Morgenandacht | 13.05.2024

Zuerst geht es um den Menschen – 75 Jahre Grundgesetz

Morgenandacht, 13.05.2024

Reinhard Kardinal Marx, München

Beitrag anhören

"Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen." So markant begann der erste Artikel im Entwurf für eine Verfassung, die 1948 vom Verfassungskonvent auf der Herreninsel im Chiemsee erarbeitet wurde. Auf dieser idyllisch gelegenen Insel arbeiteten seinerzeit gut zwei Wochen lang, auf Einladung des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten, Politiker und Experten an der Frage, was zentral wäre für eine Verfassung für Deutschland.

Es ist wichtig, sich noch einmal vor Augen zu führen, wie die Zeit damals war: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war Deutschland in weiten Teilen zerstört, viele Menschen erlebten große Not, Arbeitslosigkeit, Flucht, die Gesellschaft war gespalten und moralisch zerrüttet, es gab Schuld und Versagen. Deutschland war in die vier Besatzungszonen der Siegermächte aufgeteilt und die Konflikte zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion waren deutlich und führten schließlich zu einer Teilung Deutschlands.

Auf diesem Hintergrund mag sehr verständlich sein, warum der Entwurf von Herrenchiemsee unterstreicht, dass der Staat im Dienst der Menschen steht und somit im Grunde die Staatsform schon vorgegeben ist als Demokratie, also als Herrschaft des Volkes.

Auch wenn nicht jeder Satz aus dem Entwurf von Herrenchiemsee ins Grundgesetz übernommen wurde, so war dieser Entwurf eine zentrale Grundlage, als am 1. September 1948 die Parlamentarische Versammlung in Bonn zusammentrat, um im Auftrag der westlichen Siegermächte eine Verfassung für die Westzone zu erarbeiten. Vorgegeben waren einige zentrale Grundsätze: eine demokratische Ordnung, ein föderales System, Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz. Der Entwurf von Herrenchiemsee enthielt viele Gedanken und sogar Formulierungen, die in das Grundgesetz, das am 23. Mai 1949 in Bonn proklamiert wurde, eingingen. Heute in zehn Tagen feiern wir also den 75. Geburtstag unseres Grundgesetzes und – wie jeder Geburtstag – ist auch das ein Anlass, zurückzublicken, die Gegenwart kritisch unter die Lupe zu nehmen und nach vorne zu schauen.

Sowohl der Verfassungskonvent im Schloss Herrenchiemsee als auch der Parlamentarische Rat im Museum König in Bonn sind gut dokumentiert und erforscht. Doch auch wenn es äußerst entscheidende Versammlungen für die Geschichte der Bundesrepublik waren, ist in der Breite der Bevölkerung eher wenig darüber bekannt. Vielleicht ist der Geburtstag des Grundgesetzes für viele tatsächlich einmal ein willkommener Anlass, nicht nur das Grundgesetz selbst noch einmal in die Hand zu nehmen, sondern auch mehr dazu zu lesen und vor allem miteinander darüber zu reden.

An einige besonders bedeutsame Punkte will ich erinnern, die auch heute und für die Zukunft wichtig sind: Die Erarbeitung des Grundgesetzes stand unter dem Vorzeichen einer eindeutigen Abkehr vom menschenverachtenden Nationalsozialismus. So sollte es nie mehr werden! Und dieser Grundsatz ist bis heute ein markanter Teil unserer deutschen Identität in zwei Worten: "Nie wieder!" Das ist und bleibt eine Verpflichtung, die wir alle immer wieder gemeinsam einlösen müssen und die sich in der Realität politischer und gesellschaftlicher Verantwortung als leitend erweisen muss. Und daran halten wir gerade angesichts der aktuellen demokratiefeindlichen Entwicklungen fest!

Der tiefste Grund für das "Nie wieder" ist die unbedingte Zustimmung, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, dass sie zu schützen und zu bewahren ist. Immer und unter allen Umständen. Zuerst geht es um den Menschen, dann um den Staat!

Über den Autor Reinhard Kardinal Marx

  • geboren 1953 in Geseke/Westfalen
  • 1979 Priesterweihe
  • 1996 Bischofsweihe
  • 2001 – 2008 Bischof von Trier
  • seit 2008 Erzbischof von München/Freising
  • 2010 Ernennung zum Kardinal
  • 2014 – 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

Kardinal Marx ist Vorsitzender der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz.