Geschichte als Mahnung an die Gegenwart: Diözese Rottenburg Stuttgart
Gedenken

Geschichte als Mahnung an die Gegenwart

Gedenken St. Josefspflege

An der Gedenktafel wird ein Kranz niedergelegt, mit dabei sind Weihbischof Thomas Maria Renz (Dritter von links), Daniel Strauß, Vorstandsvorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg (Vierter von rechts) und Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Dritte von rechts). Foto: DRS/Guzy

St. Josefspflege

Rainer Friedrich, Geschäftsführer der St. Josefspflege Mulfingen gGmbH, Pfarrer Ingo Kuhbach, Elsa Spindler (eine Nachkommin) und Landtagspräsidentin Muhterem Aras im Gespräch. Foto: DRS/Guzy

St. Josefspflege

Eine Ausstellung erklärt das Konzept „Erziehung nach Auschwitz“. Foto: DRS/Guzy

Eine Gedenkveranstaltung erinnert an die Deportation von jungen Sinti aus dem Mulfinger Kinderheim St. Josefspflege nach Auschwitz vor 80 Jahren.

Den Kindern und Jugendlichen wurde die Reise als Ausflug dargestellt, doch in Wahrheit war es eine Fahrt in den Tod. Vor 80 Jahren wurden 39 junge Sinti aus dem Mulfinger Kinderheim St. Josefspflege nach Auschwitz deportiert. Bis auf vier wurden alle im Konzentrationslager ermordet, so wie viele andere Sinti und Roma. Anlässlich des Jahrestags erinnerten Schülerinnen und Schüler sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der heutigen St. Josefspflege zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Kirchen nun nicht nur an die damaligen Ereignisse, sondern schlugen einen Bogen zur Aktualität.

„Die deutsche Geschichte verbietet es, Rassismus zu bagatellisieren“, sagte Landtagspräsidentin Muhterem Aras bei einer Gedenkveranstaltung in der Aula der St. Josefspflege. Sie erwähnte, dass das Ende des Nationalsozialismus nicht das Ende des Unrechts gegen Sinti und Roma gewesen sei. "Viele Vorurteile gegen Sinti und Roma bestehen leider bis heute fort“, sagte Aras.

Dank für das Engagement der St. Josefspflege

Die Landtagspräsidentin dankte der Leitung der St. Josefspflege für den Einsatz für das Gedenken. Angesichts der aktuellen rechtsextremen Tendenzen mahnte sie, weiter wachsam zu sein.

„Es waren Kinder“, betonte Daniel Strauß, Vorstandsvorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg. Auch vor Kindern machten die Mörder und Mörderinnen damals nicht halt, wie er sagte. Denn: „Die Nationalsozialisten wollten die systematische Ermordung aller Sinti und Roma.“

Blick auf die geschichtlichen Ereignisse

Strauß skizzierte den geschichtlichen Rahmen, nannte zum Beispiel den Heimerlass des württembergischen Innenministers von 1938. Strauß erläuterte: „Die Kinder von verhafteten und verschleppten Sinti werden von da an hier in die St. Josefspflege als zentrales Heim für Württemberg verlegt.“ Auch Eva Justin und ihre rassenideologische Forschung an den Sinti-Kindern in Mulfingen erwähnte er. „Es waren Einrichtungen, die wir heute noch kennen, die Polizei, die staatliche Jugendfürsorge, die treibende Kräfte hinter den Deportationen waren“, sagte Strauß.

Er blickte aber nicht nur in die Vergangenheit. „Aber einige haben überlebt. Ihre Nachkommen stehen heute vor uns und erzählen uns diese Geschichte. Hören wir ihnen zu. Lernen wir voneinander“, erklärte Strauß.

Ein Nachfahre erzählt seine Familiengeschichte

Einer dieser Nachkommen ist Armani Spindler. „Sechs meiner Verwandten waren als Kinder hier in Mulfingen“, sagte der 19-jährige Sinto aus Ravensburg. Er trat am Ende einer szenischen Darstellung auf, die Ereignisse aus dem Leben der Mulfinger Sinti-Kinder zeigte. Die Aufführung, basierend auf dem Buch „Auf Wiedersehen im Himmel“, hatte ein kleines Team des Landesverbandes mit den Jugendlichen der St. Josefspflege einstudiert.

Drei der sechs Verwandten wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet, berichtete Spindler. Zwei seien bei Bauernfamilien versteckt worden. Eine Verwandte „überlebte die Verfolgung in Mulfingen und starb 1949 an einer Lungenentzündung“, erzählte der 19-Jährige.

Bekenntnis zur weiteren Gedenkarbeit

Die Schülerinnen und Schüler fragten in ihrem Stück immer wieder nach dem Gewissen in Deutschland in jener Zeit. Spindler dagegen stellte die Frage: „Wie steht es um das Gewissen in Deutschland heute?“

Rainer Friedrich, Geschäftsführer der St. Josefspflege Mulfingen gGmbH, stellte das Konzept „Erziehung nach Auschwitz“ vor. Mit dem Konzept sollen die Kinder und Jugendlichen sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der St. Josefspflege die Geschichte der Sinti-Kinder erfahren und verstehen, wie er erklärte. Kernelement des Konzepts sind regelmäßige Auschwitz-Fahrten.

Ausstellung in der Sporthalle

Über das Konzept und dessen Entwicklung seit Ende der 1980er Jahre konnten sich die Besucherinnen und Besucher der Gedenkveranstaltung in einer Ausstellung in der Sporthalle informieren. Friedrich bekannte sich zum weiteren Einsatz für die Erinnerungsarbeit. Er würdigte außerdem Barbara Köppen. Für die langjährige Schulleiterin der Bischof-von-Lipp-Schule – Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum, die im vergangenen Jahr in Ruhestand gegangen ist, war das Engagement für die Erinnerungskultur immer wichtig.

Vor der Gedenkstunde, die ein Geigentrio um Jochen Narciß-Sing von der Musikschule Schwäbisch Hall musikalisch umrahmte, gab es einen Gottesdienst in der Kirche St. Kilian. In dem Gottesdienst, an dem neben Pfarrer Ingo Kuhbach unter anderem Pfarrerin Silke Stürmer, Beauftragte für die Zusammenarbeit mit Sinti und Roma der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, mitwirkte, erinnerte Weihbischof Thomas Maria Renz auch an das Versagen der damaligen Verantwortlichen und das „Versagen der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit“.

Ein Kranz mit weißen Nelken

Keiner von uns wisse, wie er selbst damals reagiert hätte. „Aber“, erklärte Renz, „die bohrende Frage bleibt und sie bleibt bis heute unbeantwortet: Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Und unmittelbar darauf folgt eine zweite quälende Frage: Was tun wir heute dafür, dass Auschwitz sich niemals mehr wiederholen wird im Laufe der Menschheitsgeschichte?“ An diesen Fragen müssten wir dranbleiben.

Im Gottesdienst steckten Schülerinnen und Schüler 35 weiße Nelken in einen Kranz, als Symbol für die 35 Kinder und Jugendlichen, die Auschwitz nicht überlebten. In einer Prozession wurde der Kranz zur Gedenktafel an der Fassade der St. Josefspflege getragen. Er wurde dort zusammen mit einer Vase mit vier Nelken für die damals vier Überlebenden niedergelegt.

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