Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung: Detail

Heute vor 50 Jahren wurde Helmut Schmidt zum Bundeskanzler gewählt

Kontinuität und Konzentration – „Nicht so schlecht gemacht“

Autor/in:Meik Woyke
Foto von Helmut Schmidt im Bundestag

Liebe Leser*innen,

Sie wundern sich vielleicht: ein  Schmidtletter am Donnerstagvormittag? Bedeutende Ereignisse erfordern besondere Maßnahmen. Heute vor 50 Jahren – fast auf die Minute genau – wurde Helmut Schmidt von den Abgeordneten des Deutschen Bundestags zum Kanzler gewählt. Unser Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer Dr. Meik Woyke blickt zurück auf das historische Ereignis und würdigt die innen- und außenpolitischen Themen, die Schmidt als Regierungschef der sozial-liberalen Koalition prägte.

Wir wünschen Ihnen schon heute ein sonniges Pfingstwochenende und die entsprechende Muße für eine vergnügliche Lektüre!
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


Um 10:01 Uhr begann am 16. Mai 1974 die Bundestagssitzung: Die Parlamentspräsidentin Annemarie Renger (SPD) gratulierte zwei Abgeordneten zum Geburtstag und erläuterte sodann das bevorstehende Wahlverfahren nach Artikel 63 Grundgesetz und der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags. Nach einer kurzen Sitzungsunterbrechung zur Stimmenauszählung von 10:50 bis 11:14 Uhr stand das Ergebnis der geheimen Wahl fest: Helmut Schmidt war mit 267 Stimmen bei 225 Gegenstimmen zum fünften deutschen Bundeskanzler gewählt worden. Am Nachmittag erfolgte seine Vereidigung für das neue Amt.

Der Rücktritt von Willy Brandt (SPD) als Bundeskanzler lag zehn Tage zurück, und alles war auf Schmidt als Amtsnachfolger zugelaufen. Als Sieger gegenüber Brandt fühlte er sich nicht, wie Schmidt einem vertrauten Hauptstadt-Journalisten in Bonn verriet, gleichwohl sei er als Bundeskanzler am Ziel seiner Karriere angekommen. Für die Kanzlerschaft empfahlen ihn die Führungserfahrung, die er als Senator in Hamburg (1961–1965) und noch viel mehr als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion während der Großen Koalition (1966/67–1969) gesammelt hatte, und seine im Verteidigungs-, Wirtschafts- und Finanzministerium in der ersten Phase der sozial-liberalen Koalition ausgeprägten Qualifikationen und Kompetenzen.

Mehr Realismus und Nüchternheit

Am 17. Mai 1974 stellte Helmut Schmidt seine Regierungserklärung unter das Motto „Kontinuität und Konzentration“ und kündigte an, die Regierungspolitik gemeinsam mit der FDP als Koalitionspartnerin fortsetzen zu wollen. Angesichts der globalen ökonomischen Probleme seien jedoch Realismus und Nüchternheit stärker als bisher gefragt. Innenpolitisch konzentrierte sich Schmidt besonders auf eine sozial gerechte Wirtschafts- und Steuerpolitik sowie auf die Sicherung der Energieversorgung; außenpolitisch stellte er sich in die Tradition der Neuen Ostpolitik und forderte zur Gesundung der Weltwirtschaft eine international abgestimmte Stabilitätspolitik.

Bei den Bundestagswahlen 1976 und 1980 wurde Schmidt zuerst von Helmut Kohl (CDU), dann von Franz Josef Strauß (CSU) herausgefordert. Gegen beide konnte er sich mit jeweils knappem Vorsprung durchsetzen, nach teilweise sehr pointierten Wahlkampfauseinandersetzungen. Dem außen- wie innenpolitischen Kurs, den Schmidt in seiner ersten Regierungserklärung abgesteckt hatte, blieb er während seiner gesamten Amtszeit als Bundeskanzler treu.

Neue Akzente in der Außenpolitik

Für Schmidts Europa- und darüber hinaus reichende Außenpolitik war seine enge politische Partnerschaft mit dem französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d‘Estaing (1974–1981) außerordentlich bedeutsam. Minister, Staatssekretäre, Parlamentarier und der administrative Unterbau in beiden Staaten schienen in diesem reibungslos funktionierenden Mechanismus der Achse zwischen Paris und Bonn mitunter eher zu stören. Im Jahr 1974 machten sich Schmidt und Giscard d’Estaing für die Institutionalisierung des Europäischen Rats stark. Künftig fanden die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft (EG) regelmäßig zu Gipfeltreffen zusammen. Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich nahmen angesichts ihrer territorialen Größe und ökonomischen Stärke in der EG, die bis 1981 nur aus neun Mitgliedern bestand, fast zwangsläufig eine Führungsrolle ein. So konnten Giscard d’Estaing und Schmidt das von ihnen 1978/79 konzipierte Europäische Währungssystem mühelos gegen die übrigen Ratsmitglieder durchsetzen. Es sollte für geldpolitische Stabilität sorgen. Darüber hinaus initiierten Schmidt und Giscard d’Estaing die Weltwirtschaftsgipfel als Forum zur internationalen Krisenbewältigung, das erstmals 1975 auf Schloss Rambouillet bei Paris tagte. Obgleich das Konzept für die bald als G7-Gipfel bekannten Treffen in Arbeitsteilung entstanden war, überließ Schmidt in der Öffentlichkeit seinem französischen Partner den Vortritt. Er hegte keine Zweifel, dass Frankreich als Nuklearmacht und mit einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat international einen weitaus festeren Stand als die Bundesrepublik hatte.

Früh erkannte Schmidt darüber hinaus die ökonomische Bedeutung von China, dessen weltpolitische Bedeutung nach seiner Überzeugung beständig zunahm. Dadurch werde sich die bipolare Blockkonfrontation des Kalten Kriegs verändern. Ende Oktober/Anfang November 1975 besuchte Helmut Schmidt als erster Bundeskanzler die Volksrepublik China und legte danach einen besonderen Akzent auf die Fernostpolitik. Die wirtschaftlichen Aufbauleistungen von Deng Xiaoping in Peking (1979–1997) und auch von Lee Kuan Yew in Singapur (1959–1990) imponierten Schmidt, wofür er mitunter auszublenden bereit war, dass beide vordemokratische Regierungsstile pflegten und ihre Herrschaft auf brutale Gewalt stützten.

Innenpolitik: Krisen und schwierige Entscheidungen

Die Krisen und schwierigen Entscheidungssituationen, auf die Helmut Schmidt als Bundeskanzler innenpolitisch zu reagieren hatte, standen teilweise im Kontrast zu seinen außenpolitischen Erfolgen und seinem internationalen Ansehen. Im November 1976 war nach der Bundestagswahl während der Koalitionsverhandlungen mit der FDP eine massive Finanzierungslücke in der Rentenversicherung offengelegt worden. Auch Schmidt war zu seinem Leidwesen von falschen Voraussetzungen ausgegangen; ein derart kapitaler Fehler rüttelte an seinem von präziser Sachkenntnis und Perfektion getragenen Selbstbild. Die politische Verantwortung für die von der Opposition als „Rentenlüge“ angeprangerte Misere übernahm der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Arendt (SPD), dessen Verhältnis zu Schmidt seitdem als zerrüttet galt.

Auf den Terrorismus der Roten-Armee-Fraktion (RAF) reagierte Helmut Schmidt mit einem harten Kurs. Nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten und Vorsitzenden des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Hanns Martin Schleyer, am 5. September 1977 in Köln lehnte es Schmidt ab, der Forderung nach Freilassung der prominenten RAF-Mitglieder um Andreas Baader aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Stuttgart-Stammheim nachzukommen. Der demokratische Rechtsstaat durfte sich nach der festen Überzeugung des Bundeskanzlers nicht erpressen lassen. Auch die parallele Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ mit 91 Menschen an Bord nach Mogadischu durch eine palästinensische Terroristengruppe konnte Schmidt nicht von dieser Unnachgiebigkeit aus Staatsräson abbringen. Die Stunden zwischen der Befreiung der Flugzeug-Geiseln am 18. Oktober durch einen Einsatz der Spezialeinheit GSG 9 und der in Reaktion darauf erfolgten Ermordung Schleyers gehören zu seiner härtesten Zeit im Amt.

Zwischen Nachrüstung und „Nulllösung“

An dem am 12. Dezember 1979 förmlich gefassten NATO-Doppelbeschlusses hatte Schmidt wesentlichen Anteil. Seine konzeptionellen Überlegungen dafür reichten bis auf seinen 1961 publizierten verteidigungspolitischen Bestseller „Verteidigung oder Vergeltung“ zurück. Der NATO-Doppelbeschluss brachte Schmidt viel Kritik aus der eigenen Partei und von der anwachsenden Anti-Atom- und Friedensbewegung ein. In dieser Protestwelle ging unter, dass sich der Bundeskanzler die sogenannte „Nulllösung“ als Verhandlungsergebnis zwischen der USA und der Sowjetunion wünschte, also einen Verzicht auf die (atomare) Nachrüstung bei gleichzeitiger Fortsetzung der Entspannungsbemühungen.

Den schließlich am 8. Dezember 1987, fünf Jahre nach Schmidts Ausscheiden aus dem Kanzleramt, durch US-Präsident Ronald Reagan und dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow in Washington unterzeichneten INF-Vertrag zur gegenseitigen Abrüstung des nuklearen Mittelstreckenraketenarsenals verbuchte Schmidt selbstbewusst als direkte Folge des NATO-Doppelbeschlusses. Andere Interpretationen, wonach dieser Beschluss den Kalten Krieg mit ungewissem Ausgang verschärft habe, ließ er nicht gelten.

Konstruktives Misstrauensvotum

Mehrere Faktoren besiegelten im Jahr 1982 durch ihr Zusammenwirken das Ende der sozial-liberalen Koalition, vor allem die zunehmend wirtschaftsliberalen Forderungen der FDP, namentlich des Parteivorsitzenden Hans-Dietrich Genscher und vom Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff. Das Reformpotenzial des Regierungsbündnisses war aufgebraucht, der linke Flügel der SPD folgte der Sicherheitspolitik des Kanzlers nur widerwillig, und Schmidt fand keine zukunftsweisende Antwort auf die Herausforderung und den innovativen Politikstil der Neuen sozialen Bewegungen. Am 1. Oktober 1982 übernahm Helmut Kohl (CDU) nach einem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum die Kanzlerschaft. Schmidt war gestürzt. Bilanzierend stellte er mit dem für ihn typischen hanseatischen Understatement fest: „Alles in allem haben wir es nicht so schlecht gemacht.“

Schwarz-weiß Foto von Helmut Schmidt und Willy Brandt

Helmut Schmidt im Gespräch mit dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt und dem Bundesgeschäftsführer der Partei Holger Börner (Mitte) bei einer Sitzung der Bundestagsfraktion am 14. Mai 1974 in Bonn.

© picture alliance/ap

 

Foto von Helmut Schmidt mit erhobener Hand

Helmut Schmidt bei der Vereidigung zum Bundeskanzler am 16. Mai 1974 im Deutschen Bundestag in Bonn. Schmidt leistet seinen Amtseid vor der Bundestagspräsidentin Annemarie Renger.

© picture alliance/Sven Simon

 

Foto von Helmut Schmidt im Bundestag

Am Tag nach seiner Wahl zum Kanzler gab Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Regierungserklärung vor dem Bundestag ab.

© picture-alliance/dpa, Martin Athenstädt

Teile diesen Beitrag: