Man sollte meinen, die Pyramiden von Gizeh und ihre unmittelbare Umgebung seien archäologisch so gut erschlossen, dass keine großen Überraschungen mehr zu erwarten wären – doch weit gefehlt: So liefert beispielsweise das Projekt Scan Pyramids seit 2015 Hinweise auf Anomalien hinter den massiven Steinwänden der Cheopspyramide. Und tatsächlich gelang es einem internationalen Forschungsteam im Vorjahr, im Inneren des riesigen antiken Bauwerks eine bis dahin unbekannte Kammer zu entdecken.

Einen ähnlichen Howard-Carter-Moment durfte nun eine Gruppe von Forschenden ganz in der Nähe erlebt haben. Die Archäologinnen und Archäologen entdeckten mithilfe von Fernerkundungstechniken unter dem westlichen Friedhof von Gizeh ein großes mysteriöses L-förmiges Gebilde und darunter weitere Auffälligkeiten. Die Fachleute vermuten einen mit Sand gefüllten Hohlraum, der zu tieferliegenden Strukturen führen könnte.

Westfriedhof von Gizeh
Das Bild zeigt den Westfriedhof mit seinen zahlreichen Mastabas und Gräbern. Die nun entdeckten vermuteten architektonischen Strukturen liegen unter einem unverbauten Areal an der südlichen Mauer des Friedhofs.
Grafik: Motoyuki Sato et al.

Riesige Nekropole

Der Westfriedhof, auch bekannt als Westfeld, ist Teil der Nekropole von Gizeh und gilt als eine der bedeutendsten Begräbnisstätten des Alten Ägypten. Das westlich der Cheops-Pyramide und nördlich der Chephren-Pyramide gelegene 500 Mal 380 Meter große Areal beherbergt unter anderem die Gräber von Mitgliedern der königlichen Familie sowie zahlreicher hochrangiger Beamter und Priester der vierten Dynastie (ab 2620 vor Christus).

Das Gelände besteht aus langen Straßen mit zahllosen oberirdischen rechteckigen Stein- oder Lehmziegelstrukturen mit flachen Dächern, den sogenannten Mastabas, die sich zu Blöcken gruppieren und von anderen Straßen wie moderne Stadtblöcke gekreuzt werden. Im Süden wird das Westfeld von einer nicht sicher datierbaren Mauer begrenzt, im Osten wird es von der westlichen Umfassungsmauer des Cheops-Komplexes abgeschlossen. Im Norden bildet das steil abfallende Gelände des Giza-Plateaus eine natürliche Grenze. Dominiert wird das Westfeld von der massiven Mastaba G 2000, die offenbar für eine Person von sehr hohem Rang während der Herrschaft von Pharao Cheops oder Chephren errichtet wurde.

Verschiedene Scanmethoden

In der Mitte des Friedhofs existiert ein von der Südmauer begrenzter, relativ großer Bereich, in dem keine oberirdischen baulichen Strukturen gefunden wurden. Auf diese bisher weitgehend unerforschte Zone konzentrierte sich ein japanisch-ägyptisches Team unter der Leitung von Motoyuki Sato von der Tohoku-Universität in Japan.

Westfriedhof, Pyramiden von Chephren und Mykerinos
Der oberflächlich leere Bereich im Westfriedhof. Im Hintergrund sind links die Pyramide von Chephren und rechts weiter hinten die Pyramide von Mykerinos zu sehen.
Foto: Motoyuki Sato et al.

Anstatt jedoch traditionell mit der Schaufel ans Werk zu gehen, analysierten die Forschenden den Untergrund zwischen 2021 und 2023 mit mehreren unterschiedlichen Scanmethoden. Dazu zählten unter anderem Bodenradar (GPR) und elektrische Widerstandstomografie (ERT), bei der elektrischer Strom in den Boden geschickt und der Widerstand gemessen wird, um potenzielle Überreste aufzuspüren.

Die nun im Fachjournal Archaeological Prospection vorgestellten Ergebnisse brachten eine ganze Reihe von Seltsamkeiten ans Licht. Am auffälligsten zeichnete sich in den Scandaten ein großes L-förmiges Gebilde ab. Die Struktur liegt in etwa zwei Metern Tiefe und weist eine Größe von mindestens zehn Metern mal 15 Metern auf.

Mit Sand gefüllter Hohlraum

Allem Anschein nach handelt es sich um einen Hohlraum, der sich im Laufe der Zeit mit Sand gefüllt hat, so die Forschenden. "Das könnte Teil einer künstlichen Struktur sein, denn diese L-Form würde bei natürlichen geologischen Prozessen nicht entstehen", sagte Sato. "Wir haben zwar gehofft, etwas zu finden, aber wir haben nicht erwartet, es dort zu finden."

Doch das ist noch nicht alles, was die Forschenden entdeckt haben: Unter dem großen L scheint sich den Scandaten zufolge eine weitere Anomalie abzuzeichnen, die mit dem darüberliegenden Bereich verbunden ist. Sie liegt in rund zehn Metern Tiefe und bedeckt eine Fläche von etwa zehn mal zehn Metern. Die Forscher sind sich über die genaue Natur dieser tieferen Struktur nicht sicher. Sie könnte leer oder mit Material wie Sand und Kies gefüllt sein.

Westfriedhof von Gizeh
Eine Nahaufnahme des gescannten Areals. Im oberen Bereich der rot eingerahmten Zone ist die entdeckte L-formige Struktur zu erkennen.
Grafik: Motoyuki Sato et al.

Grabungen beginnen

"Wir glauben, dass die Kontinuität der obenliegenden Zone und der tiefen großen Struktur von Bedeutung ist", schreibt das Team in seiner Arbeit. "Anhand der Vermessungsergebnisse können wir das Material, das die Anomalie verursacht, zwar nicht bestimmen, aber es könnte sich um ein großes unterirdisches Objekt handeln."

Sato spekuliert, dass die höhergelegene Struktur als Eingangsbereich zu den darunterliegenden Konstruktion gedient hat, aber mehr könne man über die Anomalie vorerst nicht sagen. Dazu seien archäologische Ausgrabungen nötig, die mittlerweile schon in die Wege geleitet wurden. "Es ist wichtig, dass dieser Fund umgehend ausgegraben wird, um seinen wahren Zweck herauszufinden", sagte Sato. (Thomas Bergmayr, 16.5.2024)