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1 Einleitung

Es hat sich eingebürgert, den Gegenstandsbereich der Internationalen Beziehungen unter dem Gesichtspunkt seiner sozialen Konstruktion zu betrachten. Außenpolitische Entscheidungen über Krieg, Frieden oder den Beitritt zum Kyoto-Protokoll lassen sich ebenso als Ergebnis gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse analysieren wie der Formwandel des Souveränitätsprinzips, die Herausbildung trans- und supranationaler Identitäten oder die Rechtsevolution im Völkerrecht. Konstruktivistische Ansätze stehen mittlerweile gleichberechtigt neben realistischen und liberalen Perspektiven. Dadurch wird zunächst eine Öffnung des Fachs für Erkenntnisse der Sozialtheorie, der pragmatistischen Handlungs- und Erkenntnistheorie (vgl. den Beitrag von Gunther Hellmann in diesem Band), des Poststrukturalismus und zunehmend auch der normativen Theorie angezeigt. Konstruktivistische Ansätze eröffnen neue Theoriebezüge und schaffen dadurch innovative Denkmöglichkeiten, die sich als „Mehrwert“ der begrifflichen Umstellung verbuchen lassen. Auf einen zweiten Blick überrascht es jedoch, wie reibungslos der Konstruktivismus (der inzwischen häufiger im Singular auftritt), sich in den Theoriekanon der Internationalen Beziehungen hat eingliedern können. Überraschend ist diese Kanonisierung insbesondere deswegen, weil die maßgeblichen Bezugstexte durchgängig betonen, dass es so etwas wie die konstruktivistische Theorie der internationalen Politik nicht gibt. Für Autoren wie Friedrich Kratochwil und John Ruggie (1986), Nicholas Onuf (1989) oder Alexander Wendt (1987) geht es zunächst nicht um eine eigenständige Theorie der internationalen Politik, sondern um eine neue, dem Gegenstand angemessenere Form der Theoriebildung. Konstruktivismus ist dann der Sammelbegriff, unter dem sich diese unterschiedlichen Versuche, einen alternativen Modus der Theoriebildung zu etablieren, zusammenfinden. Wenn Konstruktivismus heute als Paradigma der IB gleichberechtigt neben Realismus und Liberalismus gestellt wird, ergibt sich also ein schiefes Bild. Denn es geht nicht darum, Normen und Werte als gängige Erklärungsfaktoren neben realistischen Machtkonzeptionen und liberalen Interessenkalkulationen zu etablieren. Es geht vielmehr darum, auf einer grundlegenderen Ebene über die Art und Weise nachzudenken, in der Theorie und empirische Forschung aufeinander bezogen werden können (vgl. den Beitrag von Sebastian Harnisch in diesem Band).

Welche forschungspraktischen Implikationen sich aber konkret aus der konstruktivistischen Herausforderung ergeben, ist immer noch weitgehend unklar. Zwar liegen mittlerweile umfangreiche und detaillierte empirische Forschungsergebnisse vor – etwa zur Herausbildung und Durchsetzung von Normen, zur Wirkung von Identitäten oder zur Integration von politischen Gemeinschaften. Der grundlagentheoretische Anspruch, mit dem Autoren wie Onuf, Kratochwil und Wendt angetreten waren, scheint allerdings zugunsten der Durchführbarkeit von empirischen Einzeluntersuchungen zurückgenommen. In deutlichen Worten kritisiert Colin Wight (2002, S. 40) diese Konstellation: „Unable to shake the positivist orthodoxy, because it never really understood it, the discipline simply poured the newly emerging patterns of thought into the old framework.“

Rekonstruktive Forschungslogik in dem hier vorgestellten Sinne ist der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, welche Konsequenzen die sozialtheoretische Öffnung der Internationalen Beziehungen in der konkreten Forschungspraxis nach sich zieht. Dabei geht es nicht darum, die Vorzüge eines bestimmten methodischen Verfahrens oder einer bestimmten Theorieperspektive herauszustellen. Der Begriff Forschungslogik zeigt vielmehr an, dass hier die Verknüpfung der unterschiedlichen Ebenen von Theorie, Methodologie und Methode in den Blick genommen werden soll. Rekonstruktionslogik und Subsumtionslogik lassen sich dann als idealtyptische Forschungslogiken charakterisieren, die unterschiedliche Vorstellungen davon vermitteln, wie diese Verknüpfung aussehen kann.Footnote 1 Es ist daher hilfreich, vorab die Unterscheidung zwischen Theorie, Methodologie und Methode zu klären.

Etwas verkürzt lässt sich sagen, dass Theorien in der sozialwissenschaftlichen Forschung zunächst die Funktion zukommt, Fragestellungen zu generieren.Footnote 2 Wer nicht vor der überbordenden Fülle des empirischen Materials kapitulieren will, braucht Kriterien, um das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden zu können. Theorien sind demnach keine Abbildungen, geschweige denn Modelle der Wirklichkeit, sondern abstrakte Gedankengebäude, die eine konsistente Antwort erlauben auf die Frage, was, bezogen auf ein spezifisches Forschungsinteresse, wesentlich ist. Methoden sind demgegenüber konkrete Werkzeuge der Forschung, die als Handlungsregeln bei der Auswahl und der Auswertung des empirischen Materials dienen. Methodologien liegen dann auf einer mittleren Abstraktionsebene. Sie vermitteln zwischen Theorie und Methode, indem sie Kriterien dafür entwickeln, welche methodischen Operationen zur Beantwortung einer Frage angemessen sind. Der Begriff der Forschungslogik ist also mit dem Begriff der Methodologie insofern verwandt, als es beiden um die Verknüpfung von abstrakten theoretischen Überlegungen mit den konkreten Verfahren methodisch kontrollierter Forschung geht. Methodologie und Forschungslogik stellen die Frage nach dieser Verknüpfung allerdings auf unterschiedliche Weise. Methodologischer Reflexion kommt gewissermaßen eine Übersetzerfunktion zu. In der Methodologie geht es um die Frage, wie Theorie und Methode konkret aufeinander bezogen werden können. Der Begriff der Forschungslogik zielt dagegen auf unterschiedliche Formen der Verknüpfung ab.

Subsumtionslogik und Rekonstruktionslogik stehen also für zwei konkurrierende Vorstellungen davon, wie sich Theorien zu ihrem Gegenstand verhalten. Subsumtionslogische Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass Theorie, Methodologie und Methode dem Gegenstand äußerlich sind. Was das heißt, wird überall dort besonders deutlich, wo ein einheitswissenschaftliches Leitbild postuliert wird. Dem einheitswissenschaftlichen Leitbild zufolge gibt es nur eine Logik der Forschung, die für Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften gleichermaßen gilt. Die „weichen“ Sozialwissenschaften sind also gehalten, dem Vorbild der „harten“ Naturwissenschaften nachzueifern.Footnote 3 Die Kriterien, nach denen sich die Qualität einer Forschungsleistung bemessen lässt, sind demnach völlig unabhängig davon, um welchen Gegenstand es sich handelt. Ein einfaches und wenig kontroverses Beispiel ist die Forderung nach Widerspruchsfreiheit. Ein mathematischer Satz sollte genauso wenig widersprüchlich sein wie eine theoretische Erklärung der Außenpolitik von Burkina Faso. Wenn damit nur gemeint ist, dass beides in sich stimmig sein sollte, ist dagegen tatsächlich nichts einzuwenden. Die Frage ist allerdings, wie die Kriterien für die Stimmigkeit einer Erklärung gewonnen werden. Das einheitswissenschaftliche Leitbild besagt, dass im Prinzip hier wie dort die allgemeinen Regeln der wissenschaftlichen Methode (im Singular) in Anschlag gebracht werden können. Diese Vorstellung drückt sich in der Übernahme eines mathematischen Vokabulars aus, etwa in der Rede von abhängigen und unabhängigen Variablen. Die Rede von abhängigen und unabhängigen Variablen ist in den Sozialwissenschaften heute weit verbreitet, und es wäre vermessen zu behaupten, dass all diejenigen, die sich diese Redeweise zu Eigen machen, ein ausschließlich naturwissenschaftliches Wissenschaftsideal vertreten. Dann muss man aber nach den Gründen fragen, warum trotzdem ein offensichtlich naturwissenschaftliches Vokabular Verwendung findet. Anscheinend ist es den Sozialwissenschaften noch nicht gelungen, ein spezifisch sozialwissenschaftliches Vokabular zu entwickeln, dass rhetorische Anleihen bei den Naturwissenschaften überflüssig macht. Der Begriff der Rekonstruktionslogik bezeichnet einen solchen Versuch.

Rekonstruktionslogische Forschung beginnt daher nicht mit der abstrakten Vorstellung eines Ideals von Wissenschaftlichkeit, sondern bei der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand selber. Die interne Konsistenz eines Arguments ist hier nicht weniger wichtig als im subsumtionslogischen Modell, allerdings unterscheiden sich die Kriterien grundlegend. Stimmigkeit heißt im rekonstruktionslogischen Verständnis: dem Gegenstand angemessen. Wer etwas über die Stimmigkeit einer theoretischen Erklärung der Außenpolitik Burkina Fasos aussagen will, kann das also nur im Lichte der für diesen Fall spezifischen Bedingungen tun. Diese fallspezifischen Bedingungen lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen identifizieren, deswegen folgt aus dem Bezug auf den Gegenstand keine Beschränkung auf unzusammenhängende Einzelfälle. Für eine rekonstruktionslogische Forschungsperspektive ist es völlig unerheblich, was konkret als fallspezifische Bedingung identifiziert wird – der außenpolitische Entscheidungsprozess in Burkina Faso, bestimmte Charakteristika westafrikanischer Gesellschaften, Außenpolitik ehemaliger französischer Kolonien oder allgemeiner: Außenpolitik, politisches Handeln, soziales Handeln. Eine Außenpolitikanalyse Burkina Fasos muss sich fragen, was das Spezifische an dem Gegenstand ‚Außenpolitik Burkina Fasos‘ ist ebenso wie sich ein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt ganz allgemein fragen muss, was das Spezifische an dem Erkenntnisgegenstand der Sozialwissenschaften ist. In beiden Fällen geht es darum, unvoreingenommen, neugierig und in der Bereitschaft, sich im Forschungsprozess überraschend zu lassen, die Frage zu stellen, welche Eigenschaften es sind, die einen bestimmten Untersuchungsgegenstand als Untersuchungsgegenstand interessant machen. Das ist wiederum nur eine andere Formulierung der Frage danach, was an einem Gegenstand problematisch erscheint (vgl. dazu den Beitrag von Gunther Hellmann in diesem Band). Rekonstruktionslogische Forschung ist also immer problembezogene Forschung.

In einem Beitrag über rekonstruktive Forschungslogik, der sich selber ernst nimmt, muss also in einem ersten Schritt deutlich werden, auf welches Problem die Unterscheidung zwischen Rekonstruktionslogik und Subsumtionslogik ihrerseits antwortet. Daher werde ich im ersten Teil darstellen, wie der Versuch der Internationalen Beziehungen sich als Sozialwissenschaft zu professionalisieren von der Dichotomie zwischen objektivistischer Erklärung und subjektivistischem Verstehen durchzogen war. Auf diese Weise lässt sich aufzeigen, wie die Internationalen Beziehungen durch subsumtionslogische Forschungsroutinen geprägt sind. In einem zweiten Schritt werde ich die Unterscheidung zwischen Rekonstruktionslogik und Subsumtionslogik aus dem Positivismusstreit in der deutschen Soziologie entwickeln. Abschließend werde ich kurz die Konturen einer rekonstruktiven Forschungslogik aufzeigen, die eine rekonstruktive Lektürestrategie, eine rekonstruktive Methodologie und einen rekonstruktives Verständnis von Theoriebildung umfasst.

2 Internationale Beziehungen als Sozialwissenschaft – eine kurze Problemgeschichte

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Internationalen Beziehungen, dass es immer noch Schwierigkeiten bereitet, Außenseitern zu erklären, worum es dieser Teildisziplin eigentlich geht. Als ob die Dringlichkeit der Frage nach den Ursachen von Krieg und Frieden, dem Formwandel politischer Herrschaft in der postnationalen Konstellation, den unterschiedlichen Formen politischer Gewalt nicht auf der Hand läge. Die Entwicklung des Feldes scheint nicht von derartigen Fragen bestimmt, sondern vielmehr von Großen Debatten. In diesen Großen Debatten geht es typischerweise nicht um gegenstandsbezogene Probleme, sondern um die stärker selbstbezügliche Frage, was den spezifisch wissenschaftlichen Zugriff der Internationalen Beziehungen auf diese Probleme ausmacht. Dabei ist die Frage, was als Große Debatte gelten darf, selbst heftig umstritten. Immerhin hat sich eine weithin geteilte Erzählung durchgesetzt, die die Entwicklung der Teildisziplin anhand von drei Großen Debatten beschreibt. In der ersten Debatte trugen die Realisten einen Kantersieg gegen die Idealisten davon; in der zweiten Debatte standen dank Hedley Bulls scharfer Kritik einer behavioristischen Wissenschaftskonzeption Methodenfragen im Mittelpunkt; in der dritten Debatte wurde schließlich die Frage nach dem epistemologischen Status des Wissens der Internationalen Beziehungen gestellt.

Auffällig ist, dass keine dieser Debatten in dieser Form je stattgefunden hat. Die Spannung zwischen Realismus und Idealismus dient klassischen Realisten wie Carr, Morgenthau, Herz oder Aron in der Tat als Gliederungsprinzip. Dabei bleibt die idealistische Fraktion jedoch verdächtig ruhig. Als wichtigster Text des Zwischenkriegsidealismus gilt der 14-Punkte-Plan, den Woodrow Wilson in einer Rede vor dem amerikanischen Kongress präsentiert hatte. Alfred Zimmern, einer der bekanntesten akademischen Vertreter des Idealismus und ein bevorzugtes Ziel der Polemiken von E.H. Carr ist heute weitgehend vergessen. Es findet sich eine Fülle von Belegen für die realistische Kritik an einer vermeintlich vorherrschenden idealistischen Doktrin, kaum aber die Spur eines Austauschs, der als Debatte bezeichnet werden könnte. Man gewinnt den Eindruck, die Realisten könnten die erste Debatte nur deswegen erfunden haben, um als Sieger aus ihr hervorzugehen. Das Muster wiederholt sich in der Dritten Debatte. Offensichtlich gibt es eine post-positivistische Kritik an der positivistischen Wissenschaftskonzeption. Allerdings sahen sich die Positivisten zu keinem Zeitpunkt genötigt, systematisch auf diese Kritik zu antworten. Immerhin scheint die Zweite Debatte ihren Namen zu verdienen, da sie um einen konkreten Austausch zwischen Morton Kaplan (1966) und Hedley Bull (1966) kreist. Auch hier geht es allerdings nicht darum, innerhalb einer etablierten Forschergemeinschaft methodologischen Grundprobleme zu diskutieren. Vielmehr agieren Kaplan und Bull als Vertreter zweier getrennter Forschergemeinschaften, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Kaplan vertritt einen modernen, wissenschaftlichen Zugriff, der Entwicklungen der empirischen Sozialforschung in den USA aufgreift, Bull verteidigt einen historisierenden, stärker ideengeschichtlich orientierten Ansatz, der in Großbritannien gepflegt wird. Da diese beiden Forschergemeinschaften in sich relativ geschlossen waren, ist die methodologische Spaltung zugleich eine kontinentale. Es geht also eher um die Interaktion zwischen zwei unterschiedlichen Forschergemeinschaften, in der sich die jeweiligen Positionen tendenziell verfestigen als um eine Diskussion innerhalb einer Forschergemeinschaft, die ihre Prämissen selbstkritisch zur Disposition stellt. Anhand der Zweiten Debatte lässt sich vielleicht erklären, warum es immer noch gewisse Animositäten zwischen der britischen und der US-amerikanischen IB gibt, als Methodenstreit blieb sie jedoch weitgehend folgenlos.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum die Erzählung von den Großen Debatten überhaupt weiter tradiert wird. Vielleicht deswegen, weil es so leicht ist, Widerspruch einzulegen, so dass es nachfolgenden Generationen leichter fällt, innovativ über diese Debatten hinauszugehen. Der wissenschaftssoziologische Aspekt, kommunikative Anschlussmöglichkeiten herzustellen ist sicher von Bedeutung, er kann jedoch für sich genommen den Erfolg der Erzählung von den Großen Debatten kaum erklären. Warum hält sich diese Form der Ideengeschichtsschreibung, wenn sie doch so offensichtlich defizitär ist? Ein wiederkehrendes Muster in den drei Debatten kann vielleicht Aufschluss geben. In allen drei Fällen kann sich die siegreiche Position als die strenger wissenschaftliche präsentieren. In der Ersten Debatte konstituieren sich die Internationalen Beziehungen überhaupt erst als Wissenschaft, indem sie die Gefahren ungezähmter idealistischer Spekulation erkennen und in die Schranken weisen. In der Zweiten Debatte konsolidiert sich dieser streng wissenschaftliche Charakter, indem empirischen Verallgemeinerungen Vorrang vor der Beachtung historischer Einzigartigkeit eingeräumt wird. In der Dritten Debatte werden schließlich die Herausforderungen durch subversive Strömungen des Relativismus und der postmodernen Willkür abgewehrt. Die drei Debatten lassen sich also als Ausdruck einer andauernden Anstrengung verstehen, die Internationalen Beziehungen als Wissenschaft im strengen Sinne einzurichten. Dafür spricht auch der stetig steigende Abstraktionsgrad der Debatten. In einem ersten Schritt ging es darum, den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu erheben, daran anschließend konnte darüber gestritten werden, was methodologisch und metatheoretisch daraus folgt. In allen drei Fällen erweist sich die streng wissenschaftliche Position als überlegen.

In dieser stark stilisierten Ideengeschichte geht es natürlich nicht um eine authentische Darstellung historischer Debatten; es geht vielmehr um ein wiederkehrendes Muster in der Selbstbeschreibung der Disziplin. Auf dieser Ebene lassen sich die Großen Debatten als symbolische Meilensteine des wissenschaftlichen Fortschritts darstellen. Dass sich jeweils die wissenschaftlichere Position durchsetzt, klingt wenig überraschend. Entscheidend ist für unseren Zusammenhang aber nicht das Ergebnis, sondern der Verlauf der Debatten. Wissenschaftlichkeit bewährt sich nicht am Gegenstand, sondern wir als eine abstrakte Setzung eingeführt, die dazu dient konkurrierende Positionen als unwissenschaftliche zu diskreditieren, ohne sich argumentativ mit ihnen im Detail auseinandersetzen zu müssen.

Am deutlichsten tritt dieser Anspruch auf wissenschaftliche Autorität dort auf, wo eine einheitswissenschaftliche Position vertreten wird. Unter dem Dach einer solchen einheitswissenschaftlichen Position sind zwar unterschiedliche Forschungsstile möglich, sie lassen sich jedoch sämtlich auf die eine Logik des wissenschaftlichen Schließens rückbeziehen. Die konsequenteste Formulierung dieser Position findet sich bei King, Keohane und Verba (1994, S. 6): „Precisely defined statistical methods that undergird quantitative research represent abstract formal models applicable to all kinds of research, even that for which variables cannot be measured quantitatively“. Statistischen Verfahren wird damit ein allgemeingültiges Modell der Forschung abgelesen, das quantitative und qualitative Forschung gleichermaßen begründet. Es kann nicht überraschen, dass qualitative Forschung dabei notorisch schlechter abschneidet. „The very abstract, and even unrealistic, nature of statistical models is what makes the rules of inference shine through more clearly“ (ebd.). Nachdem sie einen der quantitativen Sozialforschung entlehnten Begriff des Schließens als Ziel der Wissenschaft identifiziert haben, erwähnen King, Keohane und Verba eine Reihe von Einschränkungen und Vorbehalten. Da wissenschaftliche Schlüsse selbst dort unsicher bleiben, wo die Regeln der wissenschaftlichen Methode sorgfältig befolgt werden, gelten Forschungsergebnisse immer nur vorläufig. Das ist wenig überraschend. Interessant ist dann allerdings die Frage, wie mit dieser Unsicherheit umzugehen ist:

„Without a reasonable estimate of uncertainty, a description of the real world or an inference about a causal effect in the real world in uninterpretable. A researcher who fails to face the issue of uncertainty directly is either asserting that he or she knows everything perfectly or that he or she has no idea how certain or uncertain the results are. Either way, inferences without uncertainty estimates are not science as we define it“ (King et al. 1994, S. 9, Hervorhebung B.H.).

Wenn sie schon dem Problem der Unsicherheit wissenschaftlichen Wissens nicht entrinnen können, sollen Wissenschaftler also das tun, was sie vermutlich am besten können: die Regeln der wissenschaftlichen Methode anwenden. Dadurch entsteht ein Autologieproblem. Die von King, Keohane und Verba vorgeschlagene Lösung des Unsicherheitsproblems kollabiert, sobald man sie auf sich selbst anwendet. Wenn wissenschaftliches Wissen notwendig und unausweichlich mit Unsicherheit behaftet ist und Wissenschaftler daher gehalten sind, ihre Instrumente einzusetzen, um das genaue Maß an Unsicherheit zu bestimmen, dann dürfen diese Instrumente ihrerseits nicht dem Unsicherheitspostulat unterliegen. Wenn das der Fall ist, wäre es mit der Unsicherheit wissenschaftlichen Wissens nicht so weit her, wie King, Keohane und Verba behauptet haben. Das Problem verpufft gewissermaßen beim Versuch seiner Lösung.Footnote 4

King, Keohane und Verba umschiffen dieses Problem, indem sie es auf eine andere Ebene verlagern. Der Inhalt der Wissenschaft, behaupten sie, sei die Methode. „Finally, scientific research adheres to a set of rules of inference on which its validity depends. Explicating the most important rules is a major task of this book“ (ebd.). Der Zweck der Methode besteht also darin, die Übereinstimmung mit einer bestimmten Konzeption von Wissenschaftlichkeit zu sichern, nämlich die Übereinstimmung mit dem einheitswissenschaftlichen Modell der Forschung. Über die Welt, die erklärt werden soll, erfahren wir dabei zunächst nicht viel – eigentlich nur, dass sie außerordentlich komplex ist. Offensichtlich herrscht in der wirklichen Welt ein derartiges Durcheinander, dass methodische Forschung zunächst Komplexität reduzieren muss, um mit der Forschung beginnen zu können. Der Gegenstand muss also so zurechtgeschnitten werden, dass er methodisch bearbeitbar wird. Erst dann lassen sich valide Schlussfolgerungen über empirische Gesetzmäßigkeiten gewinnen. King, Keohane und Verba führen also ein Verständnis von Forschung ein, in dem die Methode zwar im Mittelpunkt steht, dem Forschungsgegenstand aber völlig äußerlich bleibt. Es scheint eigentlich gar nicht darauf anzukommen, was untersucht wird, solange den Regeln der wissenschaftlichen Methode ordnungsgemäß Folge geleistet wird. Mit Bezug auf Karl Pearson halten King et al. (1994), S. 9 daher fest, dass „the field of science is unlimited; its material is endless; every group of natural phenomena, every phase of social life, every stage of past or present development is material for science. The unity of science consists alone in its method, not in its material.“

Daran schließt sich ein umfangreicher Katalog von Regeln des wissenschaftlichen Schließens an, der aber größtenteils ex negativo gewonnen wird. Was gute wissenschaftliche Praxis ausmacht, zeigt sich exemplarisch an der Verletzung ihrer Regeln. Die Regeln des wissenschaftlichen Schließens bestehen daher überwiegend aus einem feingliedrigen Verbotskatalog. Um schließlich zu unbefangenen (unbiased) Ergebnissen zu gelangen, müssen zunächst unterschiedlichste Formen des selection bias vermieden werden (etwa die Fallauswahl entlang der abhängigen Variable). Darüber hinaus sind Messfehler und der omitted variable bias zu umschiffen und das Endogenitätsproblem zu bewältigen. Man muss diese komplexen Operationen nicht bis ins Detail nachvollziehen, um zu erkennen, dass wissenschaftliche Forschung im Wesentlichen eine fortdauernde Anstrengung erfordert. Wenn man sich diesen Mühen unterzieht, scheint jedoch die Hoffnung auf gesicherte Ergebnisse, die den Kriterien der Validität und der Reliabilität genügen, als Licht am Ende des Tunnels auf.

„Fortunately, the appropriate methodological issues for qualitative researcher to understand are precisely the ones that all other scientific researchers need to follow. Valid inference is possible only so long as the inherent logic underlying all social scientific research is understood and followed“ (King et al. 1994, S. 230).

Die Einschränkungen, die methodisch aus dem einheitswissenschaftlichen Postulat folgen, übersetzen sich unmittelbar in ein bestimmtes Theorieverständnis. Die Aufgabe wissenschaftlicher Theorien besteht darin, Hypothesen zu generieren, die sich empirisch überprüfen lassen. Zulässig ist, was sich einem deduktiv-nomologischen Modell der Forschung einfügen lässt. Stephen Van Everas kurzer Text zur Einführung in das methodische Handwerk der Sozialwissenschaften zeichnet sich dadurch aus, dass er immerhin kein Blatt vor den Mund nimmt: „A ‚theory‘ that cannot be arrow-diagrammed is not a theory and needs reframing to become a theory“ (Van Evera 1997, S. 14). Warum könnte es problematisch sein, dass sich Theorien nicht in vereinfachter grafischer Form darstellen lassen? Gegenstandsbezogene Überlegungen spielen dabei keine Rolle. Auch hier ist der Maßstab äußerlich, bemängelt wird allein die fehlende Übereinstimmung mit einem extern vorgegebenen Standard. Die Möglichkeit sich durch den Gegenstand überraschend zu lassen, wird auf diese Weise minimiert.Footnote 5

Ein Modell der Forschung, das so sehr auf äußeren Konventionen beharrt, lädt offensichtlich zur Kritik ein. Am Ausgangspunkt ihrer Kritik der einheitswissenschaftlichen Perspektive, betonen Hollis und Smith (1990, S. 1) daher die Anschlussfähigkeit verstehender Sozialforschung an die unmittelbare Alltagserfahrung.

„The media tell it whenever they present international relations as a dramatic encounter between world leaders who personify their countries … The air of human drama and of history in the making is especially potent in times of crisis, when leaders can be shown locked in combat, for example Reagan with Gaddafi over the US bombing of Lybia in April 1986.“

Ein verstehender Zugang zu derartigen Alltagserfahrungen steht für Hollis und Smith gleichberechtigt neben dem deduktiv-nomologischen Modell. Indem sie das hermeneutische Verstehen als Gegenbegriff zur wissenschaftlichen Erklärung einführen, bleiben Hollis und Smith jedoch im Bannkreis des orthodoxen Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften. Die interne Perspektive des hermeneutischen Verstehens erfordert zunächst nicht mehr als ein vages, intuitives Gefühl für die spezifische Situation. Weiche Kriterien, wie das Einfühlungsvermögen des Forschers, lassen sich auf das Sprachspiel der strengen methodischen Kontrolle bewusst nicht ein und versprechen im Gegenzug einen Zugewinn an phänomenologischer Trennschärfe. Dabei bleibt jedoch unklar, wie eine solche Perspektive der ersten Person überhaupt erreicht werden kann. Hollis and Smith begründen ausführlich, warum neben der Tradition des Erklärens auch die Tradition des Verstehens als legitime Forschungshaltung anerkannt werden sollte. Damit überlassen sie das Feld der methodisch kontrollierten Forschung jedoch den Positivisten. Obwohl sie zu ganz anderen Schlussfolgerungen gelangen als King, Keohane und Verba übernehmen Hollis und Smith damit die grundlegenden Unterscheidungen, auf denen die einheitswissenschaftliche Konzeption beruht. Auf der einen Seite steht die Wissenschaft im strengen Sinne, auf der anderen Seite steht das Unwissenschaftliche. Sobald diese Unterscheidung als gültig anerkannt ist, wird die Begründungslast asymmetrisch verteilt. Wer das naturwissenschaftlich orientierte Modell der Wissenschaft im strengen Sinne ablehnt, muss begründen, warum er sich mit weicheren Kriterien zufrieden gibt.

3 Der Positivismusstreit in den Internationalen Beziehungen

Bevor deutlich werden kann, inwiefern mit den Mitteln einer rekonstruktiven Forschungslogik ein hilfreiches Instrumentarium zur Überwindung dieses Dilemmas zur Verfügung steht, ist es vielleicht hilfreich, sich den Gang der Debatte noch einmal zu vergegenwärtigen. In der Schlussfolgerung seines einflussreichen Artikels zum agent-structure problem in international relations theory fügt Wendt (1987) eine überraschende Wendung ein. Viel wichtiger als das titelgebende Problem, das der Aufsatz für die Theoriediskussion der Internationalen Beziehungen zugänglich machen sollte, sogar von „potenziell revolutionärer“ Bedeutung, so Wendt, sei die Grundlegung seiner Perspektive auf die wechselseitige Konstitution von Handlung und Struktur in der wissenschaftstheoretischen Position des scientific realism. Es gehe nicht nur um das gegenstandsbezogene Problem, wie Akteure, Strukturen und sozialer Wandel angemessen zu begreifen sind, sondern auch um die metatheoretische Frage, welche Form des Theoretisierens dafür angemessen ist. „The hegemony of empiricist discourse in social science has led social scientists into an apparent dichotomy between ‚science‘ (that is, empiricist science) and the allegedly ‚un-scientific‘ paradigms of hermeneutics and critical theory … Scientific realism, then, offers an alternative to the standard positions in the Positivismusstreit, one which enjoins social scientists to think ‚abductively‘ about ‚causal mechanisms‘ to build their theories, instead of trying to find law-like generalizations about observable regularities“ (Wendt 1987, S. 370). Wendt stellt sich also weder auf die Seite des Positivismus noch auf die seiner Kritiker. Er liegt allerdings insofern näher an der Frankfurter Position, als er die Position des scientific realism als „inhärent kritisch“ beschreibt. „(I)t requires a critique and penetration of observable forms to the underlying social structures which generate them. An implication of scientific realism, then, is that ‚critical theory‘ (in a broad sense) is essential to the development of social science, and by extension international relations, as a ‚science‘“ (ebd.).

Nach gut zwanzig Jahren konstruktivistisch inspirierter Forschung lässt sich feststellen, dass Wendts Selbsteinschätzung offensichtlich nicht zutrifft. Zwar sind die verschiedenen Spielarten des wissenschaftstheoretischen Realismus in den metatheoretischen Debatten der Internationalen Beziehungen prominent vertreten. Dass diese Debatten sich weitgehend in dem Bereich abspielen, den Albrecht Wellmer (1977) treffend als Schattenreich der Metatheorie bezeichnet hat, zeigt jedoch an, wie wenig sichtbar die revolutionären Folgen sind, die Wendt vor Augen hatte. Wendts Arbeiten waren außerordentlich folgenreich, sofern sie maßgeblich dazu beigetragen haben, konstruktivistische Forschungsperspektiven in den Internationalen Beziehungen zu etablieren. Rückblickend lässt sich allerdings kaum sagen, dass die „hegemony of empiricist discourse“ dadurch wesentlich erschüttert worden wäre. Vielmehr scheint das ursprüngliche Programm in zwei Teile zerfallen zu sein. Das Interesse an der wechselseitigen Konstitution von Handlung und Struktur konkretisierte sich in Forschungsprojekten, die intersubjektiv geteilte Normen und Werte in den Blick nahmen. Auf der metatheoretischen Diskussionsebene wurde gleichzeitig die realistische Forderung wiederholt, tieferliegende Kausalmechanismen in den Mittelpunkt zu rücken. Die von Wendt eingeforderte Auseinandersetzung mit dem Positivismusstreit hat auf diese Weise allerdings gerade nicht stattgefunden. Der von Wight bemängelten Fortsetzung positivistischer Forschungsroutinen korrespondiert eine weitgehend verselbstständigte metatheoretische Debatte, in der allgemeine wissenschaftstheoretische Kontroversen ausgefochten werden, die zu Problemen der Internationalen Beziehungen keinen spezifischen Bezug mehr aufweisen.

Die Lage verkompliziert sich noch zusätzlich dadurch, dass Wendt auf die Positionen des Positivismusstreits nur anekdotisch Bezug nimmt. Seine Gegenüberstellung von naturwissenschaftlichem Objektivismus und kritisch-hermeneutischem Subjektivismus scheint sich eher auf IB-spezifische Traditionslinien zu beziehen als auf den Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Für Wendt scheint die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen (scientific!) und kritischen Perspektiven parallel zu laufen zu der gängigen Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich der wissenschaftstheoretische Realismus als das Versprechen einführen, über die sorgfältige Analyse sozialer Fakten ein methodologisches Schisma zu überwinden, das uns seit den erkenntnistheoretischen Debatten des 19. Jahrhunderts begleitet hat. In losem Anschluss an Emile Durkheim lassen sich soziale Fakten als eigenlogische Realitätsebene begreifen, die weder auf subjektive Sinneseindrücke noch auf objektive Naturereignisse reduziert werden kann. Soziale Fakten als einen möglichen Forschungsgegenstand anzuerkennen, erlaubt es dann, die Sozialwissenschaften als eine systematische Wissenschaft von den sozialen Fakten einzurichten und von den spekulativen Geisteswissenschaften zu unterscheiden.

Wendt versucht nun, genau diesen Vorgang der Emanzipation der Sozialwissenschaften für die Internationalen Beziehungen zu wiederholen. Gegen die Dichotomie von objektiver Erklärung und subjektivem Verstehen führt er die Idee der wechselseitigen Konstitution von Handlung und Struktur ein. Damit ist allerdings gerade nicht die Konfliktlinie im Positivismusstreit benannt. Denn die Differenzen zwischen Popper und Adorno nehmen bei der Bestimmung der Sozialwissenschaften über die systematische Analyse sozialer Fakten erst ihren Ausgangspunkt. Natürlich geht es auch im Positivismusstreit um die Frage, wo die Grenzen legitimer Forschungspraxis verlaufen. Dabei stimmen Popper und Adorno allerdings nicht nur hinsichtlich der Analyseebene überein. Sie vertreten zudem beide, wenn auch auf radikal unterschiedliche Weise, einen problembezogenen Begriff von Forschung.

Als Positivismusstreit in der deutschen Soziologie wird eine Auseinandersetzung bezeichnet, die sich zunächst zwischen Theodor W. Adorno und Karl Popper auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Tübingen 1961 entspinnt. Beide sind eingeladen, zur Logik der Sozialwissenschaften zu sprechen. Beobachter, die einen frontalen Zusammenprall zwischen dialektischer Theorie der Gesellschaft und Kritischem Rationalismus erwartet hatten, wurden jedoch enttäuscht. Adorno, der über ein ausgeprägtes kultursoziologisches Gespür für die sensationslüsterne Erwartungshaltung verfügt, greift diese Enttäuschung in seinem Einleitungskapitel zu einem Sammelband, der die zentralen Texte der Debatte zugänglich macht, auf. Er gesteht ein, dass eine wirkliche Diskussion nicht stattgefunden habe und führt dies auf zwei Besonderheiten der Begegnung zurück. Zunächst hätten sowohl Popper als auch er selbst versucht, gemeinsame Bezugspunkte zu identifizieren anstatt die Inkommensurabilität ihrer konkurrierenden Positionen zu behaupten. Zudem hätten es beide womöglich versäumt, einen klaren Bezug zu sozialwissenschaftlichen Forschungsproblemen herzustellen. Diese vorbereitenden Bemerkungen zeigen bereits an, wie sehr sich der Positivismusstreit von IB-spezifischen Kontroversen unterscheidet. Anstatt künstlich eine paradigmatische Konfrontation aufzubauen, identifizieren Popper und Adorno zunächst gemeinsame Bezugspunkte und werden überraschend fündig. Beide sehen für die Sozialwissenschaften eine Logik sui generis vor, die sich weder auf naturwissenschaftliche noch auf geisteswissenschaftliche Forschungstraditionen reduzieren lässt. Zudem teilen beide ein Interesse an gegenstandsbezogener Forschung.Footnote 6

Beide weisen den neokantianischen Dualismus von Erklären und Verstehen zurück und entwickeln je eigene Konzeptionen des Sozialen. Dabei erinnert Poppers trennscharfe Unterscheidung zwischen Natur, Psyche und objektiven sozialen Tatsachen, die er als drei unabhängige Realitätsebenen auffasst, durchaus an Versuche der kritischen Realisten, Unbeobachtbares als Forschungsgegenstand der Internationalen Beziehungen zu etablieren. Adornos Begriff der Totalität dagegen entzieht sich jeder ontologischen Festlegung. „Die gesellschaftliche Totalität führt kein Eigenleben oberhalb des von ihr Zusammengefaßten, aus dem sie selbst besteht. Sie produziert und reproduziert sich durch ihre einzelnen Momente hindurch“ (Adorno 1962, S. 549). Verallgemeinerung und die Betonung Einzigartigkeit des Besonderen stehen sich demnach nicht als widerstreitende methodologische Optionen gegenüber; sie verweisen wechselseitig aufeinander und müssen in der Analyse sozialer Prozesse gleichermaßen zur Geltung kommen.

Grundlegende Unterschiede zeigen sich auch in den jeweiligen Verständnissen gegenstandsbezogener Forschung. Popper nimmt eine skeptische Position ein, die ihn zur strikten Ablehnung mythologischer und metaphysischer Restbestände in der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Sprache führt. Aus diesem Grund schlägt Popper das Falsifikationsprinzip als logischen Ausweg aus dem Humeschen Induktionsproblem vor. Induktive Schlüsse erfordern zu einem bestimmten Zeitpunkt den ungesicherten Sprung von einer beobachteten Regelmäßigkeit zur Formulierung einer logischen Gesetzmäßigkeit. Dieser Sprung bleibt notwendig spekulativ, denn wir können niemals wissen, wann der Prozess der Verifikation abgeschlossen ist und ein Satz als wahr gelten kann. Das Falsifikationsprinzip löst dieses Problem, indem es die Inferenzkette umkehrt und unterstellt, dass der Satz falsch sein könnte. Gesucht wird also nicht mehr nach empirischer Bestätigung, sondern nach Evidenzen, die einen Satz eindeutig widerlegen. Dadurch wird spekulatives Wissen schrittweise von wissenschaftlichem Wissen getrennt. Es bleiben nur diejenigen Wissensbestände übrig, die sich nicht widerlegen lassen. In späteren Arbeiten hat Popper zugestanden, dass sich sowohl das Falsifikationsprinzip wie auch das Verifikationsprinzip auf eine logic of confirmation beziehen (die immer zugleich eine logic of disconfirmation ist). Der logic of confirmation sei eine logic of discovery logisch vorgeordnet. Im Anschluss an Charles Peirce geht es dabei um die Bedingungen unter denen die Gültigkeit unseres Wissens in Frage gestellt wird. Damit nähert sich Popper einem Verständnis von problembezogener Forschung an, das auch für Adornos methodologische Arbeiten grundlegend ist.

Allerdings fasst Adorno seinerseits den Skeptizismus, von dem Popper ausgeht, als Ausgangsproblem auf. Der abstrakte Primat der Methode erweise sich praktisch als Hemmschuh offener Forschung.

„Das in der empirischen Technik allgemein gebräuchliche Verfahren der operationellen oder instrumentellen Definition, das etwa eine Kategorie wie ‚Konservatismus‘ definiert durch bestimmte Zahlenwerte der Antworten auf Fragen innerhalb der Erhebung selbst, sanktioniert den Primat der Methode über die Sache, schließlich die Willkür der wissenschaftlichen Veranstaltung. Prätendiert wird, eine Sache durch ein Forschungsinstrument zu untersuchen, das durch die eigene Formulierung darüber entscheidet, was die Sache sei: ein schlichter Zirkel“ (Adorno 1957, S. 201).

Charakteristisch für Adornos Positivismuskritik ist, dass er nicht auf dieser Ebene formaler Kritik stehen bleibt. Die Subsumtion unter standardisierte Forschungstechniken ist dabei kein bloß methodologisches Problem. Sie ist zugleich Ausdruck einer subtilen Form gesellschaftlicher Hierarchisierung. Der „Taylorismus des Geistes“ (Adorno und Horkheimer 1969, S. 279) wendet das Prinzip der Arbeitsteilung auf den Forschungsbetrieb an und bereitet damit eine Form der Wissensproduktion vor, die sich den Vorgaben der administrativen Rationalität andient.

„Um zu quantitativen Aussagen zu gelangen, muß immer erst von qualitativen Differenzen der Elemente abgesehen werden; und alles gesellschaftlich Einzelne trägt die allgemeinen Bestimmungen in sich, denen die quantitativen Generalisierungen gelten. Deren Kategorien sind selbst allemal qualitativ. Eine Methode, die dem nicht gerecht wird und etwa die qualitative Analyse als mit dem Wesen des Mehrzahlbereichs unvereinbar verwirft, tut dem Gewalt an, was sie erforschen soll“ (Adorno 1957, S. 204 f., ähnlich Habermas 1973).

Das Dilemma subsumtionslogischer Forschung lässt sich also nicht einfach dadurch beheben, dass in den Forschungsprozess die Möglichkeit seines Scheiterns methodisch eingebaut wird, etwa indem man die Bedingungen angibt, unter denen eine Hypothese als widerlegt gelten kann. Selbst dort, wo die Selbstwiderlegungsversuche auf die Spitze getrieben werden, ändert sich doch nichts daran, dass der Forschungsgegenstand nur im Hinblick darauf in den Blick gerät, ob er sich mit einer von außen an ihn herangetragenen Hypothese in Übereinstimmung bringen lässt. Dadurch werden Forschungsgegenstände auf Datenpunkte zurechtgestutzt, deren Qualität sich vor allem danach bemisst, inwiefern sie Aussagen über die Treffsicherheit der äußerlich vorgegebenen Hypothese zulassen. Rekonstruktionslogische Forschung lehnt genau diesen Schritt der Reduktion des Gegenstands auf einen eindeutigen Datenpunkt ab. „Sie muß die Starrheit des hier und heute fixierten Gegenstands auflösen in ein Spannungsfeld des Möglichen und des Wirklichen: jedes von beiden ist, um nur sein zu können, aufs andere verwiesen“ (Adorno 1957, S. 197). Indem Forschungsgegenstände unter dem Doppelaspekt von Wirklichkeit und Möglichkeit betrachtet werden, rückt die Frage in den Mittelpunkt, warum aus einem Spektrum gegebener Möglichkeiten genau eine Option aktualisiert wurde. An die Stelle der Vorstellung, dass sozialwissenschaftliche Forschung darauf abzielt, empirische Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, tritt dann die gegenstandsbezogene Explikation alternativer Möglichkeiten. Rekonstruktionslogische Forschung bleibt aber nicht bei der Explikation alternativer Möglichkeiten stehen. Die Platitude, nach der es auch anders hätte kommen können, wird erst dann interessant, wenn sie die Anschlussfrage nach sich zieht, warum es denn dann genau so und eben nicht anders gekommen ist. Das Aufbrechen des Gegenstands in die Dimensionen von Wirklichkeit und Möglichkeit verweist also immer zugleich darauf, dass alternative Entwicklungen möglich sind und darauf, dass bestimmte gesellschaftliche Kräfte die konkret beobachtbare Entwicklung motiviert haben müssen. Theorien, die auf diese Art und Weise rekonstruktiv ansetzen, sind Adorno zufolge „unabdingbar kritisch“ (ebd.).

Theorie ist unabdingbar kritisch, da sie auf die Erschließung und Durchdringung der Fakten zielt, anstatt auf ihre bloße Verdopplung. Für Adorno bezieht sich die Kritik der Theorie daher immer auch auf das subsumtionslogische Modell, auf dem die positivistische Forschungslogik aufruht. Das subsumtionslogische Modell leitet seine Kriterien aus abstrakten Vorstellungen darüber ab, was gute wissenschaftliche Praxis auszeichnet. Dadurch werden ebendiese Vorstellungen darüber, was gute wissenschaftliche Praxis auszeichnet, der Kritik entzogen. In seiner scharfen Kritik des subsumtionslogischen Modells wird Adorno den rekonstruktionslogischen Elementen in Poppers Argumentationsgang nicht immer gerecht. Selbst wenn seine Kritik Popper verfehlt, so trifft sie doch die einheitswissenschaftliche Position, die in den Internationalen Beziehungen noch heute vertreten ist. Das zeigt sich etwa am Beispiel des verzagten Eingeständnisses von King, Keohane und Verba (1994, S. 16), dass Forschung mehr sei als methodische Kontrolle:

„Brilliant insights can contribute to understanding by yielding interesting new hypotheses, but brilliance is not a method of empirical research. All hypotheses need to be evaluated empirically before they can make a contribution to knowledge. This book offers no advice on becoming brilliant. What it can do, however, is to emphasize the importance of conducting research so that it constitutes a contribution to knowledge.“

Adorno (1957, S. 212) hat eine direkte Antwort parat:

„Absurd aber ist die Antithese von großartiger Inspiration und gediegener Forscherarbeit selber. Die Gedanken kommen nicht angeflogen, sondern kristallisieren sich, auch wenn sie plötzlich hervortreten, in langwährenden unterirdischen Prozessen. Das Jähe dessen, was Researchtechniker herablassend Intuition nennen, markiert den Durchbruch der lebendigen Erfahrung durch die verhärtete Kruste der communis opinio.“

Ideen, Einfälle, letztlich: Argumente sind also nicht spontane, genialische Eingebungen, deren Auftreten unerklärlich bleiben muss. Sie sind viel mehr das Ergebnis einer ausdauernden Forschungstätigkeit, die sich nicht auf die bloße Anwendung eines technisch-methodischen Instrumentariums reduzieren lässt.

4 Drei Dimensionen rekonstruktionslogischer Forschung

Aus dieser vorläufigen Bestimmung einer rekonstruktiven Forschungslogik ergibt sich eine präsentationsstrategische Schwierigkeit. Die Forderung, vom Gegenstand, also von konkreten Forschungsproblemen her zu denken, lässt sich nur schwer verbinden mit dem Erfordernis einer überblicksartigen Darstellung. Denn der Versuch kurz, bündig und thesenartig vorzustellen, was die „Eckpunkte“ einer rekonstruktiven Forschungslogik sind, würde selbst in subsumtionslogische Argumentationsroutinen verfallen. Damit wäre nicht nur der Idee einer rekonstruktiven Forschungslogik ein Bärendienst erwiesen, sondern zugleich die Unterscheidung zwischen Rekonstruktionslogik und Subsumtionslogik diskreditiert. Der ganze Aufwand, eine rekonstruktionslogische Forschungsperspektive zu begründen, liefe dann Gefahr, dem überkommenen Spiel der Paradigma-Konfrontation nur ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Rekonstruktionslogik wäre bloß ein weiteres Etikett, das man bestimmten Positionen oder Personen anheften kann, um „Verbündete“ und „Gegner“ auseinanderhalten zu können ohne sich auf die Mühen einer argumentativen Auseinandersetzung einlassen zu müssen.

Darum soll es nicht gehen. Um das zu verdeutlichen, ist es zunächst hilfreich, daran zu erinnern, dass Rekonstruktionslogik und Subsumtionslogik keine Lagerbegriffe sind, sondern unterschiedliche Forschungslogiken markieren. Es wäre also unsinnig, einzelne Personen als Rekonstruktionslogiker auszuzeichnen oder bestimmte Texte als subsumtionslogisch abzuqualifizieren, denn ein solches Lagerdenken wäre selbst subsumtionslogisch. Die Konturen einer rekonstruktiven Forschungslogik schärfern sich vielmehr gerade dort, wo es gelingt, ein derartiges Lagerdenken zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund lassen sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, drei Dimensionen identifizieren, in denen sich eine rekonstruktive Forschungslogik bewähren muss.

5 Rekonstruktion bestehender Theorien

Bereits Kant hatte darauf hingewiesen, dass die Qualität unserer Antworten abhängt von der Qualität der Fragen, die wir stellen. Der phänomenologische Impuls, die Sachen selbst zum Sprechen bringen zu wollen, gelangt an seine logischen Grenzen, sobald man ihn ernst nimmt. Die Sachen sprechen nicht. Nur wir sprechen. Daher die Notwendigkeit, Fragen zu formulieren, um Forschungsprojekte entwickeln zu können. Wenn man die Entwicklung von Forschungsfragen nicht als Eingebungen mystifizieren will, so wie King et al. dies tun, stellt sich also die Frage, woher Forschungsfragen eigentlich kommen. Hartnäckige Empiristen verweisen gelegentlich darauf, dass selbst Forschungsfragen im Feld generiert werden sollten. Ein solches Tabula-rasa-Modell der Forschung verschiebt das Problem allerdings nur, ohne es direkt anzugehen. Was passiert denn „im Feld“, wenn sich Forschungsfragen aus ihm ergeben? Bei der Entwicklung von Fragestellungen und Kategorien auf offener See ist man notwendig auf verfügbare Begrifflichkeiten und Erfahrungen angewiesen. Das Medium, über das ein systematischer Rückgriff auf Begrifflichkeiten und Erfahrungen möglich wird, ist die Theorie. Wenn die Grounded Theory mit Recht auf eine Grundlegung der Theoriebildung in der Feldforschung pocht, darf also nicht aus dem Blick geraten, dass dabei immer schon eine umgekehrte Grundlegung der Forschungspraxis in theoretischen Diskursen vorausgesetzt ist. Forschungsfragen und -probleme entstehen gleichermaßen aus theoretischen Vorüberlegungen und aus der Konfrontation mit dem konkreten Material (vgl. den Beitrag von Ulrich Franke und Ulrich Roos in diesem Band).

Solch eine umgekehrte Grundlegung der Forschung in theoretischen Diskursen, die etwa in der von Anselm Strauss vertretenen Variante der Grounded Theory auch explizit vorgesehen ist, kann ihrerseits rekonstruktionslogisch oder subsumtionslogisch sein. Eine weit verbreitete subsumtionslogische Form des Umgangs mit Theorie in den Internationalen Beziehungen ist der Paradigmatismus (vgl. dazu auch den Beitrag von Gunther Hellmann in diesem Band).

Paradigmatismus äußert sich in der Forschungspraxis wesentlich in der Form der Verteidigung von Lieblingsvariablen. Faktoren wie Macht, Interessen oder Normen werden bestimmten paradigmatischen Schulen zugeordnet, so dass man etwa Erklärungen, die auf den Faktor Macht verweisen, eindeutig der realistischen Schule subsumieren kann. Die oben kurz skizzierte Entwicklung des Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen lässt sich vor diesem Hintergrund als „erfolgreiche“ Sozialisierung in die paradigmatistischen Forschungsroutinen der Internationalen Beziehungen begreifen. Alexander Wendt hatte seine Vorstellung konstitutionstheoretischer Forschung noch explizit von den paradigmatistischen Grabenkämpfen abgegrenzt (Wendt 1998, 1999: Abschn. 3).

Um einer engen Vorstellung von empirischer Forschung entsprechen zu können, wie sie etwa von King, Keohane und Verba vertreten wird, wurde es notwendig, die „observable outcomes“ darzulegen, die sich mithilfe weicher Faktoren wie Normen, Ideen oder Identitäten erklären lassen. Damit werden Normen, Ideen und Identitäten zu kausal wirksamen Faktoren heruntergestuft, die sich reibungslos in ein deduktiv-nomologisches Wissenschaftsmodell einfügen lassen. Wer über Normen redet, redet also tendenziell nicht mehr über Macht und Herrschaft. Die theoretisch spannende Frage, welcher Zusammenhang zwischen Norm und Herrschaft besteht, gerät dann allzu leicht aus dem Blick.

Vergleichbare Fallstricke ergeben sich, wenn konkurrierende Gesellschaftstheorien als intellektuelle Ressourcen angezapft werden. Der schroffe Antagonismus zwischen linksrheinischen und rechtsrheinischen Diskursbegriffen (exemplarisch: Foucault und Habermas) erinnert auf jeden Fall deutlicher an die alten Routinen der Kabinettspolitik als es in der Auseinandersetzung zwischen zwei Kommunikationstheorien zu erwarten wäre. In der deutschen Debatte hat die Konfrontation zwischen Frankfurter Schule und Systemtheorie teilweise ähnliche Züge angenommen.

Jürgen Habermas, der an beiden Debatten zentral beteiligt ist, hat einen Begriff von Rekonstruktion entwickelt, die im Wesentlichen auf eine bestimmte Form der Auseinandersetzung mit bestehenden Theorien abzielt. In seiner Kritik des historischen Materialismus versucht Habermas (1976), dessen produktive Einsichten beizubehalten, gleichzeitig aber von den Elementen zu befreien, die ihm als Ausdruck eines überkommenen Vertrauens in die Geschichtsphilosophie erscheinen. Um dieses doppelte Ziel zu erreichen, entwickelt Habermas eine Lektürestrategie, die komplexe theoretische Argumentationszusammenhänge daraufhin untersucht, wie sie an den selbst gesteckten Zielen scheitern. In einem ersten Schritt identifiziert eine rekonstruktive Lektüre daher eine Lücke zwischen dem Potential einer Theorie, produktive Fragen aufzuwerfen, und ihrer Fähigkeit, überzeugende Antworten darauf zu geben. In einem zweiten Schritt wird die in ihre Bestandteile zerlegte Theorie so wieder zusammengesetzt (re-konstruiert), dass die produktive Fragestellung sichtbar bleibt, gleichzeitig aber die Sackgassen des Ursprungsprojekts vermieden werden.Footnote 7

In einem Aufsatz über die Bedeutung Adornos für die empirische Sozialforschung bringt Ulrich Oevermann das Anliegen einer rekonstruktiven Lektürestrategie konzise auf den Punkt. Oevermann, dessen Auseinandersetzung mit Adorno ganz im Lichte seiner Bemühungen um die Begründung einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik steht, unterscheidet seinen Zugriff von stärker rückwärtsgewandten Alternativen:

„Dieses Unterfangen ist also darauf aus, Adornos Position zu aktualisieren und für die Zukunft fruchtbar zu machen. Es kümmert sich nicht darum, Adornos Denken im Sinne eines Memorials historisch im Zusammenhang seiner zeitgenössischen Problemlage zu würdigen, es ist schon gar nicht hagiografisch angelegt, und es darf sich nicht scheuen, dort, wo Einwände sich aufdrängen, sie auch zu benennen. Allerdings ist diese Form der Kritik nicht als eine grundsätzliche an Adornos Position motiviert und misszuverstehen, sondern als eine, die versucht, den von ihr vorgezeichneten Weg für die sozialwissenschaftliche Forschungspraxis gangbarer zu machen“ (Oevermann 2004, S. 189).

Ein rekonstruktiver Umgang mit Theorie schert sich also nicht darum, wo eine Autor ideologisch oder paradigmatisch steht, sondern hält unbeirrt an der konkret interessierenden Problemstellung fest und fragt danach, wie ein Text seine selbstgesetzten Ziele besser erreichen könnte.

6 Rekonstruktive Methodologie – Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck

Auf der methodologischen Ebene interessiert sich eine rekonstruktive Perspektive für die Erschließung von Sinnstrukturen. Rekonstruktive Sozialforschung ist daher wesentlich interpretative Sozialforschung. Im Gegensatz zur Tradition des introspektiven Verstehens werden Sinn und Bedeutung dabei jedoch nicht als interne, mentale Vorgänge aufgefasst, die sich in den Köpfen opaker Subjekte abspielen, sondern als interne Differenzierungen in Kommunikationsprozessen, die sich im Medium der Sprache beobachten lassen (vgl. Habermas (1976)Footnote 8 auch Schwartz-Shea und Yanow 2011, Aradau und Huysmans 2014, Aradau et al. 2015). Mit objektiver Hermeneutik und Grounded Theory liegen zwei exemplarische Verfahren einer rekonstruktiven Methodologie vor, die die einzelnen Momente eines Forschungsprozesses ausgesprochen präzise erfassen (für eine ausführliche Würdigung dieser Ansätze vgl. den Beitrag von Ulrich Franke und Ulrich Roos in diesem Band). Im Rahmen dieses Beitrags kann es nicht um die vollständige Explikation einer rekonstruktiven Methodologie gehen. Ich beschränke mich daher darauf, präemptiv einige Missverständnisse zu behandeln, mit denen sich rekonstruktive Forschungsperspektiven immer wieder konfrontiert sehen.

Verständnisschwierigkeiten bereitet zunächst die zentrale Rolle der Sprache in interpretativen Ansätzen. Intuitiv sind wir es gewohnt, deutlich zwischen Sprechen und Handeln zu unterscheiden. Diese intuitive Alltagserfahrung übersetzt sich dann in die Auffassung, dass auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung zwischen der Wirklichkeit und dem bloßen Gerede über diese Wirklichkeit unterschieden werden müsse. Diese Auffassung sitzt einem grundlegenden Missverständnis auf. Es geht natürlich nicht darum, den Unterschied zwischen einer sprachlichen Äußerung über das Thema physische Gewalt und einem konkreten Akt der Anwendung physischer Gewalt zu nivellieren. Prinzipiell lassen sich praktisch alle Vorgänge Bewegungen von Körpern beschreiben. Wer dabei stehen bleibt, wäre allerdings nicht mehr in der Lage, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Menschen von Naturkatastrophen zu unterscheiden. Eine Antwort auf dieses Dilemma bietet die Unterscheidung zwischen Verhalten und Handeln. Verhalten lässt sich äußerlich beobachten, etwa als Bewegung eines Körpers von A nach B. Ein Mensch rennt zur Bushaltestelle, oder ein Kriegsschiff macht sich auf den Weg zum Horn von Afrika. Beide Vorgänge lassen sich ebenso unter dem Aspekt des sozialen Handelns betrachten, d. h. als sinnlogisch motivierte Handlungen rekonstruieren. Ein Mensch rennt zur Bushaltestelle, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Wenn er nicht pünktlich zur Arbeit kommt, verliert er seine Anstellung und kann seine Miete nicht mehr bezahlen. Wenn man dann noch in Rechnung stellt, dass diese Bedingungen nicht nur für einzelne gelten, hat man nicht nur beobachtet, dass ein Körper sich von A nach B bewegt, sondern zugleich etwas über Arbeitsverhältnisse in spätkapitalistischen Gesellschaften herausgefunden. Nach demselben Muster lassen sich etwa Auslandseinsätze der Bundeswehr behandeln. Dass es hier nicht nur um „billiges Gerede“ geht, steht nicht zur Diskussion. Die Bedeutung sozialen Handelns lässt sich allerdings nur dann verstehen, wenn man versteht, wie es in konkrete Sinnzusammenhänge eingebunden ist. Sinnzusammenhänge wiederum lassen sich nur im Medium der Sprache verstehen. Der spezifische Gegenstand der Sozialwissenschaften ist dadurch gekennzeichnet, dass er auf diese Weise sinnstrukturiert ist. Rekonstruktive Methodologie nimmt diese Besonderheit des Gegenstands zu ihrem Ausgangspunkt.

Rekonstruktive sozialwissenschaftliche Forschung befasst sich daher im weitesten Sinne mit der Interpretation von Texten. Gegen diesen Versuch einer Bestimmung des Forschungsgegenstands wird gelegentlich der Einwand erhoben, damit gerate doch das soziale Handeln als der eigentliche Bezugspunkt aus dem Blick. Dabei wird allerdings übersehen, dass dem Textbegriff hier nur ein methodologischer Stellenwert zukommt. Es geht also nicht darum, die ganze Welt als Text zu begreifen. Rekonstruktive Methodologien behaupten lediglich, dass man sich den Zugang zu sozialem Handeln nur vermittelt über Texte verschaffen kann – und zwar vermittelt über Texte, die als Protokolle sozialen Handelns fungieren. Damit ist zugleich der weitere Einwand entkräftet, dass man mit der Konzentration auf Texte Gefahr liefe, strategisch lancierten oder unbewussten Fehldarstellungen auf den Leim zu gehen. Denn die pragmatische Bedeutung Äußerung liegt nicht in den Intentionen des Sprechers, sondern in der Wirkung, die dieser Satz auf eine bestimmte Gemeinschaft von Sprechern hat. Das lässt sich an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: „Der Irak stellt eine unmittelbare Bedrohung für die Vereinigten Staaten dar“. Wie dieser Satz wirkt, hängt davon ab, von wem und vor wem er geäußert wird. Wenn zum Beispiel der Präsident der Vereinigten Staaten diesen Satz im Vorfeld eines Kriegs gegen den Irak äußert, dann ist seine Wirkung leicht zu ermessen – und völlig unabhängig davon, welche persönlichen Überzeugungen er in Bezug auf den Irak hegt. In der Kommunikation taucht nur auf, was gesagt wird. Man kann sich zwar darüber streiten, was gemeint ist, aber dieser Streit wird erst dadurch möglich, dass das, was gemeint ist, in der Kommunikation nicht verfügbar ist. Was gesagt wird, lässt sich dagegen protokollieren und mit den Protokollen z. B. von politischen Reden liegt ein methodologisch belastbarer Ausgangspunkt für die interpretative Forschung vor. Denn man kann zwar darüber streiten, was gemeint war (auch wenn das gerade nicht die Fragestellung der interpretativen Sozialforschung ist), sofern ein belastbares Protokoll vorliegt, kann man aber nicht darüber streiten, dass es gesagt wurde.

Politische Reden, Äußerungen oder Dokumente, die bereits in Textform vorliegen, sind daher ein besonders dankbarer Fall für die rekonstruktive Sozialforschung. Prinzipiell lassen sich aber auch alle anderen Untersuchungsgegenstände in Texte übersetzen, die dann als Protokolle sozialen Handelns interpretiert werden können. Ein Historiker, der sich mit lange zurückliegenden Ereignissen beschäftigt, kann nicht auf diese Ereignisse selbst zugreifen, sondern nur auf Ereignisprotokolle. Da die Gültigkeit solcher Ereignisprotokolle oft zweifelhaft ist, hat die Geschichtswissenschaft ein entsprechendes Kontrollverfahren entwickelt: die Quellenkritik. Selbst ein statistischer Datensatz lässt sich aus dieser Perspektive als Text begreifen, der eine große Menge von Daten nach bestimmten Kriterien so ordnet, dass sie methodisch bearbeitbar werden. Ein solcher Text lässt sich aber erst nach massiven editorischen Eingriffen analysieren. Im Gegensatz zu politischen Reden, Gesetzesentwürfen oder Flugblättern, die als natürliche Protokolle bereits vorliegen, muss ein solcher Text erst fabriziert werden. Daraus erklärt sich die methodologische Präferenz in der interpretativen Sozialforschung für natürliche Protokolle. Mit einem natürlichen Protokoll, etwa einer Regierungserklärung, liegt immerhin ein harter und belastbarer Bezugspunkt vor. Demgegenüber ist in der statistischen Sozialforschung bereits die Datengrundlage viel weicher und umstritten, weil sie von den statistischen Sozialforschern selbst fabriziert ist (vgl. Oevermann 2000, S. 83–88).

7 Rekonstruktive Theoriebildung

Aus rekonstruktionslogischer Sicht kommt es nicht darauf an, welchem Lager eine Position zugeordnet werden kann, es kommt lediglich darauf an, was Begriffe für die Beantwortung einer konkreten Forschungsfrage leisten. Rekonstruktionlogische Forschung verweigert sich daher paradigmatistischen Formen der Auseinandersetzung. Die konsequente Kritik des Paradigmatismus bildet daher die übergreifende Klammer der unterschiedlichen Dimensionen rekonstruktiver Sozialforschung. Die einheitswissenschaftliche Orientierung am Vorbild der Naturwissenschaften und der Jargon der Wissenschaftlichkeit, der sich durch die Großen Debatten der Internationalen Beziehungen zieht, stehen exemplarisch für eine subsumtionslogische Forschungslogik. Kritisierenswert ist nicht der Versuch, zu belastbaren Standards der methodischen Geltungsüberprüfung zu gelangen. Kritisierenswert ist aber, dass die Standards, die dabei in Anschlag gebracht werden, dem Gegenstand so äußerlich sind, dass etwa die Unterscheidung von Wissenschaftlichkeit und Unwissenschaftlichkeit von der konkreten wissenschaftlichen Praxis völlig losgelöst werden. Gegen diese Form der Abstraktion und Komplexitätsreduktion lässt sich ein Verständnis rekonstruktiver Theoriebildung formulieren, das die vielfältigen Dimensionen des Rekonstruktionsbegriffs aufgreift und zu einem Modell der Forschung verdichtet, dem es nicht um die Reduktion, sondern um den systematischen Aufbau von Komplexität geht. Nicht die Zurichtung eines Gegenstands im Hinblick auf seine Passfähigkeit in der paradigmatistischen Arbeitsteilung steht dann im Mittelpunkt, sondern der Versuch, ausgehend von konkreten Forschungsproblemen schrittweise Komplexität in dem Maße aufzubauen, das dem Gegenstand angemessen ist.

Rekonstruktive Forschungslogik impliziert daher eine Form der Theoriebildung, die die klassische Arbeitsteilung zwischen Theoretikern und Empirikern unterläuft, in der die Theoretiker über abstrakte und abgehobene Fragen kontemplieren und die Empiriker sich die Hände schmutzig machen. Rekonstruktive Theoriebildung nimmt ihren Ausgangspunkt knietief im Material einer Forschungsproblematik, also dort, wo subsumtionslogische Forschung aufhört. Subsumtionslogische Forschung ist insofern bequem, als sie geordnete Verhältnisse schafft. Theoriebegrifflichkeit und analytisches Instrumentarium sind vorab eingerichtet und die paradigmatistische Streitkultur sorgt für klare Fronten, indem sie Alliierte und Gegner nach Lagerzugehörigkeit auseinanderhält. Rekonstruktive Forschungslogik ist ein Instrument, mit dem wir uns daran erinnern können, dieser intellektuellen Bequemlichkeit nicht nachzugeben.