest feierten. 1971 habe ich geheiratet, 1972 habe ich mein Diplom in Physik gemacht, 1973 habe ich mit meiner Doktorarbeit am Caltech begonnen, 1975 und 1978 sind meine beiden Töchter geboren und 1979 bin ich mit der Familie an den Bodensee gezogen, wo wir über drei Jahrzehnte gewohnt haben. Darum soll es in diesem Abschnitt über „meine 1970er-Jahre“ aber nicht gehen, denn ich möchte etwas anderes erzählen, das mir im Rückblick immer deutlicher wird und an Bedeutung zunimmt. Ich war zwar in dieser Zeit vier Jahre lang mit dem Thema meiner Doktorarbeit beschäftigt und habe fleißig geforscht, aber daneben gab es eine Fülle anderer Entwicklungen, die mich eher mehr aufregten und die einen Großteil meiner Aufmerksamkeit fesselten. Wenn es erlaubt ist, dies durch eine Komplementarität auszudrücken, kann man sagen, dass ich während meiner Tätigkeit im Labor an diesem Ort über einen Punkt staunte, den es zum Erwerb eines Titels aufzuklären galt. Außerhalb der professionellen Sphäre staunte ich über das geistige Feld, das Kulturschaffende in der erlebten Zeit für neugierige Menschen aufspannten und ihnen fantasievollen Freiraum für ihr Leben bot.

Um dies an Beispielen zu illustrieren: In dem Jahr, in dem ich Carl Friedrich von Weizsäcker durch Los Angeles kutschierte, hatte ein in Berlin geborener Mann namens Joseph Weizenbaum – er gehörte mit zu Hitlers Geschenken an die Welt –, der es in den USA zum Professor für Computer Science am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei Boston gebracht hatte, ein Buch veröffentlicht, in dem er Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft in Beziehung zueinander setzte. In seiner Streitschrift warnte Weizenbaum seine Mitmenschen davor, alles auszuführen und umzusetzen, was technisch möglich ist, wobei mir bei der Lektüre auffiel, dass ich Worte dieser Art zum zweiten Mal las. Bereits in seinem 1972 erschienenen Tagebuch der Jahre zwischen 1966 und 1971 hatte der Schweizer Schriftsteller Max Frisch sich eine „Vereinigung Freitod“ ausgedacht, deren Mitglieder fragten, ob es wirklich sein müsse, dass Menschen so alt werden, wie die heutige Medizin es ihnen ermöglicht? Muss man alles technisch ausreizen? Könnte es nicht angemessener und humaner sein, selbst über sein Leben und dessen Dauser zu entscheiden und aus persönlichen Überzeugungen nach reiflichem Nachdenken mit eigenem Willen festzulegen, wann es genug ist mit dem irdischen Dasein und man sich auf seinen Tod einlassen kann? Sollte es neben der Kontrolle über den Beginn des Lebens nicht auch die Entscheidungsmöglichkeit über seine Beendigung geben? Bekanntlich wird in öffentlichen Debatten gerne vom Sinn des Lebens fabuliert, aber dieser hohe Wert setzt das Ganze des Daseins voraus, um ihn ehrlich anzuwenden und mehr als eine hohle Phrase sein zu lassen. Und zum Ganzen des Lebens gehört ganz selbstverständlich der Tod.

Zurück zu Weizenbaum, der in den 1960er-Jahren ein Computerprogramm vorgelegt hatte, das ursprünglich als Scherz gemeint war, bald aber in aller Welt ernsthaft diskutiert und als Gefahr für die Gesellschaft verstanden wurde. In diesem Kontext verblüffte den Informatiker am meisten, mit welcher Heftigkeit Menschen auf Maschinen reagieren, wenn sie sich direkt betroffen fühlen und man sich auf sie verlassen wollte. Was war passiert?

Weizenbaum hatte das konzipiert, was aus heutiger Sicht als Vorläufer von Chatbots gelten kann. So heißen Computeranwendungen, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz in der Lage sind, sich mit Menschen in einer Sprache zu unterhalten, die Homo sapiens im Laufe des werdenden Lebens natürlich erwerben konnte. Bereits 1966 hatte der deutschstämmige Informatikpionier eine psychotherapeutische Sitzung durch einen Frage-Antwort-Austausch simuliert und dem dabei verwendeten Programm den Vornamen der Blumenverkäuferin Eliza Doolittle gegeben, die in dem von George Bernard Shaw verfassten Theaterstück Pygmalion von einem Sprachforscher beigebracht bekommt, sich anständig auszudrücken. Der Gelehrte verwandelt das Mädchen Eliza dabei in eine Dame der höheren Gesellschaft, die in den vornehmen Kreisen Londons deshalb akzeptiert wird, weil sie vorgegebene Regeln – etwa bei der Aussprache von mehrsilbigen Wörtern – beherrscht und einhält. (Viele Menschen werden Eliza als Figur aus dem Musical My Fair Lady kennen, das in den 1950er-Jahren nach Shaws Vorlage entstanden ist und ein Welterfolg wurde.)

Caltech hatte Weizenbaum zu einem Vortrag eingeladen, in dem er über Computer Power and Human Reason nachdenken wollte, und während er das Rechnen und das Räsonieren miteinander verglich, erzählte er von seiner Absicht, die ihn zur Schaffung von ELIZA geführt hatte. Das Programm, das in vieler Hinsicht und nicht nur für seinen Urheber „incredibly simple“ wirkte und auf viele Fragen ausweichend mit der Bitte antwortete, „Erzählen Sie mir mehr über Ihre Familie“, sollte als Karikatur einer Unterhaltung dienen, wie sie etwa in einem ersten therapeutischen Gespräch zwischen Arzt und Patient stattfindet, und vor allem auf die erstaunliche Beschränktheit der Kommunikation gerade von vielen Menschen untereinander aufmerksam machen. Weizenbaum war ziemlich schockiert, als er merkte, dass Leute, die ELIZA um Rat fragten, im Laufe ihres Dialogs mit dem Computer meinten, mit einer „echten Person“ zu sprechen, und manche Menschen reagierten nicht nur wütend auf die Antworten der programmierten Maschine, sondern brüllten das Gerät lautstark an, als es ihre Fragen nur unbefriedigend beantwortete. Wie kann man emotional auf solch eine Maschine reagieren, die doch nur eine „Chatter Box“ war und die heute Chatbot heißt, wunderte sich Weizenbaum, und in der Nachsitzung zu seinem Seminar fügte der Schöpfer von ELIZA resigniert hinzu, es sei eine Ironie des Schicksals, dass sein Produkt eine derartige ungeheure Eigendynamik entfalte, die sich gegen seine ursprünglichen Intentionen richtete. Er räumte ein, „Jetzt trage ich selbst zu der Entwicklung von Dingen bei, die mir mehr und mehr Sorgen bereiten und einen Traum in einen Alptraum verwandeln können. Abgesehen davon zeigen mir die Reaktionen auf ELIZA, dass selbst ein gebildetes Publikum einer schicken Technologie übertriebene Eigenschaften zuschreibt, auch oder gerade, wenn sie nichts vom Innenleben der Maschinen versteht.“

Ich erlaubte mir in der erlauchten Runde um Weizenbaum die Frage zu stellen, seit wann mit jedem Fortschritt in der Wissenschaft – also mit jeder Chance – die Sorgen vor den damit einhergehenden Gefahren – also das dazugehörige Risiko – zum eigentlichen Thema geworden ist. Ich erinnerte dabei an die 1973 vorgestellte Gentechnik, also die In-vitro-Rekombination von Erbmolekülen im Reagenzglas, die in der Öffentlichkeit weniger Freude an den neuen Möglichkeiten zur Analyse des genetischen Materials und mehr Sorge vor Manipulationen der DNA mit sich gebracht hatte. Weizenbaum antwortete, dass sich der Ernst der Lage in diesem biologischen Fall rasch herumgesprochen habe – immerhin könne man jetzt Gene mit Krebswirkung in Bakterien einschleusen, die dann durch die Luft sausen und andere Menschen erreichen könnten –, und er verwies auf die Konferenz im kalifornischen Asilomar, auf der sich die Molekularbiologen 1975 auf Verfahren und Regeln verständigt haben, die es ihnen erlaubten, weiter wissenschaftlich zu experimentieren, ohne Gefahren für die Gesundheit von Mensch und Tier heraufzubeschwören. Eigentlich – so meinte der Computerfachmann auf der Bühne in den 1970er-Jahren – müsse man auch so etwas für das Thema der Künstlichen Intelligenz (KI) machen – wobei Weizenbaums Bemerkung hier zu dem Hinweis verpflichtet, dass 2017 ein „Future of Life Institute“ solch ein Treffen mit mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Bereichen wie Wissenschaft, Ökonomie und Philosophie organisiert hat und dabei Asilomar-Prinzipien formuliert werden konnten. Sie beschwören letztlich die Idee einer „beneficial“ KI, rufen nach technischer Transparenz und bestehen auf persönlichem Datenschutz – wobei ich mich frage, ob die dumpfen Massen, die mit ihren Verlautbarungen die sozialen Medien überschwemmen, darauf auch nur einen Gedanken verschwenden. Persönlich möchte ich an dieser Stelle noch anmerken, dass der gegenwärtige Hype – gemeint ist der Sommer 2023 – um die jüngsten Chatbots mit Namen wie GPT-4 (Generative Pretrained Transformer Nr. 4) in meinen Augen nicht zeigt, wie geistvoll Maschinen in Zukunft werden können, sondern wie geistlos viele Menschen bislang tätig gewesen sind, auch oder gerade dann, wenn sie für Medien gearbeitet und Texte oder andere Stücke für sie verfasst haben. Dieser Branche könnte eine sprachfähige KI das künftige Geldverdienen tatsächlich schwerer machen.

Viele Philosophen haben sich lange Zeit darüber besorgt gezeigt, dass Maschinen so werden können wie Menschen. Jetzt müssen sie mit dem umgekehrten Sachverhalt klarkommen, dass sich viele Menschen längst als Maschinen aufführen und dabei anscheinend wohlfühlen. Delbrücks alte Frage, Mind from Matter?, kann bei der gegenwärtigen Lage der Chatbots noch insofern verneint werden, da niemand glaubt, dass die Maschine mit den von ihr geäußerten Worten sich auch den Begriff von der Sache machen kann, die sie mit einem Wort bezeichnet. Schon Goethes Faust hat verstanden und beschrieben, was GPT-4 und verwandte Sprachsysteme vermögen, und was nicht, „denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein“, und so blendet die Menschen, was die Maschinen tatsächlich elegant und überzeugend hinbekommen.

Zurück in die 1970er-Jahre, als Weizenbaum die Runde am Caltech daran erinnerte, dass erstens der Begriff der KI seit den 1950er-Jahren zirkulierte, als Computerwissenschaftler erstmals systematisch Expertensysteme entwickelten, die medizinische Diagnosen ausführen und Therapieentscheidungen treffen konnten, und dass zweitens der Urvater aller rechnerischen Intelligenz bereits im 17. Jahrhundert gelebt und auf den Namen Gottfried Wilhelm Leibniz gehört habe, was er noch aus seiner Berliner Jugend wisse. Dieser Universalgelehrte aus den frühen Tagen der Aufklärung habe sich Gedanken über eine natürliche Sprache gemacht, in der sich sämtliche logische Aussagen formulieren ließen. Leibniz strebte ein geeignetes System von Zeichen und Figuren an – er nannte es „characteristica universalis“ , das allgemein und umfassend für die ganze Welt und alle Menschen verfügbar sein müsste, und zwar so, dass jedes Streiten und Argumentieren in Form einer sachlichen Kalkulation oder rationalen Analyse mit diesen Zeichen entschieden werden könnte – gleich ob es sich um juristische Fragen, um politische Entscheidungen, um moralische Einwände oder um mathematische Behauptungen handelte.

Ich habe später in der Bibliothek in den Schriften von Leibniz geblättert und einen Passus gefunden, der Weizenbaums Ansicht verdeutlicht. Leibniz schreibt um 1700: „Alle Forschungen, die von der Vernunft abhängen, würden über die Umformung solcher Zeichen und einen gewissen Kalkül laufen, was die Erfindung schöner Dinge ungemein vereinfachte. Man müsste sich nicht mehr den Kopf zerbrechen, wäre aber versichert, alles Machbare auch machen zu können. Und wenn jemand an dem, was ich vorgebracht haben würde, zweifelte, würde ich ihm sagen: ‚Rechnen wir, mein Herr!‘“.

Mir kam diese Passage so vor, als ob Leibniz seine merkwürdige Ansicht, wir Menschen lebten in der „besten aller möglichen Welten“, durch die Abschaffung aller Möglichkeiten zum Streiten mehr oder weniger mathematisch absichern wollte. Jetzt aber noch einmal zurück zu Weizenbaum, der noch gefragt wurde, ob Leibniz bei seinen Bemühungen von der Überzeugung einer berechenbaren Welt ausgegangen sei. Oder impliziert sein berühmter Satz „Wenn Gott rechnet, entsteht die Welt“ die Ansicht, dass Menschen eine göttliche Arithmetik nicht nachvollziehen können?

Der Schöpfer von ELIZA kannte sich bei dem Urvater seiner Bemühungen aus und antwortete: „Auf jeden Fall schwebte Leibniz die Utopie einer durchgängig rational kontrollierten Welt vor Augen, wie es für die Aufklärung allgemein gilt. Doch heute darf die Frage gestellt werden, warum die Idee solch einer Welt, in der alles durch Rationalität entschieden wird, nicht funktionieren kann. So abwegig vielen Menschen die Hoffnung auch erscheinen mag, man könne zum Beispiel die Farbigkeit der sinnlichen erlebbaren Welt und das Hörerlebnis einer Bach-Chaconne vollständig durch bloße Zahlen und korrektes Zählen ausdrücken und erfassen, so unzweifelhaft sind viele andere dem Rausch der Daten verfallen, die in digitaler Form von Computern verarbeitet werden. Die Medien informieren die Menschen permanent durch Prozentangaben mit Stellen hinter dem Komma über das Wählerverhalten oder Regenwahrscheinlichkeiten in Wetterberichten und spielen dem Publikum auf diese Weise nach wie vor den Traum vor, den Leibniz als Erster hatte. Lässt sich alles durch Zahlen ausdrücken – wie Leibniz meinte –, oder geht dies nicht? Brauchen wir bloß noch auf die Computer zu warten, die mit ihrer Rechenkapazität in Bruchteilen von Sekunden Zeichenfolgen von Trilliarden Nullen und Einsen bewältigen und damit der Wissenschaft die Möglichkeit geben, die Welt zu entzaubern, wobei Soziologen den Menschen gerne einreden, dies sei schon längst geschehen? Oder steht der Idee eines rechnerischen und ausschließlich formalen Verständnisses der Welt ein prinzipiell unüberwindbares Hindernis im Wege, das die Utopie von Leibniz unerreichbar und die Datenflut der Medien scheinheilig werden lässt? Gibt es etwas, was der Universalgelehrte übersehen hat und heute immer noch nicht ernst genug genommen wird?“

Die Antwort auf die letzten Fragen heißt zum Glück eindeutig „Ja“, wie bald einige der anwesenden Experten betonten, nur kennt man sie erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. In den frühen 1930-Jahren – so erfuhr ich nicht an diesem Abend, aber später bei der Arbeit an Delbrücks Wahrheit und Wirklichkeit – hat ein weiteres Geschenk Hitlers an die Welt, der aus Wien stammende Logiker Kurt Gödel – der später Einsteins Nachbar im amerikanischen Princeton wurde – sich über den Begriff der Entscheidbarkeit Gedanken gemacht und dabei zur allgemeinen Überraschung seiner Zunft zeigen können, dass es mathematisch gefasste Aussagen gibt – zum Beispiel: Jede gerade Zahl größer als 2 kann als Summe von zwei Primzahlen geschrieben werden –, die eindeutig zu formulieren sind, ohne dass bei ihnen zu entscheiden wäre, ob sie richtig oder falsch sind. Mit anderen Worten, es gibt wahre Sätze, die sich nicht beweisen lassen, was in der einfachsten Form bedeutet, dass es Wahrheiten gibt, deren Gegenteil nicht falsch ist, sondern eine ebenbürtige Wahrheit ausdrückt. Das Gegenteil einer gewöhnlichen Wahrheit, die man auch mit dem Wort „richtig“ charakterisieren kann, ist bloß falsch. Wenn die Sonne scheint, dann stimmt es nicht, dass es regnet. Das Gegenteil einer tiefen Wahrheit liefert aber eine zweite tiefe Wahrheit. Gott existiert für die Gläubigen, Gott existiert nicht für die Gottlosen, und so kommen die Paradoxien in die Welt und das menschliche Denken, was Niels Bohr mit seiner Idee der Komplementarität voller Freude begrüßte.

Kurz nachdem Weizenbaum über seine von Wilhelm Busch formulierte Erfahrung berichtet hatte, dass auch beim Programmieren alles anders kommt, als man gedacht und gehofft hat, lernte ich am Caltech einen weiteren Berliner kennen, den Hitler der Welt geschenkt hat, und zwar den Molekularbiologen und Wissenschaftsphilosophen Gunther S. Stent, der Ende der 1930er-Jahre über Antwerpen in die USA geflüchtet und hier Professor an der Universität von Kalifornien in Berkeley geworden war. Stent hatte über Max Delbrück zur Genetik gefunden und sich von dort aus der Neurobiologie zugewandt. 1978 hatte er ein viel diskutiertes Buch über Die Paradoxien des Fortschritts vorgelegt, dessen Thesen er bereits im Jahr zuvor in einem Seminar am Caltech vorgestellt hatte, das bei mir einen ungeheuren Eindruck hinterließ und mich nachhaltig beeinflusste, wie ich damals geschrieben hätte, als das Wort noch keine ideologische Bedeutung mit sich führte. Mit Stent habe ich erfolgreich zusammenarbeiten können, und er hat die Arbeiten koordiniert, die Delbrücks Vermächtnis Mind from Matter? druckfertig werden ließen, und bei den dazugehörigen Treffen in Berkeley und Berlin habe ich ihn immer wieder nach den Hindernissen und Paradoxien gefragt, die sich einer fortschrittlich ausgerichteten Welt in den Weg stellen und auf diese Weise verhindern, dass in einer perfekten Gesellschaft perfekte Menschen geboren werden, was man mit „alles bestens“ beschreiben könnte, wie ich es so oft von meiner Mutter gehört habe.

Stent erzählte, dass schon die Alchemisten nach dem Weg gesucht haben, auf dem die Vervollkommnung des Menschen gelingen kann, der von der Natur offenbar unvollkommen gelassen worden ist. Sie wollten Blei in Gold verwandeln, und sie wollten unfertige Menschen – Kinder – zu wertvollen Individuen erziehen, immer in der Annahme, dass das Gute innen vorhanden ist und nur nach außen geholt werden muss. Menschen haben zu allen Zeiten davon geträumt, durch ihrer eigenen Hände Arbeit – also durch Manipulation – das besser oder gar vollkommen zu machen, was sie in der Welt vorfinden. An diese heikle Aufgabe hat sich nicht zuletzt Goethe gewagt, der im Drama um Faust den Gelehrten im ersten Teil durch einen Hexentrank verjüngen und mit neuer Manneskraft ausstatten lässt und ihn im zweiten Teil in ein Laboratorium schickt, in dem ein besserer Mensch als der gemacht wird, den die genetische Lotterie des gewöhnlichen Beischlafs zustande bringt. Im 19. Jahrhundert kommt dabei im Theater bekanntlich nur ein Homunculus zustande, was Menschen im 21. Jahrhundert nicht von der Frage befreit, wen sie denn als besseren Menschen auf die Bretter gestellt hätten, die die Welt bedeuten? Wie denkt man sich heute den besseren oder gar vollkommenen Menschen? Es ist eine Sache, sich den perfekten Menschen vorzustellen, wenn ihn – wie zu Goethes Zeiten – nicht wirklich jemand bereiten kann. Es ist eine ganz andere Sache, sich diesen perfekten Menschen vorzustellen, wenn es den Anschein hat, dass die Lebenswissenschaften und die dazugehörige Industrie die nötigen Werkzeuge liefern können und sich alle Wünsche auf unkomplizierte Weise erfüllen lassen?

Ich fragte Stent, was er für sich selbst wünschen würde, und erfuhr: „Was würde ich mir zum Beispiel wünschen? Für mich oder für die Gesamtheit der Menschen? Ich fand einige Ideen gut, über die man in dem britischen Wissenschaftsmagazin New Scientist lesen konnte, nachdem die Reaktion ihre Leser gefragt hatte, wie sie sich die Vervollkommnung des Lebens vorstellen. Viele haben geantwortet und dabei mit einfachen Lebensformen begonnen: Einige wünschten sich Ameisen, die den Rasen mähen können. Einige wollten Blumen, die schreien, wenn sie Wasser brauchen. Man hatte auch nichts gegen Pflanzen, die Fleisch produzieren. Und was die Tierwelt angeht, so erbaten sich die Befragten Schnecken, die Autowachs ausscheiden, Füchse, die sich nicht durch Geruch zu erkennen geben, oder Katzen, die nur im Garten des Nachbarn wildern und manches mehr. Beim Menschen selbst hielten die antwortenden Leser Ohren für wichtig, die man schließen kann, man wollte eine wasserdichte Haut, um in einem See leben zu können, man wollte einen Magen, der Papier verdauen kann (um Zeitungen nach der Lektüre verspeisen zu können), und ein Gen, das die geistige Entwicklung in dem Augenblick anhält, in dem man meint, alles zu wissen. Männer wollten vor allem einen Stecker in ihrem Kopf haben, mit dem ihnen der Anschluss an den Laptop gelingt, und Frauen wollten einen Reißverschluss, um Geburten zu erleichtern, wobei die Kinder zusätzlich in einem Karton zur Welt kommen sollten, aus dem sie erst dann heraus können, wenn sie in der Lage sind, sich selbst ihre Schuhe zu binden.“

Stent fuhr fort: „Ein Problem bei solchen Wunschlisten besteht darin, dass jeder Einzelne von uns sehr wohl und sehr schnell weiß, was er an sich oder in seiner Umgebung verbessern möchte; aber die Frage nach einer Änderung der Gattung Mensch oder der gesamten Natur – also die Verbesserung von allen und allem – ist von einem ganz anderen Kaliber. Sie sollte auf keinen Fall – und jetzt wird es ernst – von denen beantwortet werden, die nicht verstanden haben, was der Philosoph Isaiah Berlin einmal so formuliert hat: ‚Die Ansicht, die richtige und objektiv gültige Lösung der Frage, wie der Mensch leben soll, lasse sich grundsätzlich entdecken, ist selbst grundsätzlich falsch‘. Und der Ideenhistoriker fügte dieser alten Einsicht die persönliche Warnung hinzu, ‚Ich glaube, es gibt nichts, was für das menschliche Leben destruktiver ist als ein fanatischer Glaube an das vollkommene Leben‘“.

Ich habe mich nach den Gesprächen mit Gunther Stent ausführlicher mit den Schriften von Isaiah Berlin beschäftigt, der in den oben zitierten Worten das ausdrückt, was man die Lektion der menschlichen Geschichte nennen kann, die spätestens bei den Philosophen der Renaissance nachzulesen ist. Dabei fasst Berlin Einsichten zusammen, die sich unter anderem in der Schrift Il Principe – Der Fürst von Nicolo Machiavelli finden. Die Idee eines perfekten Menschen, der mit genetischen Eingriffen hergestellt werden soll, scheitert nicht erst aus technischen, sondern schon aus sehr elementaren Gründen, die sich in dem schlichten Satz finden lassen, dass Menschen nicht für sich allein leben und nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen existieren können, was oben als Komplementarität bezeichnet wurde. In solch einer Situation treten unweigerlich zwei unvereinbare Ziele auf, um deren Erreichung gestritten wird, seit es humane Gemeinschaften und ein Nachdenken über sie gibt. Da ist zum einen die Freiheit oder Gerechtigkeit, die sich für den Einzelnen erreichen lässt, und ihr gegenüber steht die Freizügigkeit oder das Wohlergehen, das für die Gesamtheit möglich wird. Wer hat nicht schon mehrfach in seinem Leben erfahren, wie sehr das Interesse eines Individuums vom Interesse einer Institution abweichen kann, wobei trotzdem beide aufeinander angewiesen sind und dabei voneinander abhängig bleiben?

Stent erläuterte noch, dass ihn dies an die futuristischen 1960er-Jahre erinnere, in denen konkrete Utopien entworfen wurden, die eine neue und bessere Welt beschworen, wie dies zuvor schon Philosophen und andere Menschen zu allen Zeiten unternommen hatten. Mein Gesprächspartner wanderte gedanklich von Platon über Thomas Morus, Martin Luther und Karl Marx bis hinein in die Epoche der Achtundsechziger, deren Akteure unermüdlich den neuen Menschen ankündigten, den die Feinde des Establishments gleich hinter der nächsten Ecke am Ende der Demonstrationen vermuteten. „Wer sich diese und andere Entwürfe genauer ansieht“, so Stent, „wird bald bemerken, dass sich weder die revolutionären Schwärmer noch die professionellen Futurologen wirkliche Menschen aus Fleisch und Blut als Bewohner ihrer künftigen Gesellschaften vorstellten. In ihren Visionen kamen und kommen nur vollkommene – auch vollkommen reine oder vollkommen keimfreie – Wesen vor, die engelhaft dahinschweben und alle guten Merkmale des Menschen in sich vereinigen, während sie keine schlechten besitzen, also nichts Böses im Schilde führen oder beleidigt und neidisch sind. Solche visionären Wesen haben allerdings den großen Nachteil, dass sie ununterscheidbar sind. In den ach so beliebten Utopien ist nur von einer perfekten Gesellschaft die Rede, die offenbar von alleine funktioniert, und jeder in ihr als Individualist erkennbare und auftretende Mensch wird unmittelbar als Störfaktor betrachtet (und entsprechend rasch eliminiert).“

Soweit bekannt ist, erfuhr ich weiter, „hat noch kein Utopist die Vielfalt der Menschen – also das, was die natürliche Evolution hervorbringt – als erstrebenswertes Ziel angesehen. Im Gegenteil! Die Vorstellung der erträumten Zukunft war umso perfekter, je ähnlicher sich die in ihr lebenden Wesen auch ihrer Schönheit und Klugheit nach waren. Mit diesem Hinweis kann nicht nur verstanden werden, warum die Träume der Achtundsechziger und anderer Weltverbesserer nicht mit den Träumen der Genetiker zusammenpassen. In der Wissenschaft kann man nur individuelle Menschen ins Visier nehmen. Es gibt keine Molekularbiologie der Gesellschaft, wie es eine Molekularbiologie der Zelle gibt. Die Gentechniker können nichts von Marxisten oder anderen Utopisten lernen, wenn sie wissen wollen, wie das humane Erbgut zu verbessern ist. Aber sie können von der Alchemie lernen, wenn sie sich näher auf deren Grundgedanken einlassen – die Umwandlung von etwas Wertlosem zu etwas Wertvollen, also von Blei zu Gold oder von einem ungezogenen zu einem ausgebildeten Menschen.“

Ich füge hier hinzu, dass die erträumte Zukunft umso perfekter erschien, je ähnlicher sich die in ihr lebenden Menschen präsentierten, womit auch erkannt werden kann, weshalb die Falle des Widerspruchs zuschnappt, denn diese gleichen Wesen waren nicht als Menschen, sondern als Engel konzipiert, und sie werden auch nie Menschen sein. Ein Mitgeschöpf erkennen Menschen nur als Menschen an, wenn es etwas Individuelles darstellt und seine Individualität wahrnehmbar ist und zu moralischen Handlungen anregt. Menschen müssen einzigartig erscheinen, um von Mitmenschen eine Seele zugewiesen zu bekommen – was natürlich bei Zwillingen auch noch gelingt, aber scheitert, wenn Klone massenhaft produziert werden und als uniformierte Horden durch die Straßen laufen. Genau diese urmenschliche Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit wird durch die Unberechenbarkeit und Unvorhersagbarkeit der menschlichen Fortpflanzung garantiert, und der Dr. Wagner in Goethes Faust will gerade diese genetische Zufälligkeit abschaffen. Was lieben wir denn mehr? Einen aalglatten Menschen mit perfekten Manieren und permanentem Lächeln? Oder die unverwechselbaren Exemplare unserer Gattung mit all ihren Ecken und Kanten und wechselnden Launen? Wer möchte denn in einer homogenen Population von Engeln leben, auch wenn die sich genetisch herstellen lassen und vielleicht sogar anfangen, eine perfekte Gesellschaft aufzubauen, in der alles wie geschmiert läuft und niemand mehr etwas will – außer Halleluja singen?

Heute träumt keine denkende Elite mehr von einer idealen Gesellschaft, wie dies noch in den 1960er-Jahren Mode war. Dafür verfügen viele Menschen über Wahlmöglichkeiten, maßgeschneiderte Kinder in die Welt zu setzen. Ich befürchte allerdings, dass diesen Wesen letztlich jede Unverwechselbarkeit und damit die Seele verloren geht. Die Freiheit, die Gene auszuwählen und einzufügen, die man seinen Kindern vermachen möchte, entkommt nicht dem Widerspruch zwischen der naturalistischen Sichtweise der Menschen mit ihrem dazugehörigen Wohlergehen, wie sie Aristoteles in der Antike empfohlen und vertreten hat, und der idealistischen Betrachtung einzelner Menschen und der dazugehörenden Sittlichkeit, was Platon favorisiert hat. Wie gesagt – die Ansicht, es lasse sich grundsätzlich eine richtige und objektiv gültige Antwort auf die Frage, wie der Mensch sein soll, entdecken, ist selbst grundsätzlich falsch. Menschen können nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen leben, und weder er noch sie können vollkommen – und somit am Ende – sein. Den perfekten Menschen in einer perfekten Gesellschaft kann es einfach nicht geben. Erst wenn Gesellschaften aufhören, danach zu suchen und davon zu reden, sind sie so frei, wie sie sich heute wähnen, wenn sie mit Genvarianten entscheiden wollen, wie das vollkommene Baby aussehen soll.

Zu den Themen, die im Verlauf der 1970er-Jahre in die Diskussion gerieten, gehört auch der biologische Vorgang, den man Klonen nennt und mit dem man meint, genetisch identische Kopien von Organismen herstellen zu können. Natürlich denken die Wissenschaft und die Gesellschaft zunächst an das Klonieren von Nutztieren – etwa Schafen – mit gewünschten Eigenschaften, aber im Hintergrund lauert immer der Gedanke, wertvolle Menschen mit genetischer Hilfe in mehreren Exemplaren in die Welt zu setzen, wobei neben den immer wieder auftauchenden Gerüchten, dass irgendwo in unzugänglichen Gegenden und undurchdringlichen Dschungeln superreiche Familien geheime Laboratorien betrieben, in denen sie Menschenklone zum Erhalt ihrer Machstellung produzieren lassen wollten, von Anfang an auch über die moralischen Aspekte gesprochen wurde, ob man solche Anstrengungen nicht besser unterlassen sollte.

Meine Sicht dazu kann wie folgt knapp dargestellt werden: Wer nach der Moral fragt, sollte von ihrer Quelle ausgehen. Und sie steckt nach Aristoteles in der Fähigkeit, die besondere Individualität eines humanen Gegenübers und damit seine Seele wahrzunehmen. Sie wird relevant, wenn es um den zweiten Blick auf das Klonieren von Menschen geht, das auf den ersten Blick Vorteile zu bieten scheint. Man kann sich Fälle ausdenken, in denen solch ein Tun sinnvoll erscheint und weist etwa auf den kinderlosen Industriellen hin, der sein Unternehmen für alle Zeiten mit seinen jeweils frisch geklonten Händen und Hirnzellen leiten möchte. Man kann auch auf Regierungen verweisen, die Bedarf an kampfwilligen Soldaten haben. Warum – so fragt man sich – sollte nicht jemand, der mit genügend Geld ausgestattet wird, versuchen, den fehlenden Unternehmer oder die gewünschten Untermenschen zu klonen? Irgendwo wird man ihm schon ein Laboratorium hinstellen, wobei früher häufig über den brasilianischen Urwald und heute eher über das chinesische Hinterland spekuliert wird. Was kann denn beim Klonen von Menschen schieflaufen?

Ein Risiko besteht darin, dass die erwünschten Merkmale keineswegs von Genen abhängen, sondern vielmehr durch eine kontingente Umwelt nicht zuletzt mit epigenetischen Mechanismen bestimmt werden, denn dann scheiterte der Klon-Plan daran, dass man die Umwelt – zum Beispiel die Eltern und Großeltern des Fabrikanten – ebenfalls klonen müsste, sodass sich dieses Verfahren rasch im Nebel der Undurchführbarkeit verliert.

Ein zweites Risiko besteht darin, dass der klonierte Alt-Unternehmer überhaupt nicht für die neuen Aufgaben einer neuen Zeit geeignet ist. So konnte er zwar die Gründung einer Fabrik in seiner Heimatstadt betreiben und das Geschäft auch erfolgreich national ausweiten, aber daraus folgt nicht, dass er der Anpassung seines Werkes an den sich wandelnden Bedarf bei sich öffnenden globalen Märkten gewachsen ist. Und was die Soldaten angeht, so kommen sie immer zu spät, wenn man sie mit genetischen Mitteln anfertigen will und nicht durch propagandistische Gehirnwäsche wie die Nazis. Man braucht ja nicht Monate, sondern Jahrzehnte, um sie zu klonieren, und wer kann garantieren, dass die politische Situation – das Feindbild – so lange stabil bleibt? Man braucht sich nur vorzustellen, dass eine Großmacht 1975 – noch im ausklingenden Kalten Krieg – Millionen von Soldaten in Auftrag gegeben hätte, und sich dann die Frage vorzulegen, was sie nach dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung des Ostblocks mit all den nun überflüssigen Klonmenschen machen soll (Abb. 8.1).

Abb. 8.1
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Klone (© Zoonar/Daniel Ferreira-Leites Ciccarino/picture alliance)

Wichtiger ist aber etwas anderes, nämlich die Einsicht, dass eine mit Klonen von genetisch identischen Menschen bevölkerte Erde überhaupt nichts Verlockendes bietet. Es mag zwar auf den ersten Blick witzig erscheinen, wenn Immanuel Kant und Hannah Arendt, Clara Schumann und Wolfgang Amadeus Mozart, Albert Einstein und Marilyn Monroe plötzlich auf den Straßen herumspazierten – und zwar in größeren Mengen. Aber schon beim zweiten Blick muss man sich vorstellen, dass diese Wesen nicht mehr das machen könnten, was wir an ihnen so schätzen. Einstein findet nämlich seine Theorien ebenso vor wie Mozart seine Klavierkonzerte und Serenaden, und die Annahme, dass Mozart auch Zwölftonmusik liefern und Einstein seine Quantenmechanik endlich akzeptieren, ist mehr als fragwürdig. Wahrscheinlicher ist, dass beide ihre geklonte Existenz ohne kreative Komponente als nutzlos empfinden, und die psychischen Konsequenzen kann sich jeder Leser selbst ausmalen.

Wenn man einmal das andere Extrem annimmt und sich vorstellt, dass sowohl der klonierte Einstein alle Formen der modernen Wissenschaft und sein Klonkollege Mozart alle Techniken der neuen Musik beherrscht, dann bleibt geistigen Normalverbrauchern nur noch die Resignation, wenn man es milde ausdrücken will, oder Selbstmord. Ihn begangen hat die Monroe, die hier angeführt wird, weil bei allen Umfragen, wen man gerne kloniert sähe, ihr Name am häufigsten fällt. Dabei deutet alles darauf hin, dass sie in ihrem Leben zwar fröhlich ausgesehen hat, aber nicht glücklich gewesen ist. Ich bezweifle, dass die Monroe bereit gewesen wäre, einen rekonstruierten Lebensversuch vor aller Öffentlichkeit zu unternehmen. Sie wäre meiner Ansicht nach lieber tot als ein Opfer moderner Klatschspalten in der heutigen Boulevardpresse oder den entsprechenden Medien.

Etwas anderes ist in dem Zusammenhang wirklich wichtig. Die Vorstellung, klonierte Menschen in Tausenden von Exemplaren zu sehen, ist auf schlimmste Weise bedrückend. Menschen fasst Entsetzen beim Anblick einer Horde von gleich aussehenden Serienprodukten, und der Grund dafür liegt in dem, was man als Einzigartigkeit der menschlichen Seele bezeichnet hat. Menschen, denen wir dieses Merkmal nicht zuweisen können und die seelenlos auftreten, wirken für uns wie kalte Maschinen, mit denen man machen kann, was man will. Diese Entpersönlichung durch das Klonieren kann studieren, wer den Rassenhass oder die Fremdenfeindlichkeit ins Auge fasst oder sich fragt, warum es Menschen so leichtfällt, andere Menschen dann zu töten, wenn sie als Soldaten in einer Uniform erscheinen und nicht als Individuen zu erkennen sind. Jede gesichtslose Masse – ob als Fremdling oder Soldat – ist unbeseelt und kann als Kollektivfeind zur Bestie erklärt werden, ohne Anspruch auf die Wahrung von moralischen Grundsätzen. Mit anderen Worten, der geklonte Mensch wird gar nicht mehr als Mensch wahrgenommen, und wenn er uns als uniforme Masse begegnet, bringen wir ihn und seine Mitläufer wahrscheinlich rasch und ohne Gewissensqual um. Ich selbst hätte vermutlich die meiste Angst vor meinem Klon, weshalb ich vorschlage, auf seine Produktion zu verzichten.