„Ku’damm 59“: Jubel für die Uraufführung des Musicals

Knallig, neu, aus Berlin: Jubel für die Uraufführung des Musicals „Ku’damm 59“

Das zweite 1950er-Jahre-Stück von Annette Hess (Libretto), Peter Plate und Ulf Leo Sommer (Musik) im Theater des Westens lässt an die Zukunft des deutschen Musicals glauben.

Sieht aus wie Bayern, spielt aber auf dem titelgebenden Kudamm.
Sieht aus wie Bayern, spielt aber auf dem titelgebenden Kudamm.Sunstroem

Nach der Pause geht es der Bühne an die Substanz. Alles bricht zusammen bei dieser Theater-im-Theater-Premiere. Monika, Hauptfigur eines lieblichen Heimatfilms, spricht plötzlich über ihr uneheliches Kind, das ihr das Jugendamt vorenthält. Erzählt in die Mikrofone, dass ihr Filmpartner Freddy als Einziger seiner Familie Auschwitz überlebt hat. Ein Jude auf der Leinwand also, hoho, könnte dafür nicht Konventionalstrafe fällig werden? Die Presse schreit, Monikas Mutter kollabiert, die Regisseurin tobt, nimmt wahr, wie ihr Werk gerade in den Abgrund rauscht. Auf dem Höhepunkt dieser Raserei fällt der schwere rote Samtvorhang, hängt noch in breiten Fetzen von der Decke. Zur Uraufführung des Musicals „Ku’damm 59“ am Sonntag gibt es immer wieder johlenden Zwischenapplaus. Entwickelt sich hier Sehnsucht nach den 1950ern? Wir werden sehen.

Das Trio Annette Hess (Libretto), Peter Plate und Ulf Leo Sommer (Musik) präsentiert sein zweites 1950er-Jahre-Stück im Theater des Westens, nachdem der Vorgänger „Ku’damm 56“ 2021 trotz Pandemie mit einer halben Million Zuschauern Rekorde aufstellte. Jetzt formte die Autorin die Drehbücher ihres spannenden Fernseh-Dreiteilers „Ku’damm 59“ von 270 Minuten zu einem halb so langen Bühnenstück, ließ dabei auch noch Platz für 20 Songs. Um es gleich zu sagen, das Ganze ist ein großer Wurf – ernst, verstörend, lustig. Allerdings wurde die Handlung dabei so komprimiert, dass sie eine kurze Zusammenfassung verträgt.

Caterina Schöllack leitet ihre „Ku’damm“-Tanzschule Ende der 1950er-Jahre mit strenger Hand, hat die Heiratspläne ihrer drei Töchter ambitioniert gesteuert, aber wenig erfolgreich. Eva flüchtet vor ihrem despotischen Professor in die Prostitution. Helga ist mit ihrem schwulen Staatsanwalt unglücklich. Monika will lieber doch nicht in Heimatfilmen mit Dirndl und Lederhosenjungs den Wolfgangsee anhimmeln. Dabei sind diese Dreharbeiten mit Jodelausflügen, Applausbefehlen und Donnergewitter besonders komisch.

Warum die West-Frauen nicht rübermachten

Jaja, es wird viel gelacht an diesem Abend. Überhaupt läuft alles auf eine rasante Show hinaus, nach einem etwas bedächtigen Anfang von der Regie (Christoph Drewitz), Choreografie (Jonathan Huor) und einer spielfreudigen Band knallig in Szene gesetzt. Alles läuft auf einer funktional-reduzierten Bühne, die unbeirrt mit Licht und beweglichen Kulissen schnelle Szenenwechsel schafft, also keinesfalls gegen die Ausstattungsorgien der Musical-Industrie antreten will.

Die gesamte Besetzung ist zum Niederknien.
Die gesamte Besetzung ist zum Niederknien.Sunstroem

Es geht um die Wirtschaftswunderjahre der Nachkriegszeit, die Aufbruchstimmung, die Zukunftsversprechen, in der gerade Frauen auch der patriarchalischen Enge und miesen Frollein-Sprüchen entkommen wollen. Fast vergessen, dass Gattinnen wie Eva damals ohne den Segen des Ehemannes nicht arbeiten, kein Konto eröffnen, kein Auto fahren dürfen. Evas Führerschein verbrennt ihr Professor kurzerhand. Darf er. Nur ein Satz zur Einordnung: Das Stück spielt in West-Berlin. Nebenan in Ost-Berlin sind Frauen damals weit emanzipierter, selbstständiger, viel öfter berufstätig, müssen längst keinen Ehemann mehr um Erlaubnis fragen. Klar, und trotzdem machen die West-Frauen nicht rüber, bleiben in ihrem neuen Konsumparadies.

Wie schon die Fernsehserie fängt das Stück Stimmungen 15 Jahre nach Kriegsende in der Bundesrepublik mit schneidiger Genauigkeit und bösen Dialogen ein. Oft reicht ein einzelner Song. Schaurig ergreifend etwa, wenn sich Tanzschulbesitzerin Schöllack (Katja Uhlig) und Regisseurin Moser (Steffi Irmen) als „Schwestern aus dem Gestern“ zusammentun, sich als „Paar wie Speer und Riefenstahl“ in ihre glorreichen Zeiten zurücksehnen. Ins Gestern, als die Tanzschule gerade in „arischen“ Besitz übergegangen war und Moser angesehene braune Filme drehen konnte.

Die ganze Inszenierung wird geflutet von knackig-kantigen Pop-Perlen aus dem Kosmos des Komponistenduos Plate und Sommer. Nachdrücklich fräsen sich etliche in die Gehörgänge, Songs mit den berühmten endlos gedehnten Vokalen. Vorgetragen von Künstlerinnen, die sich schön, stark und sicher auch in den sehr hohen Tönen bewegen, wie Celina dos Santos („Marie läuft Amok“), Isabel Waltsgott und auch Pamina Lenn als Töchter. Zum Niederknien allerdings die gesamte Besetzung, die klasse singt, schauspielerisch nie chargiert und auch noch tanzen kann.

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Große Tanzszenen sind dabei knapp, auch scheint das Stück gelegentlich überfrachtet. Wer die Serie nicht im Kopf hat, versteht manche Szenen kaum. Etwa, dass der Ost-Berliner Geliebte des Staatsanwalts von dessen Ehefrau Helga an die Stasi verraten wird – mit krassen Folgen, brutal angedeutet. Insgesamt aber steckt in jedem Dialog und jedem Songtext dieser Inszenierung mehr, als sich auf die Schnelle erfassen lässt. Allein die Songtexte, die hier für Liebe zu einem Kind, zu einer Gitarre oder zu einem schwulen Mann gefunden werden, gleichermaßen unverbraucht und treffend, lassen an die Zukunft deutscher Musicals glauben, zu Hause in einer friedlichen „Liebmichallee“. Endloser Premierenjubel.

Ku’damm 59. Theater des Westens, Karten und Informationen stage-entertainment.de