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1 Soziallobbying als interessengeleitete Politikberatung: Rat gegen Einfluss

Lobbying funktioniert als Tausch. Politik und Sozialwirtschaft bzw. Soziale Arbeit haben einander etwas zu bieten und wollen etwas voneinander (vgl. Abb. 7.1).

Abb. 7.1
figure 1

Lobbying als Tauschgeschäft. (Eigene Darstellung)

Politik setzt die Rahmenbedingungen für sozialwirtschaftliches/sozialarbeiterisches Handeln auf dem Feld der Sozialarbeitspolitik (und der Gesundheitspolitik). Als Ergebnis politischer Prozesse definieren Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften das Aufgabenspektrum und die Unterstützungsmöglichkeiten sozialwirtschaftlicher Organisationen. Darüber hinaus bestimmt die Politik wesentlich über den Umfang der für die Maßnahmen und Programme zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel. Dies gilt sowohl für die Höhe und den Umfang der Geld- und Sachleistungen als auch für die zur Leistungserbringung notwendigen Personal- und Sachkosten. Schließlich gestaltet Politik die soziale Infrastruktur. Wer darf (gemäß Subsidiaritätsprinzip) unter welchen Bedingungen (Gemeinnützigkeit usw.) welche Leistungen anbieten? Wie ist die Zusammenarbeit von Leistungsträgern und Kostenträgern geregelt? Wer hat wo welche Mitsprache und Mitbestimmungsmöglichkeiten? Wie werden Versorgungslandschaften bzw. Netzwerke nach welchen Regeln gestaltet? Politik bestimmt umfassend die Handlungsbedingungen sozialwirtschaftlicher Organisationen. Diese haben folgerichtig ein starkes Interesse, auf Politik Einfluss zu nehmen.

Umgekehrt sind politische Entscheidungsträger in vielfacher Weise auf die Sozialwirtschaft, ihre Einrichtungen und Verbände angewiesen. Das beginnt damit, dass Soziale Dienste eigene Ressourcen für die Aufgabenerfüllung und Problembewältigung im Feld der Sozialarbeitspolitik zur Verfügung stellen. Gemeint ist vorhandenes Personal, Räumlichkeiten, Sachmittel und Vermögen. Gerade im Bereich der Sozialen Arbeit wird darüber hinaus über die Sozialen Dienste eine beachtliche Zahl freiwillig Engagierter in die Unterstützungs- und Hilfeprozesse integriert. Vor allem aber verfügt die Soziale Arbeit über das Knowhow, wie Hilfe professionell und wirksam zu leisten und zu organisieren ist. Sie verfügt durch ihre Arbeit mit den Adressat*innen im Feld über einen privilegierten Zugang zu deren Lebenswelten und Lebensumständen. Soziale Arbeit kann der Politik damit als Frühwarnsystem für neue bzw. sich verändernde Problemlagen dienen und besitzt zugleich die methodische und organisatorische Expertise für mögliche Problembewältigungsstrategien und Lösungsalternativen. Darüber hinaus verfügen gerade die Wohlfahrtsverbände über ein (von der Politik zu nutzendes) Legitimationspotenzial. Ihre zivilgesellschaftliche Verankerung und tradierte weltanschauliche, religiöse und humanistische Wertvorstellungen machen sie glaubwürdig und bedingen einen Vertrauensvorschuss. Allerdings ist hier darauf zu verweisen, dass die Selbstverständlichkeit, mit der die Wohlfahrtsverbände als ausschließlich altruistisch und gemeinwohlorientiert wahrgenommen werden, vor dem Hintergrund nachlassender Milieubindung rückläufig ist. Wertewandel, Individualisierung und Ökonomisierung erodieren den Nimbus der Wohlfahrtsverbände als Gralshüter einer solidarischen Gesellschaft und eines sorgenden Sozialstaats. Demgegenüber gewinnt ihr Ruf als professionelle Anbieter Sozialer Dienstleistungen an Bedeutung.

Neben der (materiellen) Fähigkeit, Maßnahmen und Programme umzusetzen, erwartet die Politik also vor allem praxisgesättigte, wissensbasierte Expertise zum Verständnis sozialer Problemlagen und mögliche Lösungsansätze von der Sozialen Arbeit. Soziallobbying vollzieht sich deshalb in erster Linie im Modus der Politikberatung. Allerdings handelt es sich hier zumeist nicht um nachgefragte, wissenschaftliche Politikberatung, sondern um interesseninduzierte und interessengeleitete Politikberatung

Politikberatung (Policy Advice) (zu weiteren Formen der Politikberatung vgl. Kasten 5) dient der Information, Aufklärung oder Irritation der Politik (ihrer Akteure wie Institutionen) durch andere gesellschaftliche Akteure (Wissenschaft, Interessenverbände usw.) mit Blick auf gesellschaftliche Veränderungen und Problemlagen, dem daraus resultierenden politischen Regelungsbedarf, angemessenen Lösungsansätzen und deren möglichen Wirkungen wie Nebenwirkungen. Politische Akteure und Institutionen sollen mit wissenschaftsgestützten und/oder praxisrelevanten Informationen und Erkenntnissen versorgt werden, über die das politische System nicht oder nur unzureichend verfügt. Politikberatung wird von politischen Entscheidungsträger*innen und Institutionen ebenso aktiv eingefordert bzw. beauftragt, wie sie eigeninitiativ aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Sektoren (der Wissenschaft, der Wirtschaft, dem dritten Sektor usw.) an die Politik herangetragen wird.

Kasten 5: Formen der Politikberatung

  • Policy Advice meint die inhaltliche Politikberatung zu Ausmaß und Entstehung von Problemlagen sowie möglichen Politikalternativen.

  • Political Consulting zielt auf Fragen der Macht und des Machterhalts. Wie lassen sich bestimmte Positionen durchsetzen, Ämter besetzen, Wahlen gewinnen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen?

  • Public Management Consulting ist Beratung mit Blick auf Organisationsgestaltung und Reformen zur Umsetzung von Politik. Es geht um die Beratung bei der Einführung neuer Steuerungsmodelle. PMC soll dazu beitragen, Politik effizienter und effektiver zu machen.

Ist Politikberatung Teil der Lobbystrategie einer Interessenorganisation, so sprechen wir von interessengeleiteter Politikberatung. Interessengeleitete Politikberatung ist aber nicht trennscharf von wissenschaftlicher Politikberatung abzugrenzen. Denn einerseits ist auch Wissenschaft (Wissenschaftler*innen und ihre Institutionen) nicht interesselos. Bestenfalls kann unterstellt werden, dass hier das Interesse an guter wissenschaftlicher Praxis im Vordergrund steht. Andererseits funktioniert lobbyierende Politikberatung nicht unwissenschaftlich. Auch interessengeleitete Politikberatung muss sich an professionellen, wissenschaftlichen Standards orientieren.

Unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen versuchen, die Politik in juristischen, technischen, ökonomischen, sozialen oder kulturellen Fragen mit aus ihrer Sicht notwendigem, handlungsrelevantem Wissen und Erkenntnissen zu versorgen. Die Automobilindustrie tut es ebenso wie die Pharmaindustrie, Umweltverbände tun es ebenso wie Wohlfahrtsverbände. Die Politik will und braucht diese Expertisen für sachgerechte Entscheidungen, ist sich aber (in der Regel) bewusst, dass die dargebotenen Problemanalysen und Empfehlungen (eben auch oder insbesondere) den Standpunkt der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe bzw. Organisation widerspiegeln.

Dies führt zu einem Paradoxon des Beratungslobbyismus. Lobbying dient der legitimen und notwendigen Interessenvertretung unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen in modernen pluralen Gesellschaften. Gleichzeitig funktioniert in modernen Wissensgesellschaften Lobbying wesentlich über wissenschaftsorientierte Politikberatung. Die Lobbyist*in muss ihre Problemanalysen und Empfehlungen als fachlich wie wissenschaftlich begründete Expertise verkaufen. Politikberatung wird hier (im eigenen Interesse) instrumentalisiert, muss sich aber gleichzeitig der kommunikativen, auf Verständigung, Transparenz und Wahrheit zielenden Vernunft wissenschaftlicher Wissensproduktion aussetzen.

Für die Verbände und Organisationen der Sozialen Arbeit ist ein professionelles Handling der paradoxen Situation des Beratungslobbyismus entscheidend. Denn die Organisationen Sozialer Arbeit (hier insbesondere die Wohlfahrtsverbände) stellen mit Blick auf Arbeitsplätze und Umsätze zwar durchaus einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar, sind für die Politik aber immer zugleich ein Kostenfaktor. Wachstum kann hier nur über Steuern und Abgaben (Umverteilung) finanziert werden. Wohlfahrtsverbände sind im Gegensatz zu Wirtschaftsverbänden kaum in der Lage, ökonomischen Druck zur Durchsetzung von Interessen aufzubauen. Ebenso eingeschränkt sind ihre Möglichkeiten, politischen Druck aufzubauen. Ihre Adressat*innen stellen keine relevante Wählergruppe dar. Ihre Interessen sind schwache Interessen (Toens und Benz 2019). Die Konfliktfähigkeit, also „die Verfügungsmacht über materielle Ressourcen, Gewalt-, Drohungs- und Anreizpotentiale“ (Nullmeier 2000, S. 93), der Organisationen Sozialer Arbeit ist insofern wenig ausgeprägt. Anliegen der Verbände Sozialer Arbeit muss es deshalb sein, „Argumentationsmacht und Rechtfertigungsfähigkeit“ zur Interessendurchsetzung aufzubauen. Argumentationsfähigkeit meint „die Kompetenz eines kollektiven Akteurs, … in Schrift und Rede gute Gründe beibringen zu können … Rechtfertigungsfähigkeit ist demgegenüber etwas Spezielleres. Sie bezieht sich auf Argumentationen in normativen Kontexten. Rechtfertigungsfähigkeit ist die Kompetenz, gute Gründe für die Legitimität des vertretenen Interesses anführen zu können“ (ebd.). Soziallobbyismus hängt insofern wesentlich von der Fähigkeit zur professionellen, ethisch fundierten, wissensbasierten Politikberatung ab.

Kasten 6: Idealtypen von Politikberatung

Traditionell unterscheidet die Politikwissenschaft mit Jürgen Habermas (1969) und Klaus Lompe (1966/1972) drei Idealtypen im Verhältnis von Politik und externen Berater*innen (Wissenschaft, Praxis): das technokratische (1), das dezisionistische (2) und das pragmatische Modell (3). Alle drei Modelle gehen von der grundlegenden Annahme eines Vermittlungs- bzw. Übersetzungsproblems zwischen „den ‚zwei Welten‘ der Handlungssysteme“ (Lompe 2006, S. 26) Politik und Wissenschaft aus. Die Funktionssysteme Politik und Wissenschaft funktionieren nach je eigenen Logiken, was zu Kommunikationsproblemen und gegenseitigem Missverstehen führt. Funktion, zeitlicher Horizont und Sprache der beiden Sektoren unterscheiden sich grundsätzlich. Während das Wissenschaftssystem (entscheidungsentlastet) der Wahrheitssuche verpflichtet und auf Erkenntnisgewinn gerichtet ist, prägen die Politik Macht, Interessenkonflikte und Entscheidungsnotwendigkeiten.

  1. (1)

    Im technokratischen Modell wird dieses Vermittlungsproblem zugunsten eines Vorrangs des wissenschaftlichen bzw. fachlichen Sachverstands aufgelöst. Die Politik hat sich bei diesem Entscheidungsmodell an den Vorgaben der externen (wissenschaftlichen) Berater*innen zu orientieren. Unterstellt wird eine durch Wissenschaft erkennbare Sachgesetzlichkeit, der die Politik vernünftigerweise folgen sollte.

  2. (2)

    Dagegen geht das dezisionistische Modell vom Primat der Politik aus. Die Wissenschaft gilt in diesem Modell als Lieferant wertfreier Erkenntnis. In der Politik dagegen geht es um Interessenausgleich und legitime Machtausübung. Ihr allein steht deshalb das Recht der Wertung zu. Dies gilt unabhängig davon, ob die Beratungsleistung als rationale Informationsquelle genützt und zur Verbesserung des Politikergebnisses eingesetzt oder ob Politikberatung überwiegend instrumentalisiert wird.

  3. (3)

    Das pragmatische Modell begreift Politikberatung als kommunikativen Prozess, in dessen Verlauf Politik, Wissenschaft und Praxis einen wechselseitigen Lernprozess durchlaufen. Während die Politik Einblick in Umfang wie Begrenztheit wissenschaftlicher wie fachlicher Erkenntnisse erhält, müssen Wissenschaftler*innen wie Praktiker*innen in der Logik der Politik das Vorhandensein vielfältiger divergierender Interessen, die grundsätzliche Wertgebundenheit politischer Entscheidungen und die damit verbundenen Problematiken der Durchsetzbarkeit von Politiken erkennen.

Professionelle, wissens(chafts)basierte Politikberatung folgt dem pragmatischen Modell (siehe Kasten 6). Politikberatung wird hier als wechselseitiger Lernprozess zwischen politischen Entscheidungsträger*innen und Politikberater*innen verstanden. Zwar sind die Gegenmodelle einer dezisionistischen bzw. technokratischen Politikberatung nach wie vor virulent. Sie scheinen auf, wo Politik wissenschaftliche Politikberatung in Auftrag gibt, um Zeit zu gewinnen und Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben oder dazu benutzt, bereits getroffenen Entscheidungen eine zusätzliche wissenschaftliche Legitimation zu verschaffen. Umgekehrt wird ein technokratisches Verständnis regelmäßig sichtbar, wenn Wissenschaftlicher*innen wie Politiker*innen die alternativlose Sachlogik betonen. Dezisionistisches und technokratisches Modell scheinen angesichts der Komplexität gegenwärtiger Verhältnisse wie der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften aber nicht angemessen. Weder hat die Politik in demokratischen Gesellschaften die Souveränität, um wissenschaftlichen und fachlichen Sachverstand gänzlich zu instrumentalisieren bzw. zu unterdrücken, noch kann irgendeine Wissenschaft für sich in Anspruch nehmen, unbezweifelbare, letzte Gewissheiten bieten zu können, die dann von der Politik nur umgesetzt werden müssten. „Die Auffassung, daß die Wissenschaft Wissen produzieren könnte, das im politischen System nur anzuwenden wäre, ja angewendet werden muß, wenn man rational handeln will, wird kaum noch vertreten“ (Luhmann 2002, S. 393). Politikberatung wird vielmehr als gegenseitige Beeinflussung oder „wechselseitige Irritation“ (ebd., S. 394) verstanden.

Politik erwartet von Politikberatung heute deshalb zunehmend, dass neben der fachwissenschaftlichen Expertise auch Fragen der Durch- und Umsetzbarkeit von Politiken berücksichtigt werden. Sie muss über die Fachkompetenz hinaus über fundierte Kenntnisse zu politischen Prozessen verfügen und sollte Reaktionen der Öffentlichkeit angemessen berücksichtigen (Public Affairs Management). Professionelle wissensbasierte Politikberatung muss vierfach robust sein:

  • Fachliche Robustheit meint die wissenschaftliche, fachliche Güte der durch die Politikberatung angebotenen Daten, Informationen und Interpretationen. Es geht um methodisch abgesicherte Problemanalysen und wissenschaftlich begründete, fachlich durchdachte, wirtschaftlich gerechnete Lösungsvorschläge und Konzepte.

  • Kommunikative Robustheit meint die Klarheit und Prägnanz in der Darstellung und Vermittlung des politischen Rats (Policy Advice) unter Berücksichtigung der Handlungssituation möglicher Adressat*innen wie Mandatsträger*innen, Fachexpert*innen in den Verwaltungen oder Presse (zielgruppenspezifische Kommunikation).

  • Soziale Robustheit meint den partizipativen Prozess der Erkenntnisgewinnung. Wurden relevante Stakeholder bei der Problemanalyse und Lösungsentwicklung berücksichtigt (andere Expert*innen, Adressat*innen, andere Akteur*innen der Zivilgesellschaft, Betroffene, die Öffentlichkeit)?

  • Politische Robustheit schließlich „bezieht sich auf die Akzeptabilität und damit die politische Umsetzbarkeit der Empfehlungen“ (Weingart und Lentsch 2008, S. 50).

2 Wie lernt die Politik?

„Wie lernt die Politik?“ – ist eine entscheidende Fragestellung für Soziallobbying und interessengeleitete Politikberatung. Da das Lobbying der Sozialen Arbeit – wie gezeigt – nur sehr eingeschränkt in der Lage ist, ökonomischen und politischen Druck auszuüben, um ihre Interessen in politischen Machtprozessen durchzusetzen, muss es versuchen, mittels Politikberatung politische Lernprozesse in Gang zu setzen. Es muss deshalb interessieren, wodurch sich jenseits von Macht und Zwang politische Inhalte und Politikergebnisse verändern. Wie kann es gelingen, dass individuelle, kollektive (Gewerkschaften, Initiativen, Vereine, Verbände usw.) oder korporative politische Akteure (Ämter, Regierungen usw.) (Benz und Rieger 2015, S. 135 f.) neue gesellschaftliche Problemlagen und Herausforderungen zur Kenntnis nehmen und in ihren Ursachen und Zusammenhängen verstehen? Was fördert den Wissenszuwachs in der Politik, um im Sinne von „Verbesserungslernen“, die vorgegebenen Ziele besser zu erreichen, und wann kommt es zu grundlegenden Reformen mit veränderter Problemwahrnehmung und einer Neuausrichtung von Politikzielen, die einen grundlegenden Wandel der Einstellungen, Überzeugungen, Präferenzen und Wahrnehmungen zumindest eines Teils der Akteur*innen voraussetzen („Veränderungslernen“) (Bandelow 2009, S. 317 ff., 340)?

Antworten hierauf verspricht die „Policy-Forschung“. In ihrem Bemühen, politischen Wandel zu verstehen, hat sie unterschiedliche Modelle entwickelt, die es ermöglichen, „Policy-Lernen“ (Bandelow 2009, S. 314) bzw. „Politik als Lernprozess“ (Maier et al. 2003) besser zu verstehen und dabei Chancen für (interessengeleitete) Politikberatung und Lobbying zu identifizieren. Darüber hinaus gibt es seit den 1990er-Jahren einen intensiven Diskurs zum „Evidence-based Policy Making“ (Rieger 2022a) und der Frage, wie es gelingen kann, Politik besser an wissenschaftlich begründetem Wissen zu orientieren.

2.1 Der Policy Cycle

Der Policy Cycle ist „das wohl am häufigsten angewandte und einflussreichste Modell der Politikfeldanalyse“ (Blum und Schubert 2009, S. 101). Das Modell versteht Politik als rationalen Problemverarbeitungsprozess, welcher der Systematik rationaler Problemlösung entspricht Auf die Problemanalyse bzw. Diagnose folgt die Entwicklung, Planung und Umsetzung von Lösungsalternativen und schließlich die Beobachtung der erzielten Wirkungen (Evaluation). In politische Prozessen lassen sich dann folgende aufeinander aufbauende Phasen identifizieren: 1. Problemdefinition, 2. Agenda Setting, 3. Politikformulierung, 4. Politikimplementation und 5. Politikevaluation (vgl. Abb. 7.2).

Abb. 7.2
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Der Policy Cycle: Politik als problemlösendes rationales Handeln und der Beitrag des Lobbyings. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Blum und Schubert 2009, S. 102)

Die erste Phase des Politikzyklus wird als Problemdefinition bezeichnet. In dieser Phase wird das die Politik herausfordernde Problem analysiert und problematisiert. Die Phasenbezeichnung Problemdefinition trägt dabei der Tatsache Rechnung, dass politische Probleme nicht einfach vorgefunden werden, sondern dass sie Ergebnis sozialer Prozesse sind. Politische Probleme sind soziale Konstrukte. Gegebene soziale Verhältnisse müssen erst problematisiert und politisiert werden, damit sie von der Politik als Aufgabe der Politik verstanden werden. Es gilt herauszuarbeiten, worin das Problem eigentlich besteht, welches Ausmaß es hat, welche gesellschaftlich anerkannten Werte durch die Existenz des Problems verletzt bzw. gefährdet werden, wo die Ursachen für das Problem liegen und welche unterschiedlichen Problemsichten bestehen. Politische Probleme sind immer (auch) Wertprobleme, die Problemsicht ist immer (auch) interessengebunden. In der ersten Phase des Politikzyklus entscheidet sich, ob ein Problem überhaupt als von der Politik zu bearbeitendes Problem anerkannt wird, welche Problemsicht sich durchsetzt und welche Verursachungszusammenhänge angenommen werden. Damit wird auch deutlich, dass bereits in der Phase der Problemdefinition Vorentscheidungen hinsichtlich möglicher Lösungsalternativen (zu ergreifender politischer Maßnahmen) fallen.

In Phase zwei findet Agenda Setting statt. Nun geht es darum, dass ein politisches Problem für die politischen Entscheidungsträger*innen handlungsrelevant wird. Ein Problem muss als lösungsbedürftig auf die Tagesordnung gesetzt werden. Blum und Schubert (2009, S. 112) erkennen vier Faktoren, die wesentlich darauf Einfluss haben, ob ein Thema den Sprung auf die politische Tagesordnung schafft:

  • Wer das Thema einbringt. Über welche Ressourcen verfügt eine Akteur*in und welche Stellung nimmt sie innerhalb der Policy ein?

  • Welche Resonanz (positiv oder negativ) ein Thema in der Öffentlichkeit findet.

  • Welche günstigen oder ungünstigen Macht- und Problemkonstellationen die politische Situation prägen.

  • Welche Eigenschaften das Thema selbst prägen („Eindeutigkeit vs. Mehrdeutigkeit“, „starke vs. marginale gesellschaftliche Betroffenheit“, „Dringlichkeit vs. Verschiebbarkeit“, „Einfachheit vs. Komplexität“, „Routineangelegenheit vs. Novum“, „große vs. geringe symbolische Bedeutung“ (ebd.).

Dabei gilt es zu beachten, dass Probleme in der Politik insbesondere dann eine Chance haben, zur Bearbeitung aufgegriffen zu werden, wenn sich auch schon eine Lösungsalternative abzeichnet. Im Agenda Setting kommt es deshalb nicht nur darauf an, Aufmerksamkeit für ein Problem zu schaffen, sondern auch entsprechende Lösungsalternativen zu präsentieren und zu diskutieren.

In der Phase der Politikformulierung ist es an den Verwaltungen (Ministerien, Ämter) und Entscheidungskörperschaften (Parlamente, Räte und ihre Ausschüsse), mögliche Handlungsvorschläge (Maßnahmen) auszuarbeiten, zu diskutieren und zu entscheiden. Die Phase der Politikformulierung verläuft insbesondere für Gesetzgebungsverfahren in stark normierten Schritten von der Erarbeitung von Kabinettsvorlagen auf der Arbeitsebene der Ministerien über Lesungen, Ausschussarbeit und Verabschiedung im Parlament (Bundestag und Bundesrat) bis hin zu ihrer Veröffentlichung (vgl. Abschn. 4.2.). Interesssengeleitete Politikberatung kann hier kaum noch mit eigenen, innovativen Konzepten punkten. Das muss vielmehr in der Phase des Agenda Settings passieren. Jetzt geht es eher um Detailkritik mit Blick auf die Umsetzbarkeit und Wirksamkeit einer Maßnahme.

Schließlich macht das Modell des Policy Cycle darauf aufmerksam, dass mit der Verabschiedung eines Gesetzes bzw. Programms der politische Prozess nicht beendet ist. Gerade im Bereich Sozialer Arbeit wird häufig mit unbestimmten Rechtsbegriffen gearbeitet und sind notwendig große Ermessensspielräume vorgesehen. In der Phase der Politikimplementation eröffnen sich damit weite Interpretations- und Gestaltungsspielräume für die öffentlichen und freien Träger der Sozialen Arbeit, die diese entlang ihrer je eigenen Interessen, Bedarfe und fachlichen Notwendigkeiten auslegen und nutzen. Politikumsetzung ist deshalb keineswegs als schematische, reiner Verwaltungslogik folgende Angelegenheit zu begreifen, sondern weiterhin Teil des politischen Prozesses, in dem über Erfolg oder Misserfolg der beschlossenen Maßnahmen entschieden wird.

Zuletzt soll Politikevaluation feststellen und bewerten, wie gewählte Instrumente und Maßnahmen wirken (ebd., S. 126). Politik wird bewertet von der Opposition wie von Medien und Öffentlichkeit. In den letzten Jahrzehnten werden aber zunehmend auch wissenschaftliche Evaluationen zu Output und Outcome von Politiken durchgeführt. Bei einer zunehmenden Zahl von Maßnahmen und Projekten wird bereits in der Politikformulierung auf eine wissenschaftliche Begleitforschung Wert gelegt. Politikevaluationen zeigen dann gegebenenfalls Defizite wie Verbesserungsmöglichkeiten auf und führen so zu veränderten Problemsichten und Problematiken. Der politische Kreislauf beginnt von vorne!

Der Policy Cycle ist ein ebenso viel genutztes wie viel kritisiertes Modell. Die einzelnen Phasen seien nicht trennscharf voneinander abzugrenzen und sie würden nicht systematisch aufeinander folgen. Politische Prozesse brechen ab oder werden auf vorherige Phasen zurückgeworfen. Vor allem aber böte der Policy Cycle keine Erklärungen, sondern habe bestenfalls beschreibenden Charakter. Für Lobbyist*innen und Politikberater*innen bietet der Policy Cycle dennoch wichtige Orientierung. Er zeigt auf, welch unterschiedliche Ziele Lobbying in komplexen politischen Prozessen verfolgen und welche Beiträge es leisten kann, weil er darauf aufmerksam macht, welch unterschiedliche Funktionen in einem politischen Prozess zur Lösung spezifischer politischer Probleme zu erfüllen sind. Geht es mehr um die Vermittlung einer differenzierten, fachlich begründeten Problemwahrnehmung, mit der dann regelmäßig auch schon bestimmte Lösungsalternativen verbunden werden? Geht es unter Einbeziehung von Öffentlichkeitsarbeit um die Vermittlung der Dringlichkeit von politischen Maßnahmen? Oder geht es um die Kommunikation fachlich begründeter, wirtschaftlich gerechneter Lösungsalternativen, in denen mögliche Implementationsprobleme gleich mitgedacht werden? Oder besteht der Beitrag des Soziallobbyings gerade mehr in der Evaluation und Rückmeldung zu geplanten oder laufenden Politikprogrammen? Deutlich wird, dass die Expertise der Sozialen Arbeit zur Problemanalyse, zur Entwicklung von Konzepten und Programmen, zur Politikimplementation und zur Evaluation für eine sachgerechte, problemlösungsorientierte Bearbeitung politischer Probleme in unterschiedlichen Phasen des politischen Prozesses notwendig und gefragt ist.

2.2 Der Multiple-Streams-Ansatz

Der Policy Cycle betont die rationale Seite des Politikmachens. Politik wird hier wesentlich als rationales Problemlösen verstanden. Demgegenüber betont der Multiple-Streams-Ansatz (MSA) die machtorientierte, unsichere Seite politischer Entscheidungsprozesse. Dieses Modell fokussiert die Ambiguität und Kontingenz politischer Prozesse. Politikgestaltung verläuft weder geradlinig noch ist sie vollständig plan- oder berechenbar. Vielmehr kommt es auf den gegebenen Problemhaushalt ebenso wie auf vorhandene bzw. nicht vorhandene Lösungsalternativen und sich wandelnde Machtkonstellationen an. Dabei sind Problemhaushalt wie politische Inhalte (mögliche Maßnahmen und Programme) und Machtkonstellationen fluide. Kingdons Ansatz versucht dies mit der Metapher der Multiple Streams zu fassen. Er identifiziert aufgrund seiner empirischen Forschung drei Prozesse (Ströme), die weitgehend unabhängig voneinander Einfluss auf das politische Geschehen nehmen: a) den Problemstrom (Problem Stream), b) den Politics-Strom (Politics Stream) und c) den Policy-Strom (Policy Stream).

  1. (a)

    „Der Problemstrom enthält all die Probleme, die simultan im politischen System gehandelt werden und um Anerkennung konkurrieren“ (Rüb 2009, S. 353). Hier geht es um Sachverhalte, „die als Probleme wahrgenommen werden, veränderlich sind und politisch geändert werden sollen“ (Herweg 2015, S. 328).

  2. (b)

    Der Policy-Strom repräsentiert die Ideen, Konzepte und Optionen, wie sie von unterschiedlichen Akteuren (Politiker*innen, Fachkräfte, Interessenvertreter*innen, Wissenschaftler*innen usw.) erarbeitet und diskutiert werden. Hier werden politische Handlungsalternativen entwickelt, die dann bereitstehen, um politische Probleme zu lösen.

  3. (c)

    Schließlich umfasst der Politics-Strom politische Stimmungen, die sich wandelnde öffentliche Meinung, Machtkonstellationen, Positionen und Interessen politischer Entscheidungsträger*innen in Parlamenten, Räten, Regierungen und Administrationen sowie das Engagement und die Machtressourcen von Interessengruppen. Der Politics-Strom beschreibt den konflikthaften Prozess, in dem die Durchsetzung von Interessen, Koalitions- wie Kompromissbildung und Machterhalt im Vordergrund stehen.

Zentral für dieses Modell ist dabei die Annahme, dass die drei Ströme sich zwar wechselseitig beeinflussen, aber weder einer einheitlichen Logik folgen noch synchron verlaufen. Konkret heißt das, dass beispielsweise Problemlösungen nicht unmittelbar für bestimmte Probleme entwickelt werden, sondern schon lange vorliegen können oder in anderen Zusammenhängen entwickelt wurden. „Alle drei Ströme fließen relativ unabhängig voneinander, weil jeder seine eigenen Antriebskräfte und seine eigene Dynamik hat. Zwar gibt es gegenseitige Beeinflussungen, aber zentral für die Theorie ist die Prämisse, dass es zunächst keinen systematischen Zusammenhang gibt“ (Rüb 2009, S. 357). Damit erscheint Politik als eine ziemlich unkalkulierbare bis willkürliche Angelegenheit – was sie sicher auch ist. Erklärungsbedürftig bleibt nun die rationale, systematisch problemlösende Seite von Politik. Wie kann das Modell erklären, dass es überhaupt zu Reformen kommt, die über das übliche Durchwursteln (Muddling Through) hinausgehen, und welche Rolle können dabei systematische Interventionen von Lobbyist*innen spielen (vgl. Abb. 7.3)?

Abb. 7.3
figure 3

Der Multiple-Streams-Ansatz: Mögliche Beiträge von Lobbying und Politikberatung zur Initiierung politischen Wandels. (Eigene Darstellung nach Rüb 2009, S. 366)

Das Modell nennt drei Faktoren, die ausschlaggebend für einen Politikwandel sind: a) die „Reife der drei Ströme“, b) die Existenz eines Gelegenheitsfensters (Window of Opportunity bzw. Policy Window) und c) die „Aktivitäten eines Policy-Entrepreneurs“ (Herweg 2015, S. 331):

  1. (a)

    „Der Problem-Strom gilt als reif, wenn sich eine Problemdefinition durchgesetzt hat … . Der Politics-Strom hingegen gilt als reif, wenn das politische Klima einen Agenda-Wandel trägt. … Der Policy-Strom schließlich ist reif, sobald mindestens eine durch die Policy Community ausgearbeitete und akzeptierte Lösung in Form einer Policy-Alternative vorliegt“ (ebd., S. 332).

  2. (b)

    Die Reife der Ströme vorausgesetzt, kann sich ein probleminduziertes oder Politics-induziertes Gelegenheitsfenster öffnen. Die Bedeutung, Dringlichkeit oder Symbolkraft eines Problems kann dazu führen, dass sich ein Gelegenheitsfenster für politische Reformen öffnet. Aber auch neue Machtkonstellationen im Bereich der Politics können Gelegenheiten für Politikwandel schaffen, weil nun Problemen Aufmerksamkeit geschenkt wird, die bisher vernachlässigt oder weniger beachtet wurden. Wenn dadurch Problemstrom und Politics-Strom miteinander verbunden (gekoppelt) sind, schafft das eine günstige Situation (Window of Opportunity), um Politikwandel zu befördern. Gelegenheitsfenster müssen von politischen Akteuren dann aber auch genutzt werden. Die Metapher des sich öffnenden Gelegenheitsfensters macht eben auch darauf aufmerksam, dass die günstige Situation sich schnell verändern, sich das Policy Window wieder schließen kann. Die Untersuchungen von Kingdon, Zahariadis et al. im Umfeld des Multiple-Streams-Ansatzes weisen in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung sogenannter Policy-Entrepreneurs hin.

  3. (c)

    Policy-Entrepreneurs müssen versuchen, ihre Politikinhalte (Policies) zu platzieren, ihre Lösungsalternativen einzubringen, bevor sich das Policy Window wieder schließt. Policy-Entrepreneurs (politische Unternehmer*innen) sind „avocates who are willing to invest their resources – time, energy, reputation, money – to promote a position in return for anticipated future gain in the form of material, purposive, or solidary benefits“ (Kingdon 1984, S. 188). Politische Unternehmer*innen sind also Personen (unabhängig von ihrer Position), die sich für die Lösung eines spezifischen politischen Problems und die Entwicklung, Durchsetzung und Umsetzung von bestimmten Lösungsalternativen, Maßnahmen und Programmen engagieren. Dies können auch Lobbyist*innen sein.

Soziallobbyist*innen, die sich wesentlich interessengeleiteter Politikberatung zur Beförderung ihrer Interessen bedienen, können sowohl den Problemstrom wie auch den Policy-Strom beeinflussen. Sie können mit Blick auf den Problemhaushalt dazu beitragen die Problemwahrnehmung zu schärfen, um so an der Reifung des Problemstroms mitzuwirken, und versuchen, diese Probleme dann auf die politische Tagesordnung (Agenda) zu setzen, damit sich ein (probleminduziertes) Gelegenheitsfenster öffnet. Gleichzeitig werden sie im Policy-Strom versuchen, mit ihren Ideen (Lösungsalternativen, Maßnahmen, Projekte usw.) und ihrer Kritik zu überzeugen. Hier geht es darum, die eigene fachliche Position zu entwickeln, zu begründen und in Auseinandersetzung mit anderen Akteuren der Policy Community und der Fachöffentlichkeit die eigenen Politikvorstellungen weiterzuentwickeln und voranzubringen.

Im Problemstrom agiert die Soziallobbyist*in wesentlich als Wissensvermittler*in („Knowlege Broker“ (Knaggắrd (2013) in Herweg 2015, S. 330, Fn. 6). Sie trägt dazu bei, dass der Strom reif wird, indem sie, informiert durch Praxiserfahrungen und wissenschaftliche Untersuchungen, Erfahrungen und Daten zum Problemverständnis liefert. Hierzu ist es erforderlich , Indikatoren (Indicators) zu Ausmaß, Intensität und Ursachen von Problemlagen zur Verfügung zu stellen, die durch das Problem verursachte Normverletzung und Abweichung vom gewünschten Soll-Zustand zu vermitteln und Problemzusammenhänge herauszuarbeiten. Ziel ist es, die Problemwahrnehmung in einem Politikfeld im Sinne der eigenen Expertise zu verändern. Darüber hinaus kann es sinnvoll sein, mit Hilfe von Focusing Events die Aufmerksamkeit für Probleme weiter zu erhöhen. Focusing Events sind Ereignisse, wie Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern, verstörende Armutslagen, Vorfälle von Diskriminierung, eklatante Missstände in Einrichtungen usw. Soziallobbyist*innen können solche Vorfälle nutzen, um grundsätzliche Problemlagen ins Bewusstsein zu heben. Es ist, so zeigen die Forschungen im Umfeld des Multiple-Streams-Ansatzes aber auch hilfreich, auf bereits erzielte Fortschritte bei der Problemlösung hinzuweisen (Feedback), um die Aufmerksamkeit zu erhöhen. Denn bereits erzielte Erfolge laden dazu ein, die Problembearbeitung weiterzuführen.

Im Policy-Strom agiert die Soziallobbyist*in als Policy-Entwickler*in. Ziel muss es sein, eigene Konzepte zur Politikgestaltung einzubringen und sich mit Fachexpertise an der Weiterentwicklung und Verbesserung vorhandener Politikalternativen zu beteiligen. Denn politische Relevanz erlangen insbesondere jene Politikentwürfe, die (technisch, fachlich, organisatorisch) machbar erscheinen, sich als finanzierbar darstellen und (normativ) akzeptabel sind. Es kommt für die politikberatende Soziallobbyist*in mithin darauf an, fachlich möglichst gut begründete, durchgerechnete und empirisch wie normativ abgesicherte Politikkonzeptionen einzubringen oder in der Auseinandersetzung mit anderen Akteur*innen weiterzuentwickeln. Aus der Sicht des MSA ist es darüber hinaus sinnvoll, ja es erweist sich geradezu als notwendig, die eigenen Politikideen, Konzeptionen, Maßnahmenalternativen und Projekte auch dann weiter auszuarbeiten und zu verfolgen, wenn die Durchsetzungs- bzw. Umsetzungschancen gerade wenig vielversprechend erscheinen. Denn wenn sich unverhofft Gelegenheitsfenster öffnen, kommt es darauf an, mit eigenen begründeten wie durchdachten Lösungsalternativen präsent zu sein.

Im Rahmen der Forschungen zum MSA wurden auch Kompetenzen und Rahmenbedingungen identifiziert, die zum Erfolg von Policy-Entrepreneurs beitragen. Diese Erkenntnisse lassen sich auch auf Soziallobbyist*innen übertragen. Zu den wichtigen Rahmenbedingungen, um auf die Problemwahrnehmung Einfluss zu nehmen und Politikalternativen zu platzieren, gehören einerseits natürlich Ressourcen (Geld, Zeit, Personal, Expertise). Andererseits sind Zugänge (Access) von entscheidender Bedeutung. Die Soziallobbyist*in muss gut vernetzt sein, um von politischen Entscheidungsträger*innen gehört zu werden. Sie muss in Gremien und Expertenrunden präsent sein. Darüber hinaus sollte sie persönliche Kompetenzen (Kommunikationsfähigkeit, Verhandlungsgeschick, Beharrlichkeit) mitbringen (Herweg 2015, S. 333) und über ein entsprechendes taktisch-strategisches Repertoire (Framing, Salami Tactics, Symbols, Affect Priming) verfügen.

2.3 Das Advocacy Coalition Framework (ACF)

Das Advocacy Coalition Framework (ACF) betont die Lernfähigkeit von Politik. Es ist von „der Beobachtung geprägt, dass Wissen, auch wissenschaftliche Expertise, in politischen Prozessen einflussreich ist, die Interpretation von Informationen aber durch individuell verschiedene Vorannahmen von Akteuren geprägt ist“ (Bandelow 2015, S. 320). Mit Hilfe dieses Modells gelingt es, lernfördernde Bedingungen für Policy-Lernen herauszuarbeiten, die Soziallobbyist*innen wichtige Orientierung geben können, wo und wie in Politikprozessen erfolgversprechend Einfluss genommen werden kann.

Das von Paul A. Sabatier entwickelte Modell (bzw. sein Analyserahmen (Framework)) beschäftigt sich mit Policy-Lernen. Das heißt, er fragt danach, wie und wann es in der Politik zu inhaltlichen Reformen kommt. Wann und warum sich in einem Politikbereich die eingesetzten Instrumente und/oder verfolgten Ziele verändern. Solche politischen Entscheidungen werden dem Ansatz zufolge in politischen Subsystemen (Policy Subsystems) getroffen. „Sabatier versteht unter Subsystemen ein Netzwerk von spezialisierten Akteuren, die mit einem Policy-Problem befasst sind: ´Let us define a policy subsystem as a set of actors who are involved in dealing with a policy problem (Sabatier 1993)´“ (Bandelow 2015, S. 307).

Zu einem Policy-Subsystem (Drogenhilfepolitik, Inklusionspolitik, Jugendhilfepolitik, Sozialhilfepolitik usw.) gehören nicht nur die politischen Entscheidungsträger*innen, sondern auch Verwaltungsfachleute, wissenschaftliche Expert*innen, Lobbyist*innen, Journalist*innen und weitere von den verhandelten Politikproblemen Betroffene und an ihrer Lösung Interessierte. Die involvierten Akteure schließen sich zur Durchsetzung ihrer Politikvorstellungen zu Advocacy Coalitions (Interessenkoalitionen) zusammen. Solche Netzwerke entstehen zwischen Akteuren mit ähnlichen Wertvorstellungen, Problemwahrnehmungen und Kausalannahmen.

Ob sich in einem Policy-Subsystem eine einzige Interessenkoalition, zwei gegensätzliche oder mehrere unterschiedliche Advocacy Coalitions bilden, ist eine empirische Frage, die netzwerkanalytisch zu beantworten ist. Ein gelungenes Anwendungsbeispiel des ACF auf den Problemfeldern Sozialer Arbeit stellt die Studie „Politikfeldanalyse Sucht: Advocacy-Koalitionen in der Schweizer Alkohol-, Tabak- und Drogenpolitik“ von Wenger et al. (2014) dar. Abb. 7.4 zeigt das Akteursnetzwerk im Policy-Subsystem Drogenpolitik (der Schweiz) und weist die Schadenminimierungs-Koalition als dominierende Koalition aus, der nur ein Akteur mit gefestigter Position Abstinenzorientierung gegenübersteht. Die Abbildung zeigt aber auch eine Reihe von Akteuren, die nicht eindeutig einer Koalition zuzuordnen sind. Solche Akteure können im Modell von Sabatier auch die Rolle von „Policy-Brokern“ (Vermittlern zwischen den Lagern) einnehmen.

Abb. 7.4
figure 4

Policy-Subsystem Drogenpolitik (Schweiz). (Wenger et al. 2014, S. 39)

Selbstverständlich werden die politischen Prozesse in einem spezifischen Subsystem nicht allein von den Akteuren bestimmt. Deren Handlungsspielräume und Handlungsrestriktionen werden auch von externen Faktoren beeinflusst. Das Modell (vgl. Abb. 7.5) unterscheidet hier relativ stabile und kurzfristig veränderliche Kontextfaktoren. Zu den relativ stabilen Faktoren zählen die institutionellen Regelungen des Politikfeldes und des politischen Systems (Polity) insgesamt. Welche politischen Ebenen mit welchen Akteuren bzw. Institutionen haben Entscheidungskompetenz? Welche Verfahren bestimmen politische Entscheidungsprozesse? Als kurzfristig veränderliche Kontextfaktoren gelten die sozioökonomische Situation, das politische Meinungsklima, Machtverhältnisse und die Auswirkungen von Reformen in anderen Subsystemen (Bandelow 2015, S. 312 f.).

Abb. 7.5
figure 5

Lernfördernde Bedingungen nach dem Advocacy Coalition Framework (ACF). (Eigene Darstellung nach Bandelow 2015, S. 313)

Externe Ereignisse insbesondere im Bereich der kurzfristig veränderlichen Kontextfaktoren sind dann auch die wesentlichen Auslöser für Policy-Lernen (externe Schocks). Durch wirtschaftliche Krisen erzwungene Sparpolitik, Wandel des Meinungsklimas oder aufgrund von Wahlen veränderte Machtverhältnisse erfordern Anpassungsleistungen im Policy-Subsystem. Policy-Lernen kann aber auch von internen Ereignissen angestoßen werden. Möglicherweise steigt der (in wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesene) Problemdruck oder es zeigt sich (beispielsweise in Evaluationsstudien), dass die eingesetzten Instrumente ineffizient sind oder mehr unbeabsichtigte Nebenwirkungen als Nutzen haben. Das Versagen existierender Politikprogramme führt zu internen Erschütterungen (interne Schocks). Solche externen wie internen Ereignisse können dann einen über Lernprozesse erfolgenden Politikwandel herbeiführen.

Sabatiers Analyserahmen lenkt die Aufmerksamkeit insbesondere auf das individuelle Lernen der Akteur*innen. Lernen wird dabei nicht normativ im Sinne von Verbesserung verstanden. „Policy-orientiertes Lernen“ wird von Sabatier definiert „als relativ stabile Veränderung des Denkens oder von Verhaltensmustern (…), die aus Erfahrungen resultieren und die sich mit der Realisierung oder der Veränderung von Policy-Zielen befassen“ (Sabatier 1993, S. 121–122; zitiert nach Bandelow 2009, S. 331). In der Interaktion mit anderen Akteur*innen des Subsystems wird angesichts einer veränderten Situation versucht, die Problemwahrnehmung anzupassen oder Probleme neu zu definieren, vorhandene Instrumentarien weiterzuentwickeln oder neue Intervention zu implementieren. Schließlich können auch Aufgaben und Ziele einer Policy neu ausgerichtet werden.

Das Policy-Lernen individueller Akteur*innen erfolgt allerdings stets vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen „Überzeugungssysteme“ (Belief Systems) (Bandelow 2015, S. 308 ff.). Ereignisse und neue Informationen werden im Rahmen des je eigenen Belief Systems verarbeitet. Dabei sind die von den Akteur*innen gehaltenen Überzeugungen mehr oder weniger offen für Veränderungen. Sabatier unterscheidet drei Ebenen von politischen Überzeugungen (vgl. Abb. 7.6).

Abb. 7.6
figure 6

Belief Systems politischer Überzeugungen. (Eigene Darstellung nach Bandelow 2015, S. 309)

Den innersten Kern des jeweiligen Belief Systems bilden die sogenannten „allgemeinen Kernüberzeugungen“ (ebd., S. 308). Hier geht es um die normative und politische Grundpositionierung einer Person. Diese allgemeinen politischen Einstellungen und Überzeugungen werden in frühen Phasen der politischen Sozialisation erworben und sind kaum veränderbar. Darüber liegen auf der zweiten Ebene die sogenannten „policy-bezogene(n) Kernüberzeugungen“. Gemeint sind hier Grundüberzeugungen, die im Laufe des Engagements und in Auseinandersetzung mit einem bestimmten Politikthema entstanden sind. Sie sind, weil später und bereits in bewussten Lernprozessen angeeignet, einem Umdenken und Umlernen leichter zugänglich, aber dennoch stabiler als die dritte Ebene der „sekundären Aspekte“. „Bei den sekundären Aspekten handelt es sich um spezifische Überzeugungen und Einstellungen etwa in Bezug auf die Wahl von Instrumenten zur Verwirklichung von Kernüberzeugungen“ (ebd., S. 309). Daraus lässt sich mit Blick auf politischen Wandel in Policy-Subsystemen die Vermutung formulieren, dass in Rahmen von Krisen zunächst immer versucht wird, die Politikinstrumente anzupassen bzw. zu verbessern und es sehr viel mehr an Überzeugungsarbeit und politischem Druck bedarf, bis es zu grundlegenden Reformen und Neuausrichtungen von Politiken kommt.

Entsprechend findet Policy-Lernen zunächst und vor allem innerhalb der Interessenkoalitionen (Advocacy Coalitions) statt. Ein Lernen über Koalitionen bzw. Netzwerke hinweg ist dagegen schwieriger und seltener. Zum einen weil man nicht auf einen Kern gemeinsamer politischer Grundorientierungen zurückgreifen kann, zum anderen aber auch, weil die Ansichten der jeweils anderen Gruppen systematisch abgewertet werden und verdächtig erscheinen. Dieses sozialpsychologisch zu erklärende Phänomen wird von Sabatier als „devil shift“ („Verteufelung“) (ebd., S. 311) bezeichnet.

Als lernfördernde Bedingungen (vgl. Abb. 7.5) lassen sich durch die Forschungen im Rahmen des ACF insbesondere identifizieren:

  • übergreifende gemeinsame Ziele,

  • gemeinsame Foren und (ggf. koalitionsübergreifende) Netzwerke zu Interaktion und Austausch,

  • valide wissenschaftliche Erkenntnisse sowie

  • das Vorhandensein von Vermittler*innen (Policy Broker).

Die Soziallobbyist*in kann sich abhängig von den Verhältnissen in einem Policy-Subsystem und ihrer eigenen Positionierung damit entweder als Teil einer Advocacy Coalition verstehen oder sich in die Rolle einer Policy-Vermittler*in (Policy-Broker) einfinden. In jedem Fall ist für den Erfolg des Lobbyings ausschlaggebend:

  • die Reputation der Akteur*in und ihrer Organisation,

  • ihre Vernetzung (ggf. über Lager hinweg),

  • ihre Kommunikationsfähigkeit und ihr Verhandlungsgeschick,

  • die (fachliche, soziale und politische) Robustheit des eingebrachten Wissens und der zur Verfügung gestellten Informationen sowie

  • möglicher Wissenstransfer (siehe Kasten 7).

Kasten 7: Transferlernen

Policy-Transfers“ – „Lesson Drawing

Richard Rose (1993) hat in seinen Untersuchungen (vgl. auch Dolowitz/Marsh 1996; Jahn 2015) nachgewiesen, dass Politiker*innen zunächst meist „nach Erfahrungen in der Vergangenheit oder in anderen Regionen (suchen), um mögliche Wege zur Lösung eigener aktueller Aufgaben zu finden“ (Bandelow 2009, S. 326). Wenn bestimmte Politiken (Maßnahmen, Programme, Projekte) schon a) in der Vergangenheit, b) an einem anderen Ort, c) auf einer anderen Politikebene oder d) in anderen Politikfeldern erfolgreich durchgeführt wurden, reduziert das die generelle Unsicherheit politischer Entscheidungen und trägt so zur Akzeptanz von Politikalternativen bei. Transferprozesse können erzwungen, aber auch reflexiv lernend erfolgen. Transfer-Modelle können kopiert, angepasst und kombiniert werden oder wirken inspirierend für die Entwicklung eigener Programme (Lütz 2007, S. 135 f.). In den letzten Jahrzehnten hat sich auf europäischer Ebene mit der „Offenen Methode der Koordinierung“ wie im nationalen und kommunalen Rahmen Benchmarking (die vergleichende Bewertung von Strukturen, Prozessen, Methoden und Leistungen anhand von Kennzahlen oder anderen vorher festgelegten Standards bzw. Maßstäben) als Steuerungsansatz bzw. als Modell reflexiven Lernens verbreitet. Damit werden Lern- und Transferprozesse orientiert an nationalen und kommunalen „Best Practices“ gefördert. Transferlernen kennt aber auch Fallstricke, auf die zu achten ist. Insbesondere gilt es zu vermeiden:

  • nur unzureichende oder unvollständige Informationen über eine Politik (Policy) zu haben (uninformierter Transfer),

  • den (zeitlichen, sozialen, institutionellen oder kulturellen) Kontext einer Politik (Policy) nicht zu berücksichtigen (unpassender Transfer),

  • den nicht kompletten Transfer. Es werden einzelne (symbolträchtige, kostengünstige usw.) Elemente einer Politik herausgepickt, andere tragende Elemente aber übergangen (unvollständiger Transfer).

2.4 Evidence-based Policy Making (EBPM)

Die Policy-Forschung zeigt, wo und unter welchen Bedingungen interessengeleitete Politikberatung funktionieren und Praxiswissen wie wissenschaftliche Erkenntnisse politische (Lern-)Prozesse beeinflussen können. Sie macht aber auch auf die Hindernisse politischen Lernens aufmerksam. Mit dem in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewinnenden Konzept des „Evidence-based Policy Making“ unternimmt die Politik durchaus Anstrengungen sich der Expertise aus Wissenschaft und Praxis zu öffnen (zum Folgenden Rieger 2022a).

Evidence-based Policy (EBP) bzw. Evidence-based Policy Making (EBPM) wird vor allem in Großbritannien, Australien und den USA als politisch-institutionelles Reformkonzept diskutiert. In Deutschland ist das Konzept EBPM in Wissenschaft und Politikpraxis weniger verbreitet, die Problematik und entsprechende Anstrengungen sind aber nicht minder präsent. Der Begriff ist vorausgehenden Diskursen zu einer evidenzbasierten Medizin (Evidence-based Medicine) entlehnt, in denen es um die Frage ging, wie ärztliche Entscheidungen, Diagnostik und Wirksamkeit von Interventionen sich konsequent auf wissenschaftliche Forschung stützen können. Der von der Medizin ausgehende Diskurs greift dann auch auf andere Gesundheitsberufe und Soziale Dienste über. In der Sozialen Arbeit wird über die Möglichkeit einer Evidence-based Social Work (Marston und Watts 2003, S. 147) gestritten.

In der Politik kommt das Konzept 1997 mit der Regierungsübernahme durch New Labour in Großbritannien an. Tony Blairs Modernisierungsagenda wird in einem Papier des Cabinet Office von 1999 wie folgt skizziert: „(The) government must be willing constantly to re-evaluate what it is doing so as to produce policies that really deal with problems, that are forward looking and shaped by evidence […] to meet peoples rising expectations, policy making must […] be a process of continuous learning and improvement“ (Jun und Grabow 2008, S. 22). Labour förderte in der Folge den Auf- und Ausbau wissenschaftlicher Beratungseinrichtungen und erhöhte den Einfluss externer Beratungsleistungen auf den Prozess der Politikformulierung und Implementation.

Dass EBP unter New Labour floriert, ist wenig überraschend. Generell haben wissenschaftlich „fundierte Politikberatung und Ansätze der politischen Steuerung auf der Grundlage wissenschaftlich erarbeiteter Befunde ihre Ursprünge in den Organisationen der Arbeiterbewegung“ (ebd., S. 17). Sozialdemokratische Reformpolitik war und ist durch ihre Wurzeln im Marxismus und die spätere Orientierung an der Rolle des Staates zur Verwirklichung von Wirtschafts- und Sozialreformen für eine gerechtere und solidarischere Gesellschaft gekennzeichnet (z. B. im Rahmen keynesianischer Wirtschaftspolitik). Immer besteht der Anspruch, Gesellschaft mit wissenschaftlichen Methoden und Theorien zu verstehen, um sie dann zu verändern. Die Attraktivität von EBP verstärkt sich für New Labour als Partei des „Third Way“ (Anthony Giddens) allerdings durch das Vordringen der neoliberalen Wirtschaftsideologie seit Ende der 70er-Jahre: „(T)he managerialist emphasis on value for money and the ‚focus on effectiveness and efficiency is a central driving force behind evidence-based practice and policy‘“ (Marston und Watts 2003, S. 148).

EBPM will politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse an gesichertem Wissen orientieren. Dabei geht es einerseits darum, wie entsprechendes, außerhalb des politischen Systems produziertes bzw. vorhandenes Expertenwissen im politischen Prozess berücksichtigt werden kann. Andererseits wird gefragt, wie politische Prozesse selbst rationaler zu gestalten sind. Gesichertes Wissen soll dabei in allen Phasen des politischen Prozesses von der Problemdefinition, über das Agenda Setting, die Politikformulierung und Implementation bis zur Politikevaluation herangezogen werden. Wissenschaftliches Wissen soll Daten liefern und Erklärungsmodelle bereithalten, um Ausmaß, Dringlichkeit und Ursachen von politischen Problemen einzuschätzen. Die Wissenschaft soll Nachweise zur Wirksamkeit von Programmen und Maßnahmen erbringen und durch die Evaluation eben dieser Programme mit wissenschaftlichen Methoden dazu beitragen, weiteres, gesichertes Wissen zu schaffen. Stets mitgedacht die simple Frage: „What Works?“ (Davis et al. 2000).

Im Diskurs um EBPM bleibt allerdings umstritten, was unter gesichertem Wissen im Sinne von Evidenz zu verstehen ist. Ein enges Verständnis von EBPM lässt als Evidenz nur Wissen gelten, das über quantitative Methoden der Sozialforschung statistisch abgesichert ist, sieht „Randomised Policy Traits“ (RPT) zur Evaluation politischer Programme als Goldstandard und fördert umfangreiche Metaanalysen entsprechender empirischer Forschungen in einem Themengebiet. Ein weiteres Verständnis von EBPM lässt dagegen Expertenwissen in einem umfassenderen Sinne zu: „Das heißt mit Erkenntnissen aus der Forschung zu arbeiten, die mit wissenschaftlichen Methoden erarbeitet, empirisch gesichert und überprüfbar sind, sowie mit Erfahrungswissen der mit der Umsetzung der Entscheidungen beauftragten Beschäftigten im öffentlichen Dienst sowie mit Erfahrungen und Erwartungen der Betroffenen“ (Jun und Grabow 2008, S. 9). Ziel einer EBP auf kommunaler wie staatlicher Ebene ist es, hier „möglichst viel politisch unabhängige Expertise (zu) berücksichtigen“ (ebd., S. 11), um wirksame und nachhaltige politische Programme im Sinne demokratisch legitimierter, die Wohlfahrt der Bevölkerung fördernder Ziele zu gestalten.

Um Politik in diesem Sinne tatsächlich lernfähiger zu machen, sind institutionelle Reformen unverzichtbar. Will man politische Prozesse durch die Heranziehung wissenschaftlichen Wissens und praktischer Expertise rationaler gestalten, so gilt es zunächst die unvermeidlich begrenzte Rationalität (Bounded Rationality) politischer Entscheidungen und die Kontingenz wie Ambiguität politischer Prozesse anzuerkennen, um dann über institutionelle Reformen und veränderte Herangehensweisen politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse für Expertenwissen zu öffnen. Eine bessere Berücksichtigung gesicherten Wissens aus Wissenschaft und Praxis kann dabei insbesondere erreicht werden:

  • indem Foren und Netzwerke der gemeinsamen Beratung eingerichtet werden,

  • indem die öffentliche Hand (Regierungen, Parlamente, Räte, Verwaltungen usw.) sich Planungsabteilungen schafft, die ein systematisches Monitoring und eine Aufarbeitung wissenschaftlichen Wissen betreiben sowie eigene Forschung und Planung durchführen,

  • indem politische Programme und Maßnahmen systematisch, unabhängig und entsprechend wissenschaftlicher Standards evaluiert werden – und diese Evaluationen bereits im Rahmen der Programmgenehmigung vorgesehen und finanziert werden,

  • indem solche Forschungen grundsätzlich öffentlich gemacht werden,

  • indem Möglichkeiten für wissenschaftlich begleitete Modellprojekte bzw. Pilotprojekte eröffnet werden,

  • indem im Sinne von Policy-Transfers (siehe Kasten 7) systematisch Erfahrungen und Best-Practice-Lösungen anderer Politikfelder, anderer politischer Ebenen und internationale Vergleiche herangezogen werden. Wobei es hier auf eine kontextgenaue Anpassung (s. o.) im Sinne einer „Realist Synthesis“ (Pawson 2002) ankommt.

Dass Politik sich in ihren Entscheidungen am verfügbaren Wissen orientieren sollte, ist uneingeschränkt wünschenswert. Dies darf allerdings nicht dazu verleiten zu glauben, wissenschaftliches oder professionelles Wissen müsste durch die Politik einfach nur umgesetzt werden. Politische Entscheidungen sind immer (auch) Wertentscheidungen. Die Legitimität politischer Entscheidungen bemisst sich zugleich an über Wahlen und Abstimmungen herzustellenden Mehrheiten und der auf bestmöglichem Wissen beruhenden Rationalität von Maßnahmen. Die behauptete Alternativlosigkeit oder die Forderung nach reiner Sachpolitik sind nur politische Rhetorik und selbst unwissenschaftlich. Zu Recht stellt Cairney fest, „people seeking to inject more scientific into policymaking may not be paying enough attention to the science of policymaking“ (2016, S. 7; Herv. i. O.). Anzustreben ist lediglich eine evidenzbeeinflusste bzw. evidenzbewusste Politik (Jun und Grabow 2008, S. 11). Es geht um evidenzoffene nicht um evidenzgesteuerte Politik.

Aufgaben und Fragen zur Kontrolle des Lernerfolgs

  1. 1.

    Warum kann Soziallobbying als interessengeleitete Politikberatung verstanden werden?

  2. 2.

    Was macht die Kommunikation zwischen sozialarbeiterischer Praxis und Politik so anfällig für Missverständnisse?

  3. 3.

    Welche Folgerungen lassen sich für die Lobbypraxis aus den Erkenntnissen der Politikfeldforschung ziehen?

  4. 4.

    Was verhindert Lernprozesse in der Politik?

  5. 5.

    Warum ist es falsch zu behaupten, Politik müsse wissenschaftliches Wissen nur umsetzen, dann würde sie auch besser?