KlassenLos! Ein Aufruf zur Debatte – Peter Nowak
Was hat das Klassenverhältnis mit dem Stand der kapitalistischen Vergesellschaftung zu tun – und warum muss es angegriffen werden?

KlassenLos! Ein Aufruf zur Debatte

Anne Seeck/Gerhard Hanloser/Peter Nowak/Harald Rein/Thilo Broschell: »KlassenLos: Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten«. Die Buchmacherei 2024. 256 S., 12€. Der Herausgeberkreis steht ausdrücklich für Diskussionsrunden zur Verfügung und ist unter reinharald@outlook.de zu erreichen.

Die Rechte auf dem Vormarsch, eine zersplitterte Linke in der Krise: destruktive gesellschaftliche Entwicklungen, prekäre Alltagserfahrungen und mannigfaltige Überwältigungen wie Kriege, Corona und Klimakatastrophe tragen nicht zur Stärkung linker Bewegungen bei – im Gegenteil. Substanzielle emanzipatorische Ansprüche und gesellschaftliche Bewegungen werden immer weiter marginalisiert. Während das Corona-Dilemma noch nachklingt und linke Milieus Aufarbeitung und Selbstkritik scheuen, reiben sich linke publizistische Stimmen in einem fruchtlosen für und wider bei der Beurteilung aktueller militärischer Krisenherde (Stichworte Ukraine, Gaza) auf. Resultat ist ein …

… recht geringer Widerstand gegen eine zunehmende Militarisierung Deutschlands und Europas bei gleichzeitiger unverhohlener offensiver Kriegspropaganda im öffentlichen Diskurs.

Lässt sich bereits während der Corona-Epidemie eine teilweise unkritische Einschätzung linker Bewegungen gegenüber den veranlassten staatlichen Maßnahmen feststellen, so hatte die klassenspezifische Beurteilung, demnach das Infektionsrisiko bei schlechten Wohn- und Unterbringungsverhältnissen bei armen Menschen deutlich höher ist als bei sozial Bessergestellten kaum eine Auswirkung auf eine politische Widerstandspraxis. Und auch die systematische Aufblähung militärischer Ausgaben steht in direktem Zusammenhang mit jetzt schon stattfindenden oder bereits geplanten Veränderungen in sozialen Feldern (»Sozialer Sektor bricht weg«, Frankfurter Rundschau 19.03.2024). Bürgergeld, Sozialhilfe, Obdachlosigkeit und prekäres Leben und Arbeiten sind Themen, die im linken Lager wenig beachtet werden und selten Teil ihres politischen Schwerpunktes sind. Hatten sich linke und linksradikale Gruppen schon vor Corona kaum um Proteste von Einkommensarmen gekümmert, so brachen diese Verbindungen danach vollends zusammen. Zwar gab es zu Beginn der Corona-Pandemie für kurze Zeit ein vermehrtes Interesse für das Leben armer Leute (etwa die Parole »Keine/r bleibt allein zurück«), doch dieser positive Impuls versandete schnell und wurde vom Streit um die Corona-Maßnahmen überlagert; die Belange armer Menschen spielten keine Rolle mehr!

Armut ohne Widerstand?

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Widerstandsfähigkeit armer Leute. Die ab den 1970ern sich entwickelnde sozialrevolutionäre Linke setzte immer auf Spontaneität und Rebellion der Paupers, der Armen und Ausgespuckten. Ist das eine zu verabschiedende Revolutionsillusion? Die Bewegungen auf der Straße der letzten Jahre waren schließlich nicht von armen Leuten geprägt. Kann es sein, dass ab einem gewissen Grad von Armut sich die ganze Existenzsituation der meist Vereinzelten in Richtung Apathie entwickelt? Oder fanden sich zu bestimmten Zeiten Arme auf der Straße, weil es viele organisierte Strukturen (die heute fehlen) gab, an die sie andocken konnten? Heute sehen viel Arme keine Perspektive auf Verbesserung ihrer Lebenssituation durch Demonstrationen, zumal die Alltagspraxis die meiste Zeit und Energie verschlingt.

Auf verschiedene sozialstaatliche Interventionen bezogen ging es immer um eine Fortschreibung oder Anpassung an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse. Millionen von Betroffenen gerieten und geraten so in einen Strudel von Unsicherheit und Angst, der in Zeiten knapper Kassen mit öffentlichkeitswirksamer Diffamierung ergänzt wurde und wird. Umgedreht gestaltet sich die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, als eine zentrale Herrschaftstechnik gegenüber den Erwerbsarbeiter*innen. Sozialstaat als Instrument zur Herstellung disziplinierter Arbeitskraft, als leidschaffende Verwaltungsinstitution und armutsproduzierende Einrichtung, dennoch im Vergleich zu anderen Ländern hochgelobt, ist ein Teil ausgehöhlter sozialer Rechtsstaatlichkeit und findet allerdings kaum Interesse bei linken Diskussionsrunden.

Arbeitsarmut statt Sozialstaat

Und es geht noch weiter: Durch ein abgestuftes Netz von Unterstützungsleistungen, Versagungen und Begünstigungen unterschiedlicher Armutsgruppen entfaltet der Sozialstaat eine entsolidarisierende Wirkung. Vorurteile zwischen Bezieher*innen von Arbeitslosengeld, Bürgergeld, Wohngeld etc. haben hier ihren Ausgangspunkt. Gemeinsam mit dem Credo »Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit« werden Spannungen erzeugt, die einen gemeinsamen Widerstand verhindern, sie führen auch zu einer Erosion der Solidarität von Arbeitern zu Erwerbslosen und verfestigen sich in der Auffassung, nur wer etwas leistet, dem gebühre auch die Sozialunterstützung. Oder noch zugespitzter: Wer nicht (Lohn)arbeitet ist kein würdiger Teil der Gesellschaft (außer bei denjenigen die gesundheitlich nicht mehr in der Lage sind). Dem gilt es entgegenzuwirken durch eine Auseinandersetzung mit welchen Argumentationen und Aktionsformen gegen solcherart Spaltungen vorgegangen werden kann und wie eine radikale linke Erörterung über Erwerbslosigkeit und Nicht-Arbeit aussehen könnte (Betroffene sofort in »gute« Arbeit bringen oder den Schwerpunkt auf Existenzsicherung legen).

Es sei darauf hingewiesen, das fast zwei Drittel der erwachsenen Armen einer Arbeit nachgehen (wenn auch nicht alle in Vollzeit) oder in Rente/Pension sind. Rund 20 Prozent der Einkommensarmen sind Kinder. Des Weiteren fällt die Abwesenheit einer linken Debatte auf, wie der aktuellen Hetze gegen Erwerbslose (Bürgergeld als »leistungsloses Einkommen«) und Flüchtlinge (Bezahlkarte, Leistungskürzungen) begegnet werden kann. Die gegenwärtige Hetze gegen die Bürgergeldbezieher*innen und Geflüchtete muss zusammen gedacht werden. Beide fungieren als »Sündenböcke« für die Unzufriedenheit von Menschen, was von Politik und Medien angestachelt wird. Gerade Niedriglöhner*innen und Beschäftigte werden gegen ein nicht vorhandenes Problem von Arbeitsverweigern aufgehetzt. Eine Ursache für die Wahl der AfD sind die Angst vor Abstieg und/oder Existenzsorgen. Rechte machen sich diese Ängste zu Nutze, um auf Stimmenfang zu gehen. Wenn die radikale Linke keine Antworten auf diese Zukunftsängste findet, werden die Rechten nicht zu stoppen sein.

Trotz Anspruchs der radikalen Linken, sich am Alltag armer Menschen zu orientieren, sieht die Praxis oft anders aus. Dies hat auch etwas damit zu tun, dass Betroffene andere, Linken eher suspekte Diskurse nutzen, und dass sie eine eigene Widerstandspraxis entwickelt haben, die quer zum herkömmlichen Verständnis des Organisierens und Demonstrierens steht. Aus einer Ahnung über die Rechtmäßigkeiten auf ein gesichertes Einkommen (auch ohne Lohnarbeit) findet der dort vorhandene Zorn seinen Ausdruck in einer Art Unterwanderung sozialstaatlicher Armutspolitik, mit dem Ziel, das erdrückende Elend zu mildern und der Diskriminierung auf dem Amt entgegen zu treten. Dies zu erkennen und mitzutragen, könnte den direkten Zugang zur Armutsklasse öffnen. In den letzten Jahren hat es dazu von den Linken wenig positiven Beistand gegeben.

Mögliche Widerstandslogiken

Aber auch innerhalb der Arbeiterbewegung findet sich eine disparate Widerstandslogik, die sich am Arbeiter-Leid eines ausbeutungsorientierten Arbeitsprozesses festmachen lässt. Je länger deren Leben von körperlicher Schädigung, Erschöpfung und Isolation bestimmt wird, desto größer wirkt sich dies auf das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer*innen aus. Die unterschiedlichen Leiderfahrungen spalten die Arbeiterklasse in zwei Segmente, ein gefestigtes und ein gebrochenes Proletariat. Ersteres repräsentiert den bekannten Arbeiter-Widerstand (Organisieren/Kämpfen), während Letztere eher resignieren, aber nicht unbedingt dauerhaft politisch passiv sind. Bei ihnen können sich Wut und Zorn in einer gebrochenen Widerstandslogik zeigen. Sie suchen keine Mehrheiten, sind eruptiv und kennen sich (wenn es denn notwendig ist) bei der Sabotage an Maschinen oder in der eigenen Arbeitszeitverkürzung bestens aus. Nicht auszumalen was passieren würde, wenn der offene und versteckte Widerstand zusammen wirken würde! Solange allerdings das Leiden und die Angst der Betroffenen (dies gilt für Arbeiter*innen genauso wie für Erwerbslose) größer sind als die Einsicht in die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung, reproduzieren sich die Wunden des kapitalistischen Arbeits- und Lebensprozesses tagtäglich.

Dabei wäre ein zentraler Aspekt, die individuellen Resistenzen der Betroffenen zu unterstützen und weiterzugeben (als kollektive Praxis), um gleichzeitig den erwerbsarbeitsspezifischen Leistungsgedanken anzugreifen, die Wertigkeit des Menschen als unabhängig von Lohnarbeit zu bestimmen und damit zumindest ansatzweise die Kluft zwischen arbeitenden und nicht arbeitenden Menschen einzuebnen. Forderungen wie eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich und die Diskussion über ein Existenzgeld/bedingungsloses Grundeinkommen sowie über die Art und Weise der gesellschaftlichen Anerkennung von Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit können hilfreich sein.

Die kurzen Momente eines annähernd massenhaften Aufbegehrens von Erwerbslosen liegen schon zwanzig Jahre zurück. Obwohl damals viele Linke ebenfalls erwerbslos waren, hat es kein kontinuierlich radikales Eingreifen in die Erwerbslosenbewegung gegeben. Eher wurde der Zeitraum der eigenen Erwerbslosigkeit genutzt, mithilfe staatlicher Unterstützung, in anderen politischen Feldern aktiv zu sein. Große Teile der Erwerbslosenbewegung sind mittlerweile, ob gewollt oder ungewollt, Teil sozialstaatlicher Formierung, die Erwerbslosenbewegung hat kaum noch eine politische Relevanz.

Notwendige Gegenwartsanalyse

Offensichtlich hat es gesellschaftliche Veränderungen gegeben, die innerhalb der Linken kaum analysiert sind. Etwa, ob sich mit der Umbenennung von Hartz IV zu Bürgergeld real etwas verändert hat und ob wir es mit einer neuen Sozialstaatlichkeit zu tun haben, auf die wir angemessen reagieren müssen. In diesem Zusammenhang wäre auch zu überprüfen, inwieweit sich, verglichen mit den 80er Jahren, die soziale Zusammensetzung der industriellen Reservearmee und der von Armut betroffenen Bevölkerung verändert hat. Außerdem ist das Spektrum abhängiger Arbeiten vielfältiger geworden, unentgeltliche, aber verwertbare Tätigkeiten haben zugenommen, prekäres Arbeiten wird zum Standard, die simple Gegenüberstellung lohnerwerbstätig versus erwerbslos vereinfacht viel zu sehr. Daraus ergäbe sich unter Umständen eine Neuausrichtung unserer Konzeptionen (Bündnispolitik etc.) bezüglich Beratung, sozialer Zusammenkünfte und politischer Arbeit.

Ist es noch unsere gemeinsame Positionsbestimmung, dass der Sozialstaat Teil einer arbeitsorientierten, ausgrenzenden kapitalistischen Gesellschaft ist, dass also dieser Sozialstaat nicht in der Lage ist, Armut aufzuheben, dass Akkumulation privaten Reichtums Armut produziert und dass wir für eine andere, nichtkapitalistische Gesellschaft einstehen? Und schließlich: Welche Klasse bietet Hoffnung auf Rebellion und radikale Veränderung, formieren sich möglicherweise neue soziale Zusammensetzungen von Armen, prekär Beschäftigten und Teilen der traditionellen Arbeiterklasse mit einer eigenständigen Art des politischen Auftretens? Oder gibt es noch ganz andere Überraschungen?

Wir wissen wenig darüber, wie arme Leute jenseits ihrer eigenen proletarischen Existenzsituation weltpolitische Lagen einschätzen und verarbeiten. Die gesellschaftliche Linke zieht als Reaktion auf die Zunahme von Krisen ihre eigenen Kreise immer enger. Selbst für ein großes Bündnisthema wie Frieden und Antimilitarismus will man zuweilen nur die eigene Szene mobilisieren. Gerade arme Menschen sind in einem Klima von Kriegstüchtigkeit und Remilitarisierung besonders betroffen: Werbekampagnen der Armee könnten sie als Rekrutierungsmilieu ausmachen, und generell: »Kanonen statt Butter« trifft immer die unteren Klassen.

Eine Linke, die vornehmlich bemüht ist, die eigene vermeintlich korrekte Szene zu mobilisieren und ja nicht »rechtsoffen« sein will, ist darauf überhaupt nicht vorbereitet. In den Anti-Coronalockdown-Aufmärschen fanden sich auf jeden Fall neben abgesicherten und gut verdienenden Selbständigen und Akademiker*innen auch etliche Prekäre wieder. Auch diverse Friedensaufmärsche ziehen Menschen in proletarischer Existenzsituation an, womit die Friedensfrage weit weniger »bürgerlich« dominiert ist als in den 80er Jahren. Die Armen in diffusem Umfeld sollten gerade von einer radikalen Linken angesprochen, nicht abgestoßen werden.

Mapping und andere Ansätze

Neben diesen offensichtlichen Problemen und Unklarheiten liegen jedoch schon einige positive Ansätze vor. So arbeitet das Bildungswerk »Transnationals Information Exchange« (TIE) an einem Gesundheitsmapping, mit dem unter anderem die gesundheitlichen Beanspruchungen durch die Markierung eines Silhouettenkörpers als gemeinsame Belastung aller Beschäftigten gekennzeichnet werden. Diese Form des kollektiven Verständnisses wird dann in Bezug auf den Alltag und der Analyse des jeweiligen Arbeitsplatzes weitergeführt, um in einen gemeinsam zu erarbeitetenden Forderungskatalog und Möglichkeiten der Umsetzung im jeweiligen Betrieb zu münden. Der Mapping-Ansatz hat sich zum Beispiel in der Textilbranche national, wie international bewährt.

Einen ähnlichen Versuch startete die Gruppe »prekärlab« in Frankfurt. In einem an TIE angelehnten Armutsworkshop wurden die Themen aus der Sicht der Betroffenen bewertet und entwickelt, deren Wissen genutzt um gemeinsam aufzuzeigen, dass Armut nicht als individuelles, sondern als gesellschaftliches Problem zu sehen ist. Damit gelang zumindest teilweise die Vereinzelung zu durchbrechen, gemeinsames Bewusstsein zu fördern und Handlungsfähigkeit aufzubauen.

In diesem Zusammenhang wären auch Kampagnen überlegenswert, wie zum Beispiel in Form eines massenweisen Aufrufes an Einkommensarmen die ihnen zustehenden Sozialleistungen zu beantragen, denn 60 Prozent aller Rentnerinnen und Rentner realisieren ihren Anspruch auf Grundsicherung im Alter nicht, mehr als ein Drittel aller Anspruchsberechtigten verzichten auf Bürgergeld und beim Kinderzuschlag sind es sogar zwei Drittel. Ort der Realisierung dieser Vorschläge können bestehende oder zu gründende Sozial-/Workerzentren sein, die neben der Beratung, der politischen Initiativen auch ein niedrigschwelliger Anlaufpunkt für Betroffene aus der jeweiligen Stadt darstellen. Erste Erfahrungen hierzu gibt es bereits!

Anne Seeck/Gerhard Hanloser/Peter Nowak/Harald Rein/Thilo Broschell: »KlassenLos: Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten«. Die Buchmacherei 2024. 256 S., 12€.
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