91 Jahre her – Bücherverbrennung in Deutschland

91 Jahre her – Bücherverbrennung in Deutschland

91 Jahre her – Bücherverbrennung in Deutschland

91 Jahre ist die Bücherverbrennung nun her – von März 1933 bis Oktober 1933 brannten in Deutschland Bücher, die den neuen Machthabern nicht passten.

Verbrannt haben sie aber nicht die Nazi-Schergen selbst, sondern Studenten und Bibliothekare und andere normale, ja, gebildete Leute.

Zu drei Menschen, deren Bücher entweder auf dem Scheiterhaufen landeten oder kurz darauf verboten wurden, habe ich im Mai 2023 einen Vortrag gehalten. Es ging um Joseph Roth, Irmgard Keun und Kurt Tucholsky. Da nicht alle Texte, die ich zur Vorstellung der drei nutze, gemeinfrei sind, kann ich ihn hier nun nicht vollständig wiedergeben. Deshalb bekommen Sie eine „Lesefassung“.

Joseph Roth

Begonnen habe ich mit einem Ausschnitt aus Joseph Roths erstem Roman „Das Spinnennetz“. Der spielt rund 10 Jahre vorher – 1923 – und zeigt auf, wie die Radikalisierung am rechten Rand um sich griff. Der Roman erschien in der „Wiener Arbeiter-Zeitung“ – von Oktober bis November 1923.

Eine der Hauptfiguren ist der abgehalfterte Leutnant Theodor Lohse, der nach dem großen Krieg orientierungs- und mittellos erst als Hauslehrer bei einem jüdischen Juwelier arbeitet und dann – nachdem Prinz Heinrich ihn sexuell gedemütigt hatte – in einer rechtsradikalen Geheimorganisation seinen Platz findet. Joseph Roth schildert, wie die Menschen dieser Zeit und unter diesen Umständen denken und fühlen. Was sie nach dem Krieg vermissen – die straffe Führung, das Nicht-Denken-Müssen. Und er schildert den Hass und die Verachtung gegenüber Juden und Sozialisten. An Theodor Lohse exerziert er die Radikalisierung der Mitläufer durch – inklusive Mord und Totschlag, Verrat und Denunziation. Diese Radikalisierung in Teilen der Bevölkerung hat die Nazi-Herrschaft ermöglicht.

Der Roman hat ein offenes Ende; die letzte Folge erschien am 6. November 1923 – drei Tage vor dem Putsch Hitlers in München.

Roths klarer Blick auf die Ursachen der Radikalisierung ist bemerkenswert. Theodor Lohse ist der Underdog seiner Zeit – und er macht dafür alle anderen verantwortlich. Immer sind es die anderen, die ihn hindern, die ihm gefährlich werden, die ihm was wegnehmen.

Biographie Joseph Roth

Und wer war nun dieser Joseph Roth? Die meisten verknüpfen seinen Namen mit den Romanen „Hiob“ oder „Radetzkymarsch“. Zu seinen Lebzeiten war er vor allem als Journalist bekannt.

1894 kam er in Brody zur Welt. Seine Mutter hatte den Getreidehändler Nachum Roth geheiratet; der endete später als so genannter Geisteskranker in einer Anstalt. Maria Roth war damit schon sehr früh alleinerziehend – aber weder Witwe noch geschieden. Sie und ihr Sohn blieben bis in die Zeit um den großen Krieg auf Zuwendungen ihrer Familie angewiesen und lebten bis 1914 im Haushalt von Marias Vater.

Joseph Roth machte sein Schulexamen mit Bestnoten und wollte erst in Lemberg studieren. Zum Sommersemester 1914 schrieb er sich in Wien ein. Als der Krieg ausbrach, wurde er als untauglich gemustert. 1916 ging er dann doch zum Militär. Allerdings nicht aus Überzeugung; er stand dem Krieg von Anfang an ablehnend gegenüber. Er wurde der Pressestelle zugewiesen – und schrieb erste Stücke für Zeitungen.

Nach dem Krieg ist seine erste richtige Stelle ein Redakteursposten bei „Der neue Tag“ – hier trifft er mit großartigen Autoren zusammen – Egon Erwin Kisch und Alfred Polgar z. B.; doch der Zeitung ist nur ein kurzes Dasein beschieden. Und Roth geht nach Berlin.

Sein Metier ist das Feuilleton – eine in damaligen Zeitungen wichtige Rubrik. In Berlin erschienen mehrere Tageszeitungen, oft zweimal pro Tag. Es gab also reichlich was zu schreiben. Und Joseph Roth schrieb – Reportagen und Feuilletons und Glossen, Theater- und Buchbesprechungen, Beobachtungen aus dem Alltag. Er schrieb für den „Berliner Börsen Courir“, für den sozialdemokratischen „Vorwärts“ – damals eine Tageszeitung mit Morgen- und Abendausgabe!  – und für andere Zeitungen: Die Frankfurter Zeitung, die Kölnische Zeitung und das Prager Tagblatt.

Er war kritisch, sozialkritisch und kein Sozialist. Er war politischer Beobachter, ein Warner, einer, der Sachen früh erkannt hat.

Die Nachkriegszeit, die frühen 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, sind unruhig in vielerlei Hinsicht:

  • politisch – die politischen Extreme bringen mit Gewalt Deutschland in bürgerkriegsähnliche Lagen
  • finanziell – 1923 frisst die Inflation Einkommen und Ersparnisse auf
  • persönlich – Friederike Roth, geborene Reichler, Joseph Roths junge Ehefrau, genannt Friedl, erkrankt an Schizophrenie und ihr Mann gibt sich teilweise die Schuld daran

Schon in seiner Wiener Zeit hat Joseph Roth in erster Linie im Kaffeehaus gearbeitet – und die Nächte durchgemacht. Schon damals viel Alkohol getrunken. Das hat aber sein Schreibvermögen nicht beeinträchtigt. Und auch nicht seinen analytischen Blick auf das politische Geschehen.

Ein Einschnitt in Roths Leben war die Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichpräsidenten am 26. April 1925, nach dem Tod Eberts. Angeblich wollte Joseph Roth deswegen nach Frankreich gehen – die Wahl Ende April 1925 und der Beginn seiner Tätigkeit in Frankreich Anfang Mai passen prima zusammen

Die Stelle hatte er schon vor der Wahl zugesagt.

Aber er hat sie nicht ohne Grund angestrebt …

Denn er sah Gefahr aufziehen. In seinen Reportagen und Feuilletons entlarvte er, teils ohne explizit politisch zu schreiben, die Strukturen der Rechtsradikalen, der Republikfeinde und Antisemiten. Mit der Bücherverbrennung 1933 war klar, dass er in Deutschland keine Zukunft mehr hatte – nun konnte er dort nicht mehr publizieren. Er konnte aber im Exil weiter veröffentlichen, u. a. in den Exilverlagen, die in den Niederlanden und in Belgien entstanden. Auch Übersetzungen gab es von seinen Werken.

Belgien ist das Stichwort für die nächste Etappe: Ostende!

In seinem Buch „Ostende 1936“ schildert Volker Weidermann seine Protagonisten sehr detailliert. Es geht ihm vor allem um die Freundschaft zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig. Es war, allen Umständen zum Trotz, eine fruchtbare und langjährige gleichberechtigte Freundschaft. Auch wenn diese Freundschaft im Mittelpunkt des Buches steht, kommt die Beziehung zwischen Joseph Roth und Irmgard Keun nicht zu kurz. Beide lernten sich eben in Ostende kennen, als alle anderen auch da waren: Zweig, Toller, Kesten und noch so einige.

Stefan Zweig in hellem Anzug dicht neben Joseph Roth - der hat eine Zigartette ind er Hand und ein Glas vor sich.
Stefan Zweig und Joseph Roth 1936 in Ostende

Irmgard Keun

Als Kind hat Irmgard Keun hier die Ferien mit den Eltern verbracht – das ist ein Grund, weshalb sie nach ihrer Abreise aus Nazi-Deutschland nun hier ankommt.

Und: Wer ist diese junge Frau?

Bei biographischen Informationen ist es mit der Korrektheit bei Irmgard Keun nicht weit her. Sie hat sich gern mal fünf Jahre jünger gemacht und insgesamt viel über sich erzählt, das eher ins Reich der Phantasie gehört. Von Anfang an.

Aber: Erzählen konnte sie eben auch von Anfang an!

Die Fakten: 1905 in Berlin geboren, zog die Familie 1913 nach Köln. Nach der Schule lernte die junge Irmgard erst einmal Verschiedenes: Sprachen, Stenographie und Schreibmaschine. Mit 22 Jahren begann sie eine Schauspielausbildung – inspiriert durch ihre Bekanntschaft mit dem 23 Jahre älteren Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor Johannes Tralow. Ihre Karriere als Schauspielerin dauert gerade mal zwei Jahre, umfasst aber auch ein Engagement am Thalia-Theater in Hamburg. Erfolgreich war sie aber eher hinter der Bühne und im Alltag – sie wollte ihre Rolle immer selbst bestimmen.

1929 verlegt sich die junge Frau aufs Schreiben und bekommt, als sie Proben an einen Schriftsteller schickt, positive Rückmeldung. Es gibt die Anekdote, dass Alfred Döblin, den sie 1931 bei einer Lesung kennenlernt, sie zum Schreiben ermutigt hat: „Wenn Sie nur halb so gut schreiben, wie Sie sprechen, erzählen und beobachten, dann werden Sie die beste Schriftstellerin, die Deutschland je gehabt hat.“ Diese Anekdote hat Irmgard Keun 1977 dem Journalisten Jürgen Serke erzählt. Ihre Biografin Hiltrud Häntzschel weist allerdings an mehreren Stellen darauf hin, dass diese Interviews aus den 70ern unter dem Aspekt Fakten mit Vorsicht zu genießen seien.

Jedenfalls veröffentlichte der Universitas-Verlag 1931 den ersten Roman von Irmgard Keun „Gilgi – eine von uns“. Es ist Rollenprosa einer jungen Frau, die ziemlich ungeniert ihre Lebensanschauungen ausbreitet und dabei Ansichten vertritt, die dem Anstandsgefühl der älteren Generation diametral entgegenstanden. Ihr anderes „Talent“: Beobachtungen! Sie schildert in Gilgis Rolle z. B. eine morgendliche Straßenbahnfahrt, in der die Mitfahrenden ihre Auftritte haben. Gilgi kommentiert sie alle – mit viel Menschenkenntnis.

So wie Gilgi ist auch ihre Autorin entschlossen, es zu was zu bringen – als Autorin. Schon kurz darauf erscheint ihr zweiter Roman: „Das kunstseidene Mädchen.

Doch „kurz darauf“ heißt: 1932.

Keun ist doch eigentlich erfolgreich, sieht eine Zukunft als Autorin vor sich. Gilgi wird bereits 1932 verfilmt! In der New York Times gibt es eine Besprechung. 1933 wird der zweite Roman ins Französische, Russische, Englische, Dänische, Schwedische und Italienische übersetzt!

Doch 1933 bringt den Einschnitt. Auch die Bücher von Irmgard Keun werden als sogenannte „Asphaltliteratur“ verunglimpft und verboten. Auf den Scheiterhaufen der Bücherverbennung landen sie aber nicht. Aber mit dem Romanschreiben ist jetzt erst einmal Schluss. In Zeitschriften kann sie kurze, harmlose und unterhaltsame Texte veröffentlichen. Doch das ist nicht so wirklich ihr Metier. Nach ihrer eigenen Aussage kann sie nur Roman. Erst einmal bleibt sie in Deutschland. Noch 1935 kann sie verschiedene Texte für Zeitschriften verfassen.

Zurück zu ihrer Biographie. Im Oktober 1932 hatte sie Johannes Tralow geheiratet. Für ihn war es die dritte Ehe, für sie die erste – und letzte. Aber er war bei weitem nicht der letzte Mann in ihrem Leben.

1933 lernte sie den Arzt Arnold Strauß kennen – eine Freundin brachte den Kontakt zustande, weil sie sich durch den unmäßigen Alkoholkonsum Irmgard Keuns beunruhigt fühlte. Da Arnold Strauß Jude war, emigrierte er bald danach und die Beziehung bestand vor allem in Briefen. Für ihn war es eine ernste Sache – er betrachtete Irmgard Keun als seine Verlobte, sprach so über sie gegenüber seinen Eltern. Irmgard Keun sah das etwas lockerer.

Die Art des Kennenlernens wirft die Frage auf, warum eine erfolgreiche Schriftstellerin in so jungen Jahren schon mehr Alkohol trinkt, als einem Menschen gut tun kann.

Einen Grund nennt sie Arnold Strauß in ihrem Brief vom 24. Januar 1934: Sie neige zu Depressionen. Alkohol helfe ihr dabei, mit dieser Erkrankung zu leben.

Die dunkle Seite der sprühenden Erzählerin.

Letzten Endes sind die Briefe Irmgard Keuns an Arnold Strauß die fast ungeschminkteste Selbstdarstellung der Autorin. Sie lässt ihn so an ihrem Leben – und v. a. an ihren finanziellen Problemen – teilhaben. Er baute sich in den Vereinigten Staaten ein erfolgreiches Leben auf und erhielt von ihr zunehmend vor allem Briefe, in denen sie ihn um Geld bat. Aber auch diese Briefe sind Inszenierungen – alles hat sie ihm nicht erzählt … Und selbst, wenn sie gewollt hätte: Sie konnte nicht alles erzählen, denn Briefe aus Nazideutschland gingen durch die Zensur.

Dass sie ähnlich wie Joseph Roth gern im Café oder in der Kneipe schrieb, schildert eine positive Besprechung, die noch im April 1933 in der Zeitschrift „Das Leben“ erschien – sie wird dort als „eine von uns“ porträtiert. Irmgard Keuns Schreibstil, auch ihre Inhalte bespricht die Rezensentin sehr positiv – wahrscheinlich stand der Artikel schon, als die Nazis das Ruder übernahmen. Dass Irmgard Keun zum Schreiben des Alkohols bedurfte, war ebenfalls Thema …

Im privaten Bereich herrschte also ziemliches Chaos und beruflich stagnierte sie. Obwohl ihre Bücher verboten worden waren, strebte sie die Aufnahme in die Reichschrifttumskammer an, wurde aber abschlägig beschieden. Auch der Versuch, Schadenersatz wegen der eingezogenen Buchexemplare zu erwirken, scheiterte. Im Grunde eine ziemlich verwegene Aktion, deswegen zu klagen …

Blieb also das Exil. Mit Verlegern der Exilverlage in Belgien schloss Irmgard Keun einen Vertrag und fuhr nach Ostende, dem Ort, der ihr aus den Ferien ihrer Kindheit vertraut war.

Hier lernte sie nun alle kennen: Egon Erwin Kisch, Hermann Kersten, Ernst Toller, Stefan Zweig und Joseph Roth. In Kontakt mit Egon Erwin Kisch, den sie längere Zeit besucht, politisierte sich die bisher eher unpolitisch schreibende Irmgard Keun sehr schnell. Genau wie Joseph Roth und Stefan Zweig konnte sie weiter publizieren. Doch sie schrieb über Aktuelles. Sie hatte von 1933 bis 1936 mitbekommen, wie die Naziherrschaft den Alltag verändert hatte. In ihrem Roman „Nach Mitternacht“ schilderte sie das Leben in den frühen Jahren der Naziherrschaft.

Auch die Inszenierung der politischen Macht schildert die Hauptfigur Sanna in diesem Roman in einer Sprache, die sehr naiv daherkommt und durch die Diskrepanz zwischen Stil und Berichtetem erkennen lässt, worum es eigentlich geht. Hitler, der „wie der Prinz Karneval“ nur eben mit leerer Hand statt mit Kamelle und Strüßjer in seinem Wagen stand – ein entlarvendes Bild, das sie da nutzt.

In Ostende schließt sie sich an Joseph Roth an. Egon Erwin Kisch schreibt über die beiden „Sie saufen wie die Löcher.“ Nach der Schilderung von Irmgard Keun arbeiten beide im gleichen Lokal, sie vorne am Fenster, er eher in einer dunklen Ecke und am Abend vergleichen sie, wie viele Seiten sie geschafft haben. Irmgard Keun sagt seinem Biografen David Bronsen in einem Interview, sie habe nie einen Roman von Joseph Roth gelesen. Sie schildert Roth als einen Menschen, der von sich möglichst nichts preisgeben möchte und gleichzeitig versucht, die Menschen in seiner Umgebung zu beherrschen. Wir würden heute sagen, er war ein Kontrollfreak.

Auf der anderen Seite hatte er über manches völlig die Kontrolle verloren – seine Alkoholabhängigkeit machte ihn zu einem körperlichen Wrack. Stundenlanges Erbrechen gehörte zu seinem Alltag und Irmgard Keun stand ihm während ihrer gemeinsamen Zeit bei. Die Beziehung dauerte alles in allem etwa zwei Jahre, dann verließ sie ihn. Die beiden reisten gemeinsam, lebten in Hotels, führten also das Leben, das Joseph Roth schon immer gelebt hatte.

1939 starb Joseph Roth – man kann ohne Übertreibung sagen, er habe sich zu Tode getrunken. Obwohl Irmgard Keun nach der Trennung ein Gefühl der Erleichterung verspürt habe, wie sie Interview erzählte, war ihr dieser Mann weiterhin sehr wichtig.

Die Geschichte, dass ein Tipp von Roth – sie solle sagen, sie schlafe mit Juden – die erwünschte und vom Ehemann verweigerte Scheidung ermöglicht habe, ist ganz klar ein Fake. Johannes Tralow hat von sich aus die Scheidung betrieben.

Irmgard Keun hat tatsächlich Arnold Strauß in den USA besucht und ist vor der Zukunft als brave Arztgattin ganz schnell wieder geflohen, wie sie es schon Jahre vorher geschrieben hatte.

Irmgard Keun nach 1945

Die Romane, die sie im Exil geschrieben hat, waren durchaus erfolgreich. Neben „Nach Mitternacht“ war das vor allem „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“ sowie „Kind aller Länder“ und „D-Zug dritter Klasse“. 1950 schrieb sie den Roman „Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen“. Doch ihre decouvrierende Rollenprosa wurde im beginnenden Wohlstandsdeutschland nicht goutiert. Ihr Brot verdiente sie jahrelang als Autorin des NWDR. Ihr Leben in der Nachkriegszeit war nicht einfach; daran hatte auch ihre Alkoholabhängigkeit, begleitet von Medikamentenabhängigkeit, ihren Anteil. Bereits 1946 wurde sie nach einem alkoholbedingten Zusammenbruch ins Landeskrankenhaus Bonn eingewiesen. 1951 wird sie Mutter, ohne je zu verraten, wer der Vater ihrer Tochter Martina ist. In den fünfziger Jahren verstärkt sich ihre Suchtkrankheit und sie verbringt immer wieder Zeiten in psychiatrischen Kliniken, einmal sogar sechs Jahre lang. Sie galt als vergessen und wurde 1977 durch die Reportagereihe „Die verbrannten Dichter“ von Jürgen Serke „wieder entdeckt“. Dabei wurden ihre Bücher die ganze Zeit über kontinuierlich, wenn auch in geringerer Stückzahl, verkauft und sie arbeitete weiterhin an kleinformatigen Texten für verschiedene Medien.

Bezeichnend für ihren Umgang mit der Realität und ihre Erzählkunst ist der Umstand, dass sie gegen Ende ihres Lebens immer wieder erzählte, sie arbeite an einer Autobiografie mit dem Titel „Kein Anschluss unter dieser Nummer“, aus der sie bei Telefongesprächen lange Passagen vorlas. Es gab nur nie ein Manuskript zu dieser Autobiografie.

Jürgen Serke hat in einem Interview 2023 erzählt, wie die Gespräche mit ihr abliefen: In einer Kneipe. Mit Alkohol – er trank Sekt, sie Härteres – und sie sprach immer in druckreifen Sätzen.  Der Band „Die verbrannten Dichter“ ist 2023 in einer Neuauflage erschienen.

1982 starb Irmgard Keun in Köln, nachdem sie noch einmal die große Bühne als große Schriftstellerin erleben durfte.

Irmgard Keun bekam sogar einen Platz auf dem Kölner Rathausturm – Bildhauerin Marieluise Schmitz-Helbig, © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)“

Kurt Tucholsky

Kurt Tucholsky – ein scharfsichtiger Beobachter der politischen Entwicklungen in den 20er Jahren. So schrieb er bereits im Mai 1921 eine Zukunftsvision für 1940:

Deutsche Richtergeneration 1940

Zum Hakenkreuz erzogen,
das damals Mode war,
vom Rektor angelogen –
So wurdst du Referendar.

Du warst im tiefen Flandern
Etappenkommandant.
Du spucktest auf die andern
auch hier, im Vaterland.

Ihr spieltet Wilhelms Stützen;
das Korps ersetzt das Heer.
Gäbs keine ohne Mützen:
ihr wäret gar nichts mehr.

Nach steifen Amtsvisiten,
der Landgerichtsstation
kam dann nach alten Riten
die Doktorpromotion.

Es kam das Staatsexamen.
Ihr seid emporgerückt.
Ihr setzt nun vor den Namen
den Titel, der euch schmückt.

Nun, deutsche Jugend, richte!
Hier Waage! Da das Schwert!
Räch dich für die Geschichte!
Zeig dich des Kaisers wert!

Würg mit dem Paragraphen!
Benutz den Kommentar!
Du mußt den Landsmann strafen,
der kein Teutone war.

Setz auf das Samtbarettchen!
Das Volk es glaubt an dich.
Justitia, das Kokettchen,
schläft gern beim Ludewich.

Du gibst dich unparteilich
am Strafgesetzbuchband …
Du bist es nicht. Nur freilich:
Juristen sind gewandt.

Du wirst des Rechtes Künder.
Dich kriegt man nicht – für Geld.
Gott gnade dem armen Sünder,
der dir in die Finger fällt!

Ich grüße dich, wunderbare
Zukunft der Richterbank!
Du nennst das einzig Wahre:
Rechtspruch nach Stand und Rang!

Ihr wählt euch eure Zeugen!
Ihr sichert den Bestand!
Wo sich euch Rechte beugen,
ist euer Vaterland!

Ja, 1921 war das Hakenkreuz bei ihm schon Thema!

Kurt Tucholsky, der unter vielen Namen in der Schau- und später Weltbühne schrieb, kam als Pazifist aus dem großen Krieg. Und als Gegner allen Nationalismus. Damit machte er sich unbeliebt – in gewissen Kreisen.

Kurt Tucholsky stammte aus gutbürgerlichem jüdischem Haus. Sein Vater starb jung, zur Mutter war das Verhältnis nicht so toll. Und Frauengeschichten gab es auch reichlich in seinem Leben. Vor allem aber schrieb er: Feuilleton und Couplets fürs Kabarett, Reiseschilderungen, Gerichtsreportagen, Rezensionen aller Art und Glossen. Sein erster großer Bucherfolg war die Erzählung „Rheinsberg“, die für viele gegen Anstand und Sitte verstieß – ein unverheiratetes Paar gibt sich als verheiratet aus. Und Erotik kommt auch vor. „Schloss Gripsholm“ und eben „Rheinsberg“ sind bis heute die erfolgreichsten Bücher Tuchos – zu Lebzeiten verdiente er mit Zeitungen seinen Lebensunterhalt.

Und teils auch mit Lesungen. Ähnlich wie heute, mussten Autoren und Autorinnen sehen, dass Leute ihre Werke kannten und kauften – also zog man durchs Land.

Kurt Tucholsky steht mit Spazierstock und Hut in der rchten Hand vor einer Mauer - fünf Jahre vor der Bücherverbrennung also ...
Kurt Tucholsyk 1928 in Paris. Sonja Thomassen, GFDL 1.2 http://www.gnu.org/licenses/old-licenses/fdl-1.2.html, via Wikimedia Commons

So kam Tucho auch nach Köln. In seinem Buch „Man hat was gegen Sie vor“ schildert Mario Kramp, der ehemalige Leiter des Stadtmuseums in Köln, detailliert, wann Tucholsky in Köln zu Lesungen war – 1928 und 1929 – und wie es ihm dabei erging. Denn zu dieser Zeit waren die Meinungen bekanntermaßen sehr gespalten – Rechts und Links standen sich gegenüber, es gab Gewalt auf der Straße und bei Veranstaltungen. Der Satz im Titel stammt aus einer Warnung, die Tucholsky am 27. September 1928 in Köln in seinem Hotel erhielt – vor der Lesung, die der Buchhändler Paul Wolfsohn im Saal des Kunstvereins organisiert hatte. Im Faksimile des Zettels, der im Buch von Mario Kramp abgedruckt ist, können wir auch die Grußformel am Ende lesen:

„für die gerechte Sache. d. A.“

Mario Kramp zitiert in seinem Büchlein auch ausführlich aus der Zeitungsberichterstattung der Zeit, aus dem Kölner Stadt-Anzeiger, der Kölnischen Zeitung, der Rheinischen Zeitung, dem Kölner Lokal-Anzeiger – teils zustimmend, teils kritisch, aber in diesem Zusammenhang 1928 noch keine Diffamierung durch ein rechtsradikales Blatt.

Das sah 1929 schon anders aus. Kurt Tucholsky las am 22. März 1929 im Funkhaus der Westdeutschen Rundfunk AG (WERAG) und das führt dann zu massiver Kritik – Mario Kramp zitiert aus einem Briefwechsel, in dem der Umstand, dass Tucholsky von der WERAG eine Bühne geboten bekommen hatte, von rechten Kreisen stark kritisiert wurde und zitiert ebenfalls die lakonische Antwort des Verantwortlichen, der meinte, wer Tucholsky nicht hören wollte, konnte doch das Radiogerät ausschalten …

Tucholsky selber nutzt diese Auseinandersetzung zu einem Artikel mit dem Titel Provinz, in dem er sich dafür stark macht, als linker, engagierter Autor nicht nur in Berlin, sondern auch in Provinzstädten zu lesen – damit meinte er u. a. Köln. Seine Lesereise umfasste mehrere Städte im Rheinland.

Die Gefahr von Rechts war Tucholsky früh bewusst. 1930 schrieb er mehrere Texte, die ziemlich beklemmend sind – so wie er sich fühlte, der Deutschland schon vorher den Rücken gekehrt hatte. Er lebte in Frankreich und Schweden und blickte von außen auf dieses sich selbst zerstörende Deutschland.  1930 erschien in der Arbeiter Illustrierte Zeitung ein Gedicht, das mit einem Nazispruch spielte:

Deutschland erwache!

Daß sie ein Grab dir graben,
dass sie mit Fürstengeld
das Land verwildert haben,
dass Stadt um Stadt verfällt …
Sie wollen den Bürgerkrieg entfachen –
(das sollten die Kommunisten mal machen!)
dass der Nazi dir einen Totenkranz flicht –:
Deutschland, siehst du das nicht –?

Daß sie im Dunkel nagen,
dass sie im Hellen schrein;
dass sie an allen Tagen
Faschismus prophezein …
Für die Richter haben sie nichts als Lachen –
(das sollten die Kommunisten mal machen!)
dass der Nazi für die Ausbeuter ficht –:
Deutschland, hörst du das nicht –?

Daß sie in Waffen starren,
dass sie landauf, landab
ihre Agenten karren
im nimmermüden Trab …
Die Übungsgranaten krachen …
(das sollten die Kommunisten mal machen!)
dass der Nazi dein Todesurteil spricht –:
Deutschland, fühlst du das nicht –?

Und es braust aus den Betrieben ein Chor
von Millionen Arbeiterstimmen hervor:

Wir wissen alles. Uns sperren sie ein.
Wir wissen alles. Uns läßt man bespein.
Wir werden aufgelöst. Und verboten.
Wir zählen die Opfer; wir zählen die Toten.
Kein Minister rührt sich, wenn Hitler spricht.
Für jene die Straße. Gegen uns das Reichsgericht.
Wir sehen. Wir hören. Wir fühlen den kommenden Krach.
Und wenn Deutschland schläft –:
Wir sind wach!

Ein letztes Aufbäumen von Hoffnung?

Übrigens hatte Tucho auch mit Irmgard Keun zu tun – als Rezensent. Seine Einschätzung von 1932 in der Weltbühne:

„Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an! Irmgard Keun „Gilgi, eine von uns“ Ungleich, aber sehr vielversprechend. Am besten alle Szenen, in denen ein Mann vor einer Frau, die dieses aber gar nicht gern hat, balzt. Hier ist ein Talent. Wenn die noch arbeitet, reist, eine große Liebe hinter sich und eine mittlere bei sich hat –: aus dieser Frau kann einmal etwas werden.“

Wird immer gern zitiert. Hat aber eine unschöne Nachgeschichte. Irmgard Keun wurde von Robert Neumann vorgeworfen, seinen Roman Karriere plagiiert zu haben. Sie bat Kurt Tucholsky um Unterstützung, doch der sieht tatsächlich ein Plagiat … Nicht die erwartete oder gar erwünschte Reaktion. In seiner Antwort bescheinigt er ihr jedoch, sie habe Talent, sei bereits jemand – so etwas wie ein Plagiat habe sie doch nicht nötig.

Hiltrud Häntzschel, Keuns Biographin, sieht durchaus eine gewisse Verwandtschaft zwischen den beiden Büchern, doch bescheinigt sie Irmgard Keun ihre Eigenständigkeit. Robert Neumann hat 1966 den Plagiatsvorwurf zurückgezogen.

Zurück zu Tucholsky selbst. Er resignierte zunehmend. Mario Kramp beendet sein Buch mit einem Zettel aus Tuchos Besitz: eine Treppe von unten nach oben sind die Stufen beschriftet mit „Sprechen, schreiben, schweigen“. 

 eine Treppe von unten nach oben sind die Stufen beschriftet mit „Sprechen, schreiben, schweigen“

Er lebte seit 1929 dauerhaft in Schweden, schrieb ab 1931 nur noch selten etwas zur Veröffentlichung, eine Erkrankung mit vielen Operationen und der Tod von Weggefährten drückten ihn nieder. In seinen Briefen gab er weiter Kommentare ab, aber nach Januar 1933 erschien nichts mehr. Am 15. Dezember 1935 schrieb er an Arnold Zweig:

„Das ist bitter, zu erkennen. Ich weiß es seit 1929 – da habe ich eine Vortragsreise gemacht und „unsere Leute“ von Angesicht zu Angesicht gesehen, vor dem Podium, Gegner und Anhänger, und da habe ich es begriffen, und von da an bin ich immer stiller geworden. Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Rußland (sic!) erobern – ich bin damit fertig.“

Er starb kurz darauf, am 21. Dezember 1935 an einer Überdosis Veronal – ein Schlafmittel, das er nach langem Krankenhausaufenthalten benötigte. Sein Biograph Michael Hepp geht von einer versehentlichen Selbsttötung aus – Medikamentenautomatismus genannt -, da es beispielsweise keine Abschiedsbriefe gibt.

Wir werden es nie wissen.

Was verbindet die drei – ob sie nun schon Opfer der Bücherverbrennung waren oder nicht?

Die Bücher dieser Drei waren vor 91 Jahren neben vielen anderen das Ziel der Vernichtung – bei Roth und Tucholsky sowohl weil die Autoren Juden waren, noch mehr aber wegen ihrer Haltung gegenüber den Nazis, der Rechten und für die sozial Schwachen. Irmgard Keun, die rund 10 Jahre jünger war als die beiden Männer, widersprach mit ihrer Schreibweise und den Inhalten ihrer Bücher den Vorstellungen der Sich-ermächtigt-Habenden, der Nazis. Sie entdeckte erst nachträglich die politische Brisanz ihres Schreibens und versuchte sich als gesellschaftskritische Stimme auch nach dem Krieg. Leider nur mit beschränktem Erfolg. Sie wurde über 70 Jahre alt – Roth und Tucholsky starben bereits mit rund 40 Jahren. Aller drei Texte sind allen Lesens wert.

Sowohl kritische Stimmen wie die von Tucholsky und Roth, die früh gewarnt haben, als auch solche, die gesellschaftliche Veränderungen aufzeigen, wie die von Irmgard Keun, sind wichtig, um politische und gesellschaftliche Radikalisierungen mitzubekommen – sei es in journalistischen oder literarischen Beiträgen. Die Presse- und Meinungsfreiheit ist deshalb ein hohes Gut. 

Für den Vortrag habe ich verschiedenes gelesen und als Liste in einem PDF zusammengestellt – für alle, die sich vertiefen wollen.

Published byHeike Baller

Bis zum Morgen schmökern, Kissen nass weinen, bei der Bahnfahrt mal eben los gackern – das alles und noch einiges mehr bedeutet Lesen für mich. Naja, die Nächte lese ich nur noch selten durch, da melden sich doch zu penetrant die erwachsenen Bedenken in Sachen „Wecker am Morgen“ … Aber in der Bahn können Sie mich immer mal wieder grinsend oder kichernd erleben. Mit einem Buch vor der Nase. Da ich außerdem gerne mit anderen über das, was ich gelesen habe, diskutiere, habe ich dieses Blog gestartet. Leselust, das ist es, was mich antreibt, immer neue Bücher zu kaufen, zu leihen und vor allem zu lesen. – Vorlesen tu ich übrigens auch gern.

Bisher gibt es noch keine Kommentare

Einen Kommentar hinterlassen