Schlüsselwörter

1 Einleitung

Im Rahmen der öffentlich geführten religionspolitischen Diskurse der letzten Jahre spielt das Verhältnis von Mono- und Polytheismus kaum eine Rolle. Tagespolitische Debatten beschäftigen sich fast ausschließlich mit den drei monotheistischen Religionen, seit dem Ukrainekrieg auch vermehrt mit Auseinandersetzungen zwischen den christlichen Konfessionen. Umso mehr ging es in den Kulturwissenschaften um das Thema Mono- und Polytheismus, weil es die Grundlagen der abendländischen Kultur betrifft. Die sog. ‚Monotheismusthese‘ des Ägyptologen Jan Assmann, der zufolge die monotheistischen Religionen ein intrinsisches Gewaltpotential haben, stellt nicht nur das derzeitige Selbstverständnis des Christentums, zumindest in Deutschland, in Frage; die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den monotheistischen Religionen und die historischen zwischen den christlichen Kolonialmächten Europas und polytheistischen Religionen auf anderen Kontinenten erscheinen vor ihrem Hintergrund gewissermaßen als Normalfall. Der japanische Shintō wurde in dieser Debatte bislang nicht berücksichtigt, kann aber neues Licht auf die politische Funktion von Religion überhaupt und die religiöse Fundierung nationalistischen Denkens im Besonderen werfen.

Nun sind die Debatten um Politik und Religion keineswegs neu; seitdem die Renaissance die antike Philosophie, Literatur und Kunst aufwertete und so die kulturelle Oberherrschaft des Christentums in Frage stellte, Entdeckungen und Reiseberichte das Wissen um andere Kulturen und Religionen erweiterten und die Aufklärung teils sogar einen dezidierten Atheismus vertrat, wurde die Religion vermehrt unter dem Aspekt des gesellschaftlichen ‚Nutzens‘ diskutiert: Was trägt sie zur Akkumulation von Macht, zu Bildung oder Verdummung, zu Hierarchisierung oder Egalisierung, zu Friedfertigkeit oder Gewalttätigkeit der Gesellschaft nach innen und außen bei? Schon im 18. Jahrhundert stand der Gegensatz von Mono- und Polytheismus im Vordergrund der Diskussion, auch in Japan. Jan Assmann und die auf die Monotheismusthese folgende lebhafte Diskussion unter Theologen, Philosophen und Literaturwissenschaftlern beziehen sich allenfalls am Rande darauf.

Im Folgenden wird es zuerst um die historischen Positionen Humes und Rousseaus als den wichtigsten Stichwortgebern in der Frühen Neuzeit gehen (Abschn. 2). Darauf gehe ich auf Assmanns Monotheismusthese ein (Abschn. 3), die mit dem japanischen Shintō zunächst gestützt (Abschn. 4) und anschließend mit Motoori Norinagas (1730–1801) Entwurf einer polytheistischen ‚Gegenreligion‘ in Frage gestellt wird. Dabei werden Norinagas Ideen auf den Nationalismus Johann Gottlieb Fichtes, auf Ideen Schillers, die Theodizee und die Hermeneutik bezogen (Abschn. 5). Die Schlussüberlegungen werden zeigen, dass Religionen weniger von sich aus Tendenzen zu Gewalt oder Gewaltlosigkeit entwickeln als politisch für Zwecke in Dienst genommen zu werden, die mit Gewalt verbunden sind oder eben nicht (Abschn. 6).

2 Toleranter oder intoleranter Polytheismus?

Die europäischen Konfessionskriege wurden bekanntlich beendet, indem den Religionen Macht entzogen und auf die Souveräne übertragen wurde. Im Schatten des Absolutismus entwickelte sich bis zu ihrem Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Religionskritik der Aufklärung, die nicht nur Kirchenkritik im Rahmen des Christentums übte, sondern sich auch anhand von Reiseberichten und historischer Literatur mit den politischen Folgen von Poly- und Monotheismus außerhalb Europas auseinandersetzte. Für Japan berichtete Engelbert Kaempfer in der Geschichte und Beschreibung von Japan, die 1727 zunächst in englischer und 1777 in deutscher Übersetzung erschien, in der Einleitung zum Religionskapitel:

Die Freiheit der Religion und des Glaubens ist unter allen heidnischen Völkern Asiens zu allen Zeiten völlig frey und unbeschränkt gewesen; so lange diese Freiheit nur nicht irgend nachtheilige Folgen für den Staat befürchten lies. So auch in Japan.Footnote 1

Religion hatte demnach in Japan schon den Status einer Privatsache, als sie sich im absolutistischen Europa erst schrittweise aus der staatlichen Aufsicht befreite. Hier wie dort wurde die Religionsfreiheit allerdings durch das Interesse des Staates begrenzt. Für Japan wäre das Verbot des Christentums zu nennen (u. a. 1614), in Europa etwa das Verbot religionskritischer Schriften Voltaires, Rousseaus und anderer im vorrevolutionären Frankreich oder die Entlassung Johann Gottlieb Fichtes unter dem Vorwurf des Atheismus durch die Weimarische Regierung im Jahre 1799.

David Hume hat wahrscheinlich in der Neuzeit zuerst die Tendenz von Mono- bzw. Polytheismus zur Gewalt systematisch untersucht. Mit Bezug auf antike Autoren argumentiert er in Die Naturgeschichte der Religion (1757), dass polytheistische Religionen fremde Götter nicht nur anerkennen, sondern sie auch untereinander vergleichen und „in Einklang miteinander“ bringen, während der Monotheismus „die Anbetung anderer Gottheiten für absurd und gottlos“Footnote 2 halte. Die Intoleranz des Judentums, des Islam und des Christentums sei dagegen bekannt, und wenn in England und Holland Toleranz herrsche, so sei das nur „auf die unerschütterliche Entschlossenheit der bürgerlichen Obrigkeit im Kampf mit den fortgesetzten Anstrengungen der Priester und Frömmler zurückzuführen“,Footnote 3 also auf die politische Macht, die die Religionen im Zaum halte. Das entspricht im Wesentlichen der Monotheismusthese Jan Assmanns, der zufolge die monotheistische Unterscheidung zwischen wahren und falschen bzw. eingebildeten Göttern ein spezifisch religiöses Gewaltpotential freisetzt. Ähnlich wie Hume argumentiert gut hundert Jahre später Arthur Schopenhauer,Footnote 4 während Nietzsche mit der These weiter geht, dass der Polytheismus, indem die Vielfalt der Götter auf das Selbstverständnis der Menschen zurückstrahle, den Individualismus und damit eine Gesellschaft freier Menschen fördere:

„Hier erlaubte man sich zuerst Individuen, hier ehrte man zuerst das Recht von Individuen. Die Erfindung von Göttern, Heroen und Uebermenschen aller Art, sowie von Neben- und Untermenschen, von Zwergen, Feen, Centauren, Satyrn, Dämonen und Teufeln, war die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen: die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die anderen Götter gewährte, gab man zuletzt sich selber gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn.“Footnote 5

Dieses Argument findet sich noch 1981 bei Odo Marquard in der Variante, dass die Vielfalt der Mythen vielfältige Biographien erzeuge, weil wir „in der ‚erzählten Welt‘“Footnote 6 leben. Die Vielfalt der Geschichten begrenze ihren Zugriff auf den Menschen, so dass er durch „Gewaltenteilung […] die Freiheitschance [erhalte], eine je eigene Vielfalt zu haben, d. h. ein Einzelner zu sein. Diese Chance hat er nicht, sobald die Gewalt einer einzigen Geschichte ihn ungeteilt beherrscht […].“Footnote 7 Die politische Gewaltenteilung ist nach Marquard bloß ein anderer „Aggregatzustand“Footnote 8 der mythischen, d. h. der Polytheismus begünstigt die moderne Demokratie, die die rechtlichen Voraussetzungen der Individualisierung bereitstellt, wie der Monotheismus den Absolutismus. Mit dieser Analogie käme man zu dem paradoxen Befund – der freilich bei Hume schon absehbar ist –, dass sich der europäische demokratische Rechtsstaat nicht aus, sondern gegen seine eigene Tradition herausgebildet hat und deswegen zu Rückfällen in ‚monotheistische‘, d. h. autoritäre Staatsformen neigt. Dies wäre die Position von Peter Sloterdijk, der eine säkulare „Allgemeine Kulturwissenschaft“ als einzig noch mögliche Grundlage des „zivilisatorische[n] Weg[es]“ sieht. Den Religionen soll dabei zwar über „symbolische Terminals“ das „Gefühl [ge]geben werden, einen Sieg errungen zu haben“,Footnote 9 in ihrer Eigentlichkeit hält Sloterdijk sie aber wohl überhaupt für tendenziell gewalttätig. Auf der anderen Seite wären – ebenfalls paradox – diejenigen Kulturen, die mit dem Polytheismus von vorneherein eine Tendenz zu Individualismus und Demokratie hatten, diesen Schritt nicht gegangen oder konnten ihn, außer Japan, als Folge des europäischen Kolonialismus nicht gehen.

Schwere Bedenken gegen Humes These vom toleranten Polytheismus hat, wahrscheinlich in direkter Reaktion darauf,Footnote 10 Jean-Jacques Rousseau geäußert. „Höchst lächerlich“ ist ihm zufolge

die Gelehrsamkeit unserer Tage, wenn sie die Identität der Götter verschiedener Nationen behauptet; als ob Moloch, Saturn und Kronos der gleiche Gott sein könnten; als ob der Baal der Phönizier, der Zeus der Griechen und der Jupiter der Lateiner der gleiche Gott sein könnten; als ob Trugbilder mit verschiedenen Namen etwas Gemeinsames haben könnten!Footnote 11

Zu Beginn, argumentiert er, weigerten sich die Völker, Menschen als Herrscher anzuerkennen; die Götter waren daher zugleich Könige. Rousseau könnte etwa an das alte Israel vor Einführung der Königsherrschaft gedacht haben, wo Gott die Stelle des Königs vertrat.Footnote 12 Da Kult und Regierung in eins fielen, Religion und Gesetz dasselbe waren, war der politische Krieg zugleich Religionskrieg und kriegerische Unterwerfung mit religiöser Bekehrung identisch. Humes Irrtum besteht nach Rousseau darin, dass er eine Trennung von Staat und Religion voraussetzt, die es vor Einführung des Christentums nicht gab. Der Grund für die Abwesenheit von spezifisch religiösen Kriegen war nicht etwa die Toleranz des Polytheismus, sondern die Durchdringung des gesamten Lebens, und insbesondere der Politik, mit Religion in theokratischen Staaten.

Man konnte allerdings auch auf die Vernichtung bzw. Bekehrung des Gegners verzichten, etwa bei annähernd gleichen Kräften oder in der Absicht, den Unterlegenen dem eigenen Staat einzuverleiben. In diesem Fall konnten dessen Götter je nach Kräfteverhältnis neben oder unter die eigenen gestellt werden. Der Polytheismus, und mit ihm „die theologische und staatsbürgerliche Intoleranz“,Footnote 13 entstand demnach erst, als die theokratisch organisierten Völker aufeinandertrafen. So wurde etwa in Rom Rousseau zufolge der Polytheismus aus machtpolitischen Erwägungen eingeführt. Auch der griechische Polytheismus wäre nach Rousseau auf die Verknüpfung lokaler Mythen infolge politischer Verbindungen zwischen den Stadtstaaten zurückzuführen. In hellenistischer Zeit erstreckte sich dann der Polytheismus über den gesamten Herrschaftsbereich Alexanders und seiner Nachfolger bzw. Roms. ‚Toleranz‘ entfaltet sich in Imperien, weil die Macht die Religionen zuvor unter einem Dach zusammenfasst. So erklärt sich auch die Zusammenfassung japanischer Mythen im Kojiki, das im frühen 8. Jahrhundert die Neuordnung des japanischen Kaiserreiches durch die Taika-Reformen religiös absicherte.Footnote 14

Dass der so entstandene Polytheismus intolerant war, zeigt Rousseau am Umgang mit dem verbliebenen Monotheismus. Als die Juden sich in der babylonischen Gefangenschaft weigerten, die Religion der Sieger anzunehmen, wurden sie verfolgt. Jesus führte dann erstmals die Trennung von Religion und Politik ein, indem er

ein geistiges Reich auf Erden [gründete], das durch die Trennung des theologischen vom politischen System die Einheit des Staates aufhob und jene inneren Spaltungen hervorrief, die nie aufgehört haben, die christlichen Völker in Unruhe zu halten.Footnote 15

Da die Römer befürchteten, die Christen heuchelten mit der Rede vom ‚Reich von einer anderen Welt‘ nur die Unterordnung unter die Macht, um sie bei nächster Gelegenheit selbst an sich zu reißen, wurde das Christentum verfolgt. Und tatsächlich, als das Christentum schließlich zur Staatsreligion wurde,

veränderte [alles] sein Aussehen, die demütigen Christen führten plötzlich eine andere Sprache, und das angebliche Reich einer anderen Welt verwandelte sich binnen kurzem unter einem sichtbaren Oberhaupt zur gewalttätigsten Despotie in dieser Welt.Footnote 16

Der doppelte Machtanspruch von Papst und Kaiser bzw. Königen erzeugte längerfristig jedoch Konflikte, die zur Schwächung der christlichen Staaten führten, etwa im Investiturstreit.

Rousseau unterscheidet drei historisch auftretende Typen von Religion, die jeweils ein spezifisches Verhältnis zum Staat ausbilden: (1) Die ‚Religion des Menschen‘, der Theismus bzw. das Christentum des Evangeliums, verpflichte bloß zum Kult des Höchsten Gottes und zur Moral. An dieser rein geistigen Religion gehe der Staat jedoch zugrunde, weil die Bürger ihr Heil nicht in dieser, sondern in der jenseitigen Welt suchten. (2) Die ‚Religion des Bürgers‘, die Theokratie der frühen Völker, sei auf ein Land beschränkt und habe ihre besonderen Götter, Dogmen und Riten. Alles außerhalb der eigenen Nation gelte ihr als „ungläubig, fremd und barbarisch.“Footnote 17 Der Kult der Götter sei zugleich Staatskult, wodurch zwar die Liebe zu den Gesetzen und die Verehrung des Vaterlandes gefördert werde; sie sei allerdings auf Lüge und Irrtum gegründet und verleite zum Aberglauben und zur Intoleranz. Die häufigen Kriege bedrohten zudem die Sicherheit des Staates. (3) Eine „seltsamere Art von Religion“ sei die „Priesterreligion […] der Lamas, der Japaner und des Katholizismus.“Footnote 18 Mit zwei widersprüchlichen Gesetzesordnungen und zwei Oberhäuptern schade sie der Einheit des Staates. Für den Katholizismus denkt Rousseau an Kirchen- und Staatsrecht sowie die Machtkämpfe zwischen weltlicher und geistlicher Macht, für den Lamaismus wohl an die Auseinandersetzungen zwischen den theokratischen Führern Pantschen-Lama und Dalai-Lama in Tibet, für Japan wohl an die Doppelherrschaft von Tennō und Shōgun sowie an Shintō und Buddhismus. Kaempfer stellt den Buddhismus in der (1729 ins Französische übersetzten) Geschichte und Beschreibung von Japan ausdrücklich als ausländische Religion dar,Footnote 19 so dass Rousseau hier einen der Einheit des Staates abträglichen Widerspruch sehen konnte.

Rousseau betrachtet die Religion wie Hume unter dem funktionalen Gesichtspunkt, ob sie dem Staat zu- oder abträglich ist. Wenn für Hume die polytheistischen Religionen toleranter und daher weniger schädlich sind, so plädiert er implizit wohl eher für ein Absterben der Religion, das den Weg für eine vernünftigere Organisation des Staates frei machen würde. Rousseau entwickelt dagegen das in sich widersprüchliche Konzept einer ‚Zivilreligion‘, die die Kraft des Staates, ähnlich wie die alten Theokratien, auf der Ebene des Gefühls zu unterstützen hätte, im Gegensatz zu den frühen Religionen aber mit der Vernunft kompatibel wäre. Von diesem staatstragenden, öffentlich praktizierten „vagen Deismus“Footnote 20 bliebe das private Glaubensbekenntnis unberührt.

Bei den derzeit diskutierten Positionen zur Frage von Religion und Gewalt handelt es sich überwiegend um Ausarbeitungen und Aktualisierungen der Toleranzthese Humes. Das gilt sowohl für Odo Marquard wie für Jan Assmann. Peter Sloterdijk beruft sich zu Beginn von Gottes Eifer (2007) explizit auf Hume,Footnote 21 endet aber bei Rousseaus Zivilreligion: Der religiöse „Eifer“ soll in einen kulturwissenschaftlich gezähmten „Nach-Eifer“ überführt werden, der alle Religionen in „große[n] Koalitionen“ mit der „säkularen Zivilisation“Footnote 22 vereint. Die aktuellen Positionen berücksichtigen allerdings nicht den wohl entscheidenden japanischen Fall: Nur im Falle Japans dürfte es einer polytheistischen Schriftkultur gelungen sein, ohne Umweg über den Status einer Kolonie in den Kreis der Nationalstaaten, der Industrienationen, der Kolonialmächte und schließlich in den der demokratischen Rechtsstaaten aufzurücken. Bevor genauer auf Japan eingegangen wird, soll zunächst Jan Assmanns Monotheismusthese vorgestellt werden.

3 Jan Assmanns Monotheismusthese

Assmann hat Humes These von der Intoleranz und intrinsischen Gewalttätigkeit des Monotheismus mehrfach kulturhistorisch ausgeführt. Seit 1998 Moses der Ägypter erschien, beschäftigt sein Begriff der ‚mosaischen Unterscheidung‘ zwischen wahrer und unwahrer Religion den deutschen Kulturbetrieb. Am Beispiel des frühen jüdischen Monotheismus entwickelt er die These, Monotheismen seien von vorneherein ‚Gegenreligionen‘, d. h. sie richteten sich gegen polytheistische Religionen, die ihnen vorangehen oder sie umgeben.Footnote 23 Das geht auf ihre Entstehung zurück, die schon Maimonides (1138–1204) für das Judentum als ‚normative Inversion‘ bestimmte, als Überschreibung polytheistischer Riten und Gesetze mit ihrem Gegenteil (vgl. MdÄ 88–103, bes. 90f.). Die Überschreibung der polytheistischen Erinnerung birgt aber immer die Gefahr des Rückfalls. Daher muss das Volk gegen ‚Kontamination‘ durch polytheistische Kulte von innen und außen geschützt werden. Exemplarisch steht dafür einerseits die Tötung von 3000 Israeliten auf Moses’ Befehl als Vergeltung für die Verehrung des goldenen Kalbes (MdÄ 269, vgl. Ex. 31, 18 und 32), andererseits Gottes Weisung, die Altäre der Nachbarvölker zu zerstören und ihre Frauen zu meiden (vgl. Ex. 34, 11–16). Der Polytheismus muss ausgelöscht werden, weil er der weltabgewandten Abstraktion des Monotheismus das gute Leben im Diesseits entgegensetzt (vgl. MdÄ 246f.).

Die polytheistische Religiosität des Hellenismus bezeichnet Assmann als ‚Kosmotheismus‘. Die Bedeutung der Götter sei nicht nur an Riten und Erzählungen (vgl. MdÄ 74), sondern auch an die kosmischen Erscheinungen gebunden, für die sie stehen. Ihre „natürliche[] Evidenz“ (MdÄ 81) – man denke etwa an die Sonne als Erscheinung des griechischen Sonnengottes Apoll und des ägyptischen Re – garantiere ihre allgemeine, völkerübergreifende Erfahrbarkeit. Die Götternamen seien in der Antike problemlos übersetzt worden, weil es tatsächlich überall dieselben Götter gewesen seien. Das schließe religiös motivierte Konflikte aus.

Die Monotheismusthese wurde bald heftig kritisiert,Footnote 24 so dass Assmann seine These zunächst ausführteFootnote 25 und dann mehrfach modifizierte.Footnote 26 Intrinsische Gewalttätigkeit spricht er nun nicht mehr den monotheistischen Religionen überhaupt, sondern ihrer „puritanische[n] Verschärfung“ in einer „Religion der Treue“ zu, die zuerst das Judentum in Anlehnung an die assyrische Loyalität gegenüber dem König entwickelt habe. Die Treue zu Gott wiege darin schwerer als alle menschlichen Bindungen, was die Gewalt nach innen erkläre;Footnote 27 sie erfordere jedoch auch den ‚Heiligen Krieg‘ gegen die Völker der Umgebung, um dem Abfall zu deren Göttern vorzubeugen. Daher sei aller praktische Nutzen durch Beute oder Gefangene verboten gewesen. Der Heilige Krieg sei ein Vernichtungskrieg gewesen. Im Gegensatz zur „Religion der Treue“ stehe die „Religion der Wahrheit“, die ‚falsche‘ Religionen nicht mit physischer Gewalt, sondern mit Spott und Verachtung“Footnote 28 verfolge.

Assmann bezieht spezifisch religiöse Gewalt jedoch weiterhin exklusiv auf den Monotheismus, so dass sich ein näheres Eingehen auf die verschiedenen Fassungen der Monotheismus-These erübrigt.Footnote 29 Polytheismen unterschieden nicht zwischen wahren und unwahren Religionen und entwickelten daher kein intrinsisches Gewaltpotential. Diese und die weitergehende These, dass die monotheistischen Religionen ihr Wahrheitspotential aus der Weltabwendung, aus der Transzendenz Gottes, gewinnen, während die polytheistischen sich der Welt zuwenden, möchte ich zunächst am Beispiel des japanischen Shintō stärken, um ihr anschließend das Beispiel einer ‚polytheistischen Gegenreligion‘ entgegenzustellen – nach Assmann eine Unmöglichkeit.Footnote 30

4 Der japanische Polytheismus

4.1 Polytheistische Gewaltenteilung

Der größte irdische Gott Japans dürfte Sengen Daimyōjin sein, der im Fuji-san (deutsch ‚Fujiyama‘) Gestalt angenommen hat. Seine Macht lässt sich daran bemessen, dass er bisher spielend jeder anderen Macht standgehalten hat. Der Gott des Fuji schließt aber keineswegs andere Götter aus: Sonne und Mond, Inseln, Bäume, tote Kaiser und Krieger, Priester, Gelehrte und andere. Alle diese Götter haben wie ihre Verkörperungen (shintai) einen Platz im Raum und in der Zeit, seit sie im Kojiki (712) in eine lockere Ordnung gebracht wurden.Footnote 31 Buddhismus und Konfuzianismus werden je nach politischer Lage in den Vorder- oder Hintergrund geschoben und in die Ordnung der Götter einbezogen. Der Shintō gibt daher das Schema für ein Nebeneinander von Göttern und Religionen ab, das strukturbildend auch in anderen Bereichen wirkt – etwa im Verhältnis von sozialen Gruppen oder wissenschaftlichen Theorien, wie der Politologe Maruyama Masao gezeigt hat.Footnote 32 Der Polytheismus wirkt weiterhin strukturbildend auf die gesellschaftlichen Verhältnisse Japans ein.

Das Nebeneinander der Götter lässt die Vorstellung von einem jenseitigen, allmächtigen Gott nicht zu, die Götter bleiben vielmehr an konkrete Plätze und Zeiten gebunden.Footnote 33 Die Macht jedes Gottes ergibt sich ganz einfach aus seinem Verhältnis zu anderen Göttern im Raum und in der Zeit, als polytheistische Gewaltenteilung. Diesseitige Götter, verstanden als Seele der Dinge bzw. als Kräfte, begrenzen ihre Macht im Konkurrenzkampf gegenseitig, während der Monotheismus den Dingen dieser Welt den allmächtigen Gott gegenüberstellt.

Ein Beispiel für die mythische Abbildung von Machtverhältnissen findet man im Mythos von der Bestätigung des Fuji-san als Japans höchstem Berg.Footnote 34 Der Yatsugatake, eine Gebirgskette in den Japanischen Alpen, hatte nämlich ehemals nur einen Gipfel und war höher als der Fuji; jedenfalls behauptete er das. Um die Sache zu entscheiden, legte man eine Wasserleitung von Gipfel zu Gipfel, und siehe da, das Wasser lief in Richtung Fuji ab. Doch da erhob sich der Fuji von seinem Sitz und versetzte dem Yatsugatake einen Schlag auf den Gipfel, dass er in acht Stücke auseinandersprang.

Es bietet sich an, diese Geschichte mit der Auseinandersetzung um die Erstgeburt zwischen Jakob und Esau zu vergleichen (Gen. 25, 29–34 und 27, 1–40). Wie Esau von Jakob überlistet wird und sein Erstgeburtsrecht verliert, wird der sitzende Fuji vom stehenden Yatsugatake überragt. Allerdings wird die Verkehrung des Naturverhältnisses zwischen den beiden Brüdern geschichtswirksam, indem sich von daher die weitere Geschichte Israels (sowie des Christentums und des Islam) herleitet, während der japanische Mythos die natürlichen Größenverhältnisse wieder richtigstellt. Im biblischen Mythos wird die Natur vom Geist des Schwindlers in den Hintergrund gedrängt, der Geist verschafft sich Macht über die Natur und wird genau dadurch ‚transzendent‘. Im japanischen Mythos siegt der Schwindel dagegen nur temporär, und die Natur kommt zuletzt wieder zu ihrem Recht. In vergleichbarer Weise erscheint in Nō-Spielen und der erzählenden Literatur der Edo-Zeit häufig ein Geist aus der Totenwelt, weil er noch an einer Schuld trägt oder weil ihm Unrecht getan wurde. Im Fortgang der Handlung wird das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten, oft von einem buddhistischen Priester, wieder zurechtgerückt, und der Geist kehrt befriedigt in die Totenwelt zurück.Footnote 35 Der Polytheismus neigt dazu, Abweichungen von den natürlichen Verhältnissen als bloß temporäre Verirrungen anzusehen, die sich langfristig wieder richtigstellen, während der Monotheismus solche Abweichungen als Fortschritt im Prozess der Emanzipation des Menschen von der Natur ansieht, als Transzendierung der Natur oder als „Fortschritt in der Geistigkeit“,Footnote 36 wie Assmann im Anschluss an Freud formuliert. Es versteht sich, dass die Natur im Hintergrund weiterwirkt. In dem Maße, wie sich die Distanz zwischen Natur und Geist vergrößert, steigt der zur ‚Korrektur‘ der Natur erforderliche geistige und/oder physische Kraftaufwand.

4.2 Religion und Gesellschaft

Betroffen werden wir vom Heiligen, weil wir im Bereich seiner Macht leben. Der Fuji-san könnte ausbrechen und die Gegend verwüsten; er tut es nicht, und man ist dankbar. Ohne einen Bach, der die Felder bewässert, könnte man nicht überleben. Den Ahnen verdanken wir unsere Existenz und unser Sosein. Niemand verlangt die Verehrung von Göttern, die uns nicht betreffen; wir verehren unseren Berg und unsere Ahnen. Die Ahnen unseres Nachbarn verehren wir, wenn wir ihn besuchen, und weitere Götter, wenn wir eine Reise machen. Es werden aber auch Opfer gefordert, denn wir nutzen Dinge der Natur, die ursprünglich den Göttern gehören. Den Handel zwischen Göttern und Menschen soll ein Ritual erläutern.Footnote 37

Am Suwa-See in den Japanischen Alpen liegen insgesamt vier Schreine, die Takeminakata-no-kami, dem Gott der umgebenden Berge und Wälder, geweiht sind.Footnote 38 An den Schreinen sind geschälte Baumstämme aufgerichtet, die den heiligen Raum markieren. Alle sechs Jahre werden sie beim Onbashira-Fest, das nicht selten Verletzte oder gar Tote zurücklässt, von den Bergen herabgeholt. An starken Seilen versucht man, die abfahrenden Stämme zu lenken. Im Schreinmuseum wird eine Rolle mit Anweisungen gezeigt, etwa zur Anbringung der Seile oder zur Sitzhaltung.

Man kann das Ritual folgendermaßen interpretieren: Menschen sind von der Natur abhängig, die sie nutzen und verbrauchen. In der Verehrung der entsprechenden Götter repräsentieren sie sich dieses Verhältnis. In Suwa betrifft das besonders den Holzverbrauch für Schiffe, Häuser usw. Der Berg- und Waldgott demonstriert seine Macht dadurch, dass es beim Transport gelegentlich Unfälle gibt. Man braucht also ein Abkommen, um die Gefahr gering zu halten. Die Anweisungen für die Abfahrt stellen einen ‚Vertrag‘ dar, demzufolge es keinen Unfall geben wird, wenn sie befolgt werden. Der Gott erklärt sich also bedingungsweise einverstanden mit dem ‚Raub‘ des Holzes. Stamm und Menschen kommen unten heil an, wenn das Ritual genau befolgt wird, und das Holz kann guten Gewissens verwendet werden. Werden die Regeln dagegen verletzt, so werden die Akteure mit Verletzung oder Tod bestraft, oder vielmehr: sie haben sich als freiwillige Teilnehmer am Ritual für die Gemeinschaft aufgeopfert.Footnote 39 Der Berggott jedenfalls wird befriedigt, und wiederum kann die Gemeinschaft das Holz guten Gewissens nutzen. Im Recht sind immer der Gott, d. h. die Natur, und die Überlebenden.

Für die Kultur der Region hat das Ritual zwei Funktionen. Erstens wird die Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber dem Gott auf die eine oder andere Weise berücksichtigt, durch Befolgung seiner Vorschriften oder durch das (Selbst-)Opfer derjenigen, die beim Holztransport zu Schaden kommen. Die Gemeinschaft der Lebenden bleibt schuldlos – im Gegensatz zu den monotheistischen Religionen, deren Dynamik sich nach Assmann aus einem fundamentalen Schuldgefühl entwickelt.Footnote 40

Zweitens etabliert das Ritual eine Mnemotechnik des richtigen Holztransports, ohne die die Gemeinschaft nicht überlebensfähig wäre. Denn wer nicht weiß, wie schwere Stämme bergabwärts zu transportieren sind, wird entweder beim Transport Schaden erleiden oder ohne Häuser und Schiffe auskommen müssen. Dieses und vergleichbare Rituale überliefern grundlegende kulturelle Techniken. Anders ausgedrückt: Religionen haben zunächst – d. h. in ihrer polytheistischen Ausformung – die ganz simple Funktion, diejenigen Erfahrungen, die eine Gemeinschaft zum Überleben braucht, auf Dauer zu stellen. Die Götter sind bloß der Punkt, an dem die Erfahrungen aufgehängt und in die Zukunft überliefert werden.Footnote 41

Dazu ein Beispiel aus dem alten Griechenland. Athens Stadtgöttin war u. a. Schutzherrin des Webens. Auf der großen Prozession, die während Athenes Hauptfest, den Panathenäen, zum Tempel der Athena Polias zog, wurde auf einem fahrbaren Schiff der Peplos, ein reich besticktes nahtloses Übergewand, als Segel mitgeführt. Auf kostbaren Stickereien war der Kampf der Giganten, besonders insofern Athene darein verwickelt war, dargestellt. Wenn der Zug am Tempel angekommen war, wurde der Peplos dem Standbild der Göttin als neues Gewand umgeworfen.

Der Peplos wurde über acht bis neun Monate von drei Generationen Athenerinnen gewebt und bestickt. Beteiligt waren Mädchen von sieben bis elf Jahren, heiratsfähige Jungfrauen und mindestens eine verheiratete Frau, die Priesterin der Athene.Footnote 42 Indem man die Lehrtätigkeit unter den Schutz der Göttin stellte, sicherte man die Weitergabe der Kunst des Webens von der älteren an die jüngeren Generationen. Die feierliche Prozession und die endliche Übergabe an die Göttin haben hier zunächst die Funktion, der Einübung der Mädchen in die Kunst des Webens eine besondere Feierlichkeit beizulegen, die den lehrenden Müttern ihre Aufgabe erleichtert und die Töchter zu besonderer Sorgfalt antreibt. So wird die Kulturtechnik vor dem Vergessen bewahrt. Die Auffassung des Rituals als Training in Kulturtechniken wird für die Teilnahme von waffentragenden Männern an dem Zug durch die Bemerkung des Aristoteles in der Rhetorik an Alexander gestützt, dass es „den kriegerischen Sinn der Bürger [wecke], wenn sie bewaffnet an den Processionen Theil nehmen.“Footnote 43

In Japan übernimmt der Ise-Schrein ähnliche Funktionen. Seit dem späten 7. Jahrhundert werden die Schreingebäude (mit einer längeren Unterbrechung vom späten 15. bis zum späten 16. Jahrhundert)Footnote 44 alle 20 Jahre nach den überlieferten Plänen unmittelbar neben den alten Gebäuden, die man auf diese Weise direkt vor Augen hat, neu errichtet. Die Hauptfunktion des Schreines liegt darin, die Techniken des Holzbaus und anderer Handwerke zu tradieren.Footnote 45 Bei den Zimmerleuten geschieht dies, ganz wie in Athen, in der Weise, dass bei jedem Bau drei Generationen mitarbeiten: die älteste gibt Anweisungen und beaufsichtigt den Bau; die mittlere führt die Arbeiten aus, die jüngste wird angelernt. Beim Kamu-miso no matsuri, dem ‚Fest der Götterkleider‘, das der Übergabe des Peplos in Athen entspricht, bringen zwei Gruppen von je acht Weberinnen den Göttern glänzende, wie in Athen nahtlose Kleider aus Seide bzw. Hanf dar. Das Fest überliefert jedoch nicht nur die Webtechnik; damit verbunden ist der Anbau von pflanzlichen Rohstoffen und deren Weiterverarbeitung zu Stoffen, verteilt auf vier Provinzen.Footnote 46 Auf diese Weise wird auch die regionale Arbeitsteilung gesichert.

Der Ise-Schrein ist vermutlich die älteste nahezu kontinuierlich betriebene Ausbildungsstätte und mnemotechnische Institution für kulturelles Basiswissen weltweit. Die Emanzipation der monotheistischen Religionen von der Natur hat dagegen zur Folge, dass sie diese elementare Funktion nicht mehr erfüllen. Die Sicherung des praktischen Wissens erfolgt also nicht, oder nur am Rande, über die Religion, sondern teils über ständische Vereinigungen wie Zünfte und Bruderschaften, teils über die politische Macht, die das Wissen ihrerseits institutionell absichert, etwa über städtische Zunftordnungen und seit der Frühen Neuzeit in den Universitäten. Solche Korporationen bleiben zwar in katholischen Gebieten über ihre Festkultur in das religiöse Leben eingebunden, in protestantischen Gebieten lockert sich jedoch der Zusammenhang von Wissen und Religion. Indem praktisches, lebensweltlich bedeutsames Wissen – und mehr noch das theoretische – aus der Religion ausgelagert wird, werden umgekehrt die monotheistischen Religionen aus dem Zusammenhang des Lebens herausgerissen und zur Ideologie, die den Blick auf die Realität trübt, statt ihn zu klären. Polytheistische Religionen bilden dagegen die Vielfalt der Kultur ab, in der sie verankert sind, und stellen sie als reflexive Instanz auf Dauer. Walter Burkert spricht mit Blick auf den altgriechischen Mythos von der „Chance des Polytheismus, vielfältige Wirklichkeit in sich aufzunehmen, ohne Widersprüchen aus dem Weg zu gehen, ohne zu angestrengter Negierung eines Teils der Welt genötigt zu sein“;Footnote 47 Hellmut Brunner hebt als Eigenart des Monotheismus im Gegensatz zum ägyptischen Polytheismus die „gedankliche[] Anstrengung“ hervor, „die alle Erscheinungen der Welt in ihrer Mannigfaltigkeit unter die Einheit zu subsumieren sich bestrebt.“Footnote 48

5 Motoori Norinagas polytheistische ‚Gegenreligion‘

Auf den Import des Buddhismus im 6. Jahrhundert folgten in Japan Auseinandersetzungen zwischen Shintō und Buddhismus. Sie wurden im 8. Jahrhundert friedlich beigelegt, indem die japanischen Götter als Inkarnationen (suijaku) der Buddhas oder Bodhisattvas (honji) gedeutet wurden.Footnote 49 So wird die Gottheit des Fuji-san shintoistisch als Kono-hana-sakuya-hime (‚die wie Blüten herrlich blühende Prinzessin‘) bezeichnet, buddhistisch als Sengen Daimyōjin.Footnote 50 Damit wurde die Übersetzung vollzogen, in der Assmann die Grundlage der Friedfertigkeit des antiken Kosmotheismus sieht.Footnote 51 Die Gleichsetzung der Götter ging mit einer Verbindung der Kulte einher.Footnote 52 Bis zur Edo-Zeit entwickelte sich eine Symbiose, in der buddhistische kaum noch von den einheimischen Riten zu unterscheiden waren. 1614 sicherte der Shōgun die friedfertige Integration der Religionen mit dem Verbot des Christentums. Er begründete dies mit der Bedrohung der Vielheit der „Götter und Buddhas“ und der japanischen Rechtsordnung.Footnote 53 Kant nannte diese Entscheidung, Engelbert Kaempfer folgend, „weislich“.Footnote 54

Im frühen 18. Jahrhundert begann dann mit der ‚Nationalen Schule‘ (Kokugaku) die ideologische Verteidigung der japanischen Tradition gegen chinesische Einflüsse. Wie die deutsche Romantik nach Napoleons Sieg bei Jena und Auerstedt (1806) im Rückgriff auf mittel- und frühneuhochdeutsche Texte eine nationale Identität gegen die französische Übermacht schaffen wollte, so edierten und interpretierten die Philologen der Kokugaku schon mehrere Jahrzehnte früher die alten Quellen zur japanischen Mythologie und Geschichte, insbesondere das Kojiki, um, wie ihr bedeutendster Vertreter Motoori Norinaga schreibt, „chinesische Irrlehre[n]“Footnote 55 zurückzuweisen. Seine Begründung für die Überlegenheit des ‚japanischen Geistes‘ weist erstaunliche Parallelen zur Gründungsschrift des deutschen Nationalismus auf, Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808).

5.1 Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808) und Norinagas Naobi no mitama (‚Geist der Erneuerung‘, 1771)

FichteFootnote 56 begründet die Überlegenheit des deutschen Volkes gegenüber anderen zunächst damit, dass es sich unter Bewahrung „der im alten Asien aufbewahrten wahren Religion [gemeint ist das Christentum]Footnote 57 aus sich selbst eine neue Zeit, im Gegensatze des untergegangenen Alterthums“ (RdN, 312), entwickelt habe. Der wesentliche Unterschied zwischen den deutschen und anderen germanischen Völkern – Fichte meint hier hauptsächlich Frankreich, das Deutschland zur Zeit der Reden besetzt hielt – liege nun darin, dass die Deutschen ihren Wohnsitz beibehalten und ihre Sprache kontinuierlich weiterentwickelt hätten, so dass das Deutsche jederzeit eine „aus wirklichem Leben sich fortentwickelnde[] Ursprache“ (RdN, 328) geblieben sei. Daraus und aus einer nicht-arbiträren Theorie der Sprache ergibt sich dann, dass die Bedeutung der Worte, auch solcher mit übersinnlicher Bedeutung wie Metaphern oder Ideen, im Deutschen immer zu einer „klare[n] Erkenntnis“ (RdN, 317) habe führen können. Vermittels der historischen und systematischen Kontinuität der Sprache zwischen den Anfängen und der Gegenwart einerseits, den sinnlichen, in der Natur wurzelnden Worten und abstrakten Begriffen andererseits, habe das Deutsche „die Kraft, unmittelbar einzugreifen in das Leben und dasselbe anzuregen.“ (RdN, 319) Eine solche Sprache bestimme den Menschen so weit, dass „Nicht eigentlich […] der Mensch [redet], sondern in ihm redet die menschliche Natur“ (RdN, 314f.). Dass Wort und Sache im Deutschen ganz selbstverständlich übereinstimmten, habe allerdings den Nachteil, dass die Deutschen übersetzte Begriffe aus anderen Sprachen wie etwa ‚Humanität‘ als ‚hohe Werte‘ überschätzten, obwohl die deutsche Entsprechung ‚Menschlichkeit‘ ihnen völlig geläufig sei (RdN, 322).

Bei den ‚neulateinischen‘ Völkern dagegen, die eine ausgebildete Sprache übernommen hätten, sei nicht nur die historische, sondern v. a. die systematische Kontinuität zwischen sinnlichen und abstrakten Begriffen „abgebrochen“ (RdN, 321); auf der Oberfläche zeigten ihre Sprachen zwar den „Schein eines Lebens“ (RdN, 321), die Ebene der Metaphern und Ideen sei aber „todt“ (RdN, 319). Diese Sprachen seien „abgeschnitten von der lebendigen Wurzel“ (RdN, 321), weil sich mit sinnbildlichen Ausdrücken keine Bilder aus dem konkreten Leben verbänden. Den Sinn der Worte müssten die Sprecher sich daher erklären lassen, statt ihn aus dem lebendigen Zusammenhang der Sprache selbst zu entwickeln. Dadurch entstehe eine „Unverständlichkeit“, die zur Folge habe, dass „die neulateinischen Sprachen […] eine Muttersprache gar nicht haben.“ (RdN, 324) Das Resultat sei, dass die Hörer verwirrt und „endlich Laster und Tugend […] durcheinander“ (RdN, 324) gerührt würden.

Die deutsche Sprache bildet als einzige ‚Ursprache‘ nach Fichte die notwendige Bedingung eines auf Wahrheit und Moralität ausgerichteten intellektuellen Lebens nicht nur Deutschlands, sondern auch aller anderen Länder. Gelinge es dem „Ausland“ – gemeint ist wiederum Frankreich, das Deutschland besetzt hielt –, sein, nämlich Frankreichs „Mutterland“ Deutschland, zu unterwerfen und sich anzugliedern, so „zerschneide[]“ es

die letzte Ader […], durch die es bisher noch zusammenhing mit der Natur und dem Leben […]; sodann wäre der bisher noch stätig fortgegangene Fluss der Bildung unseres Geschlechts in der That beschlossen, und die Barbarei müsste wieder beginnen und ohne Rettung fortschreiten, so lange, bis wir insgesammt wieder in Höhlen lebten, wie die wilden Thiere […]. (RdN, 342)

Nun zu Norinaga: Obwohl das Kojiki mit chinesischen Zeichen geschrieben wurde, will er daraus eine japanische ‚Ursprache‘ rekonstruieren. Denn, wie Klaus Antoni zusammenfasst: „Only the Japanese words contain truth, not the Chinese Characters“.Footnote 58 Weiterhin sei Japan „vor allen anderen Ländern […] ausgezeichnet“ (NnM, 193), weil es das Geburtsland der Sonnengöttin Amaterasu sei, deren Macht auch alle anderen Länder erführen (NnM, 193). Nur hier bestehe eine ununterbrochene Tradition des richtigen Dienstes an den Göttern und damit auch der richtigen Herrschaft. Der chinesische Buddhismus und Konfuzianismus sei dagegen ein „Blendwerk, um die Menschen für sich zu gewinnen und sie zu beherrschen“ (NnM, 197). Sie klängen zwar „sehr tiefsinnig“, bei genauerer Betrachtung erwiesen sie sich aber als „äusserst oberflächliche Lehren“ (NnM, 206). Chinesische Begriffe wie Yin und Yang seien „leere Theorie“ (NnM, 205), während die japanische Entsprechung kami (‚Gott‘) ganz konkret die Ahnen des jetzigen Tennō bezeichne (NnM, 205). Japan sei von Beginn an „begrifflos“ (NnM, 198, vgl. 195 u. Anm. 8) den Weg der Götter gegangen und mache keine „unnütze Worte“ (NnM, 198). Es brauche keine Auseinandersetzungen um chinesische ‚Wege‘, „weil der Tennō die Absichten der Sonnengöttin zu den seinigen macht und ihr Werk weiterführt.“ (NnM, 203, vgl. 206) Darin gründe seine Legitimität und die Pflicht der Untertanen zum Gehorsam. Durch die Übernahme des ‚chinesischen Weges‘ durch Japan seien die Sitten, „die bis dahin gut und rein gewesen waren, gänzlich verdorben“ (NnM, 199) worden. In China seien die Zustände sogar „von denen bei den Tieren in nichts [zu] unterscheiden.“ (NnM, 204)

Eine Gegenüberstellung der Thesen ergibt Folgendes:

Fichte

Norinaga

Gründe für die Überlegenheit Deutschlands bzw. Japans

Ursprünglichkeit: Das deutsche Volk hat seinen Ursprung in sich selbst und seitdem eine kontinuierliche Geschichte; es ist daher das einzige autonome Land, von dem alle anderen abhängig sind.

Japan ist als Geburtsland der Sonnengöttin das Land des Ursprungs. Da alle anderen Länder von der Sonnengöttin abhängig sind, sind sie auch von Japan abhängig.

Sprache und Wahrheit: Vermittels der Sprache haben die Deutschen eine ursprüngliche Beziehung zur Wahrheit.

Nur die japanischen Worte enthalten Wahrheit, nicht die chinesischen Zeichen.

Kontinuität: Die Kontinuität der ‚Ur-Sprache‘ garantiert eine lebendige Wechselwirkung zwischen Zeichen und Bezeichnetem.

Norinaga will die ursprüngliche Sprache (und damit die Kontinuität der Sprache) wieder herstellen.

Mensch und Sprache: Die Menschen werden mehr durch die auf die Sache orientierte Sprache bestimmt als umgekehrt.

Japan ging den Weg der Götter „begrifflos“, d. h. man stellte die Begriffe nicht über die Sache.

Gründe für die Unterlegenheit der neulateinischen Völker bzw. Chinas

Arbitrarität: In den neulateinischen Sprachen ist die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem arbiträr; die Selbstverständlichkeit des Bezugs von Wort und Sache ist gestört.

Die Begriffe der chinesischen Weisen sind „leere Theorie“ bzw. „unnütze Worte“ ohne Bezug auf die Sache.

Sprache und Macht: Die neulateinischen, z. B. französischen Begriffe werden als ideologische Stütze der Macht benutzt.

Der chinesische Buddhismus und Konfuzianismus sind „Blendwerk, um die Menschen […] zu beherrschen“.

Sprache und Begrifflichkeit: Auf der Oberfläche zeigt sich ein „Schein von Leben“, in der Tiefe ist die Sprache aber tot.

Die chinesischen Begriffe scheinen tief zu sein, sind aber tatsächlich oberflächlich.

Schlussfolgerung

Barbarei: Der Untergang der deutschen Sprache und Kultur bedeutet den Untergang aller Kultur und den Rückfall ins tierische Leben.

In China sind die Zustände sogar „von denen bei den Tieren in nichts [zu] unterscheiden“.

Eine wesentliche Differenz besteht in der Begründung der Ursprünglichkeit der Nation: Fichte fundiert sie in der Selbstbegründung, dem ersten Grundsatz auch seiner Subjektphilosophie, Norinaga in der genealogischen Linie von Amaterasu zu den Tennōs bzw. Japan insgesamt; ansonsten sind die Übereinstimmungen zwischen Fichte und Norinaga frappierend. Da man eine Kenntnis Norinagas in Deutschland um 1800 wohl ausschließen kann, bleibt als Erklärung nur, dass die Gründe für die Ausbildung nationalistischen Denkens dieselben sind. Sie liegen wohl v. a. in dem Wunsch nach Selbstvergewisserung, der dann auftritt, wenn die Sicherheit des (individuellen oder nationalen) Selbst durch Verschiebungen in den kulturellen Grundlagen des Lebens bedroht wird. In Deutschland war das die Niederlage gegenüber Napoleon, in Japan wohl die Erhebung des Buddhismus zur Staatsreligion.Footnote 59 Um die Grundlagen erneut zu festigen, knüpfen Fichte und Norinaga an einen (fiktiven) Ursprung des Selbst an; der Horizont wird verengt und das Selbst bloß ideologisch gefestigt, anstatt es durch eine Ausweitung der Perspektive, durch die Suche nach gemeinsamen Grundlagen Japans und Chinas bzw. Deutschlands und Frankreichs, zu erweitern und das Selbst realistisch und dauerhaft zu festigen.Footnote 60

5.2 Der ‚Himmelsbefehl‘, Schillers Wallenstein und Corneilles Cinna

Das Hauptübel des ‚chinesischen Weges‘ sieht Norinaga in der Lehre vom ‚Himmelsbefehl‘, dem göttlichen, guten und einheitlichen, gewissermaßen monotheistischen Willen, dem die Menschen unterworfen seien. Die Lehre vom ‚Befehl‘ oder ‚Mandat des Himmels‘ geht auf Menzius (etwa 372–289 v. Chr.) zurück, der den in China nicht seltenen Dynastienwechsel durch Usurpation als „Verschiebung des himmlischen Mandats“Footnote 61 deutete. Die später weiterentwickelte Theorie legitimierte bis ins 20. Jahrhundert hinein die Machtwechsel. Nach Norinaga erzeugt der Himmelsbefehl nun das politische Problem, dass er interpretiert werden muss. Die daraus resultierenden Streitfragen führten zur Entzweiung des Reiches bis zum Umsturz und anschließender Legitimation der Rebellen als Gründer neuer Herrscherdynastien (vgl. NnM, 202). Wird der dynastische Wechsel aber einmal legitimiert, so hängt die Akzeptanz der Herrscher an interessegeleiteten Interpretationen der Untertanen und Umsturz folgt auf Umsturz. Legitim ist daher nach Norinaga einzig die erste Dynastie, in Japan die des Tennōs.

In Schillers Wallensteins Tod (1800) wird das Problem der Usurpation im ersten Akt erörtert. Wallenstein steht vor der Wahl, ob er mit den Schweden gegen den Kaiser, seinen Herrn rebelliert, wodurch er selbst die Chance erhielte, Kaiser zu werden, oder ihm die Treue hält, obwohl er dadurch Gefahr liefe, seine Stellung zu verlieren. Seine Schwägerin Gräfin Terzky schaltet sich mit den Worten ein:Verse

Verse Entworfen bloß, ist’s ein gemeiner Frevel, Vollführt, ist’s ein unsterblich Unternehmen; Und wenn es glückt, so ist es auch verziehn, Denn aller Ausgang ist ein Gottes-Urtel.Footnote

Friedrich Schiller: Wallensteins Tod. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert. München 1958, Bd. 2, S. 407–547, hier S. 424.

Die Deutung der erfolgreichen Rebellion als Gottesurteil durch Terzky entspricht dem chinesischen ‚Mandat des Himmels‘. Nun wird Gräfin Terzky als Intrigantin geschildert und ihre Rede als illegitim; Schiller übernimmt hier die Position Norinagas. In Corneilles Cinna (1643) dagegen wird die Rebellion durch den Erfolg gerechtfertigt: Kaiser Augustus, zuvor Octavian genannt, war im Bürgerkrieg an die Macht gekommen und hat nun ein Komplott aufgedeckt. Die Rebellin Emilia rechtfertigt sich damit, dass er während des Bürgerkriegs ihren Vater ermordet habe. Livia, die Gattin des Augustus, verteidigt ihn daraufhin:Verse

Verse Sein [des Vaters von Emilia] Tod, der dich noch reitzt zur Rach und Ungeduld, War nur Octavs Vergehn, war nicht des Kaysers Schuld. Die Staatsverbrechen selbst, die man um Kronen übet, Vergiebt der Himmel uns, indem er diese giebet; Es macht der heilge Rang, der auf Augusten ruht, Gerecht, was er gethan, erlaubt, was er noch thut. Wer dahin kömmt, den kann man nicht mehr sträflich schätzen, Er thu auch, was er will, er ist nicht zu verletzen. In der Monarchen Hand, steht unser Gut und Blut, Indem ihr Leben nie auf unsrer Macht beruht.Footnote

Pierre Corneille: Cinna oder die Gnade des Augustus, ein Trauerspiel. In: Neues Theater von Wien. Fünfter Theil. o.O. (Wien) 1770, S. 1–86, hier S. 79, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:384-uba005700-9 (13. August 2023).

In der Schlussszene stellt Augustus den Frieden wieder her, indem er die Rebellen begnadigt. Corneille benutzt das ‚Mandat des Himmels‘ also ganz im Sinne des Menzius. Macht erzeugt Legitimität, während bei Schiller Macht ohne Legitimität Unrecht bleibt. Ihre Quelle wird allerdings nicht geklärt. Fichte und Norinaga legen sich dagegen fest: Die Legitimation der Macht liegt, ebenso wie die Quelle der in der Sprache erscheinenden Wahrheit, in ihrem Ursprung. Brüche in der historischen Überlieferung delegitimieren den Staat und korrumpieren das Streben nach Wahrheit.

5.3 Der Himmelsbefehl, die Theodizee und die Hermeneutik

Der Himmelsbefehl erzeugt darüber hinaus das Problem der Theodizee. Jede Religion oder Philosophie, die einen guten und gerechten Gott annimmt, steht vor der Frage, wie Gott die moralischen und physischen Übel in dieser Welt zulassen könne, die der Einzelne nicht zu verantworten hat, aber gleichwohl tragen muss; also vor Hiobs Frage, warum die Guten nicht zuverlässig belohnt und die Bösen gestraft werden, sondern oft genug das Gegenteil eintritt. Leibniz löst das Problem in der Theodizee (1710) mit der theoretischen Feststellung, dass das Gute in Freiheit nur vor dem Hintergrund des Bösen und des Übels möglich ist; Menzius mit der realistischeren, dass die Übel, sofern sie durch schlechte Herrschaft verursacht sind, durch periodischen Sturz der Machthaber beseitigt werden können. Norinaga dagegen durchschlägt den gordischen Knoten gut polytheistisch: Aufgrund der Vielheit der Götter besteht das Problem nicht, denn neben den guten gibt es auch böse kami (Götter), die den guten Menschen schaden und den bösen nützen können.Footnote 64 Den Übeln lässt sich weder in dieser noch in einer anderen Welt ausweichen; ihre Existenz ist unbestreitbar. Die Welt insgesamt ist nach Norinaga unvernünftig, so dass die menschliche Vernunft keinen Anhalt in ihr findet (vgl. NnM, 202). Die Götter sind daher nicht nach der Vernunft zu beurteilen, sondern man soll sich „nur vor ihrem Zorn hüten und ihnen aus tiefstem Herzen Verehrung zollen.“ (NnM, 209)

Die Vielheit und WidersprüchlichkeitFootnote 65 der Götter führt hier zur Ausschaltung aller hermeneutischen Fragen. Bekanntlich entstand die Hermeneutik, als Homer, später auch das Alte und das Neue Testament, aufgrund des historischen Abstands unverständlich wurden.Footnote 66 Es ging darum, Widersprüche aufzulösen, die einem klassischen Autor wie Homer nicht unterlaufen sein konnten, viel weniger einem allwissenden Gott. Klassische Texte und eine von einem guten Schöpfergott geschaffene Welt sind per definitionem nicht widersprüchlich. Der Leser muss die Widersprüche also sich selbst zurechnen und interpretierend an ihrer Auflösung arbeiten. Die Hermeneutik, und insbesondere die theologische, wäre demnach eine Technik, die Widersprüche in Texten und in der Wirklichkeit anhand verschiedener Verfahren zu eliminieren,Footnote 67 d. h. den ursprünglichen Text bzw. die Empirie durch eine Theorie, ein System zu ersetzen. Mit Nietzsche ließe sich sagen, dass man „Hinterwelten“Footnote 68 konstruiert, mit Voltaire, dass die Theologie, die Geschichtsphilosophie, Leibniz und Menzius so lange an der Welt heruminterpretieren, bis „alles gut“Footnote 69 ist. Da die Widersprüche aber nicht wirklich, sondern nur in der Theorie beseitigt werden, kochen sie unter der Oberfläche weiter und führen im Falle Chinas, so die Diagnose Norinagas, immer wieder zu Revolutionen. Er plädiert dagegen für eine phänomenologische Sicht auf die Welt, die die Dinge in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit sichtbar werden lässt und so in den Göttern repräsentiert.

Dennoch tritt an die Stelle der von der Hermeneutik im Rahmen des chinesischen und des monotheistischen Weltbildes produzierten Streitfragen bei Norinaga Eindeutigkeit, die sich konkret in Folgsamkeit gegenüber den ‚Oberen‘ umsetzt:

Die Untertanen als Untertanen mögen den Weg, nach dem der Tenno das Land regiert, zu ihrer eigenen Sache machen.

Denn wenn das Untere in allem und jedem nur dem Willen des Oberen folgt, entspricht es dem Wege. Auch ganz abgesehen von dem Wege der Kami, ist es nicht überhaupt Ungehorsam gegen den Vorgesetzten, eine Eigenbrötelei, etwas anderes zu tun, als man gelehrt worden ist? (NnM, 206)

Explizit verwirft Norinaga den Konfuzianismus, implizit knüpft er aber an die konfuzianische Tugend der Loyalität an.Footnote 70 Die Individuen sollen ihre Sicht auf die Welt, ihre Reflexion und ihr Urteil aussetzen und unmittelbar an dem ihnen zugewiesenen Platz in der Welt stehen, ohne sich hermeneutisch, durch Distanznahme, einen Freiheitsraum zu schaffen. Der Hermeneutik ist allerdings nicht zu entkommen, wie Norinaga selbst demonstriert, wenn er mit den Methoden der Philologie nach einem verbindlichen Ursprung sucht.

Der Ausschaltung der Hermeneutik entspricht die Tendenz zur Ausschaltung der Mythologie als einer Vielfalt von Geschichten, die der Verwandlung durch poetische Aneignung offenstehen. Hans Blumenberg stellt den polytheistischen Mythos im Anschluss an Nietzsche und Burckhardt nicht nur dem Monotheismus gegenüber, sondern mehr noch dem polytheistischen Ritual.Footnote 71 Dieses knüpfe an den ursprünglichen Schrecken an und suche ihn im Zwang zur Wiederholung zu bannen. Der Mythos setze dagegen erst ein, wenn der Sinn des Rituals vergessen zu werden drohe und durch Geschichten festgehalten werden solle. Entgegen dem ursprünglichen Zweck verselbständigten sie sich jedoch und entlasteten, je mehr sie im Verlauf der Zeit verwandelt und neu interpretiert würden, umso mehr vom ursprünglichen Schrecken. „Absolute Anfänge machen uns sprachlos im genauen Sinne des Wortes“;Footnote 72 der Mythos, das Erzählen, befreit dagegen vom Schrecken, indem er immer schon sekundär gegenüber dem Ursprung ist.

Am modernen japanischen Polytheismus fällt nun auf, dass er im Sinne Blumenbergs arm an Mythen ist. Trotz der Überfülle an Göttern – sprichwörtlich sind es acht Millionen – wird kaum von ihnen erzählt. Bekannt sind im Wesentlichen nur die Geschichten der Götter des Anfangs bis herab zum Tennō, von denen zu Beginn des Kojiki erzählt wird, historische Personen, die später vergöttlicht wurden wie etwa Toyotomi Hideyoshi oder auch Motoori Norinaga, dem 1995 ein Schrein in seiner Heimatstadt Matsusaka gewidmet wurde,Footnote 73 sowie die Ahnen des je eigenen Hauses. Lebendige Mythen wie der oben erzählte vom Yatsugatake sind eher selten, den Mythos des Gottes, den man im nächstgelegenen Schrein einige Male im Jahr verehrt, kennt man in der Regel nicht. Zwischen den für ganz Japan zuständigen Göttern des Anfangs und den Ahnen der Familien liegt ein Abgrund, in dem die meisten der acht Millionen Götter geschichtenlos versunken sind.

Das mag zum einen am Buddhismus liegen, der im japanischen Altertum und Mittelalter den Shintō integrierte und damit seine Mythen zu weiten Teilen verdrängte;Footnote 74 es liegt aber wohl auch an Motoori Norinaga und der Kokugaku, denen die vorgeblich ‚ursprünglichsten‘ Mythen des Kojiki vornehmlich dazu dienten, das Kaiserhaus zu legitimieren. Im Zentrum der Götterlehre Norinagas, mehr noch des späteren Staatsshintō, steht die genealogische Linie von Amaterasu über Jimmu-Tennō und die historischen Kaiser bis zum gegenwärtigen Tennō, der im Zentrum des Kultes steht und den Fluchtpunkt der Unterwerfung unter die „Oberen“ bildet. Seit die Mythen der lokalen Götter kaum noch erinnert werden, spätestens aber bei dem von Norinaga mitgeprägten Staatsshintō, handelt es sich eher um den „Urtypus des Herrscherkults“,Footnote 75 der dem aus einer genealogischen Linie hervorgehenden Gottkönig gilt, als um einen eigentlichen Polytheismus. Insofern besonders der jeweilige Tennō verehrt wird, könnte man auch von einem Henotheismus sprechen,Footnote 76 der die Verehrung anderer Götter zwar nirgendwo ausschließt, sie sogar für die Erklärung des Bösen voraussetzt, an Erzählungen jenseits dieser Genealogie aber nur am Rande interessiert ist.

Die Hartnäckigkeit, mit der Norinaga auf dem Ursprung als einziger Quelle der Legitimität besteht und seine Umdeutung der Mythen, die ihre hermeneutische Variation ausschließt, machen „sprachlos“ im Sinne Blumenbergs: Die Befreiung vom Bann des Ursprungs schließt er aus. So bleibt den Menschen trotz, oder vielmehr wegen der Widersprüchlichkeit der Götter nur übrig, „in allem und jedem nur dem Willen des Oberen“ zu folgen.

In seinem Verhältnis zu China gehört der Shintō in Norinagas Rekonstruktion jedenfalls zum Typus von Assmanns ‚Gegenreligionen‘, der

alles, was ihm vorausgeht und was außerhalb seiner liegt, als ‚Heidentum‘ ausgrenzt. Gegenreligionen fungieren nicht als Medium interkultureller Übersetzung; ganz im Gegenteil wirken sie als ein Medium interkultureller Verfremdung. (MdÄ 20)

Zum ‚Heidentum‘ gehören hier chinesischer Buddhismus, Konfuzianismus und Christentum, während der „Geist des wahren Weges“ (NnM 205) allein für Japan beansprucht wird.

Motoori Norinaga fand einen relativ toleranten Polytheismus im Sinne Humes vor und rekonstruierte bzw. entwarf eine Theokratie im Sinne der frühen Völker Rousseaus. Sein Entwurf richtete sich gegen den chinesischen Buddhismus und Konfuzianismus, wie sich die römischen Verfolgungen gegen das Christentum wandten, weil sie die Einheit des Staates gefährdeten. In der Meiji-Zeit, als es auf die Sammlung der Kräfte gegen den europäischen Kolonialismus ankam, wurde der Entwurf Norinagas und der Kokugaku-Gelehrten der neuen bürgerlichen Verfassung nach preußischem Vorbild in den ersten Artikeln vorgeordnet. Dort heißt es:

Der japanische Staat wird für ewige Zeiten ununterbrochen von Kaisern regiert und beherrscht. […] Die Person des Kaisers ist heilig und unverletzlich. […] Der Kaiser ist das Oberhaupt des Staates. Er ist der Inhaber der Staatsgewalt und übt dieselbe nach den Bestimmungen der gegenwärtigen Verfassungsurkunde aus.Footnote 77

6 Schlussüberlegungen

Im Vorangegangenen sollte deutlich geworden sein, dass eine direkte Zuordnung von Mono- bzw. Polytheismus zu religiöser Gewalt nicht möglich ist. Schon die beiden Begriffe bilden keinen klaren Gegensatz, sondern ein Kontinuum des Übergangs, wie die Umdeutung des japanischen Polytheismus zu einem Henotheismus bzw. zu einem Herrscherkult durch Norinaga und den Staatsshintō einerseits, die Abstufung der monotheistischen Religionen von strengen Formen des Judentums und des Islam über die christliche Trinität bis zum Heiligenkult des Katholizismus, der in der Praxis nicht selten in den Polytheismus übergeht, andererseits zeigen.Footnote 78 Katholische Prozessionen für Lokalheilige, wie sie etwa noch in Sizilien lebendig sind, altgriechische Umzüge wie die Panathenäen oder japanische Schreinfeste (matsuri) können nicht ohne Weiteres nationalistisch umgedeutet werden, weil sie sich eben auf lokale Götter bzw. Heilige beziehen. Die religiöse Unterstützung nationalistischen Gedankenguts setzt daher die Ablösung von lokal verwurzelten, praxisbezogenen Religionen voraus. Die Vorstellung von den Göttern bzw. Heiligen ist hier zu konkret, um einen Geltungsanspruch über ihr angestammtes Gebiet zu erheben und für die Gegenüberstellung von Nationen brauchbar zu sein. Das schließt aber die Uminterpretation keineswegs aus, wie zu sehen war.

Den monotheistischen Religionen lässt sich eine intrinsische Gewaltbereitschaft ebenfalls nicht eindeutig zuordnen; sie beanspruchen allerdings die überregionale Geltung und weisen den Abstraktionsgrad schon von sich aus auf, die für eine nationalistische Interpretation notwendig zu sein scheinen. Die Uminterpretation erfolgt allerdings aus politischen, nicht religiösen Motiven, um Konflikte in oder zwischen Gesellschaften auf einem Umweg zu regulieren. Religionen werden geboten, erlaubt, verboten, modifiziert, neu erfunden und abgeschafft, um die Welt unter veränderten Umständen anders zu interpretieren. Das gilt etwa für die Uminterpretation eines weltoffenen Christentums, wie es schon im Spätmittelalter von Boccaccio und Nikolaus von KuesFootnote 79 und später von der Aufklärung vertreten wurde – man denke an Lessings, von Boccaccio übernommene Ringparabel – in ein Fundament für Antisemitismus und Nationalismus durch die Reformation,Footnote 80 durch Fichte und die Spätromantik. Fichtes Nationalismus ähnelte, wie gesehen, dem auf polytheistischer Grundlage von Norinaga entwickelten zum Verwechseln. Umgekehrt können Religionen in Abhängigkeit von den politischen Rahmenbedingungen aber auch pazifizierend wirken, wie etwa die Verbindung von Buddhismus und Shintō im japanischen Mittelalter und der Edo-Zeit.

Religionen stehen politischen Interpretationen offen. Auch die Gegensätze, von denen die aktuellen religionspolitischen Debatten bestimmt werden, sind wohl eher aus politischen Interessen erzeugt worden, als dass sie den beteiligten Religionen eigentümlich wären. Der interpretatorische Spielraum, den alle Religionen bieten, sollte statt für die Verfestigung von Gegensätzen für eine pazifizierende Hermeneutik genutzt werden, die im Sinne einer erweiterten Version von Assmanns ‚Kosmotheismus‘ auf die Vergleichbarkeit (nicht die Gleichheit) der Kulturen hinarbeitet.