Schlüsselwörter

1 Einführung

Wenn man auf die Ursprünge einer evolutionär begründeten oder informierten Geschichtswissenschaft zurückblickt (vgl. Wettlaufer 2002, 2015) und dabei Darwins Diktum von dem Licht, dass durch seine Evolutionstheorie auf die Geschichte der Menschheit geworfen werde (Darwin 2000, S. 564), einmal kurz beiseitelässt, wird man sich zunächst nach Westen wenden, genauer nach Ann Arbor in Michigan (USA). Dort entstand gegen Ende der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts die sog. Darwinian History, die aus der dortigen, von der synthetischen Evolutionstheorie inspirierten adaptionistischen Denkschule und dem damit verknüpften „Adaptionist Program“ hervorging (Betzig 1992d, vgl. Gould und Lewontin 1979). Die offene Frage, mit der sich diese neue Forschungsrichtung auseinandersetzte, war, inwieweit Kultur als ein „Produkt des Strebens“ von Individuen zur Maximierung ihrer genetischen Reproduktion verstanden werden könnte (Alexander 1979, S. 67).

Etwa gleichzeitig entwickelte sich in Europa eine ganz andere und trotzdem verwandte Denkrichtung, die die Erkenntnisse der Ethologie (später Humanethologie) für die Erklärung von menschlicher Kultur, und zwar auch von Kultur in historischen Zeiträumen, zu nutzen suchte. Dabei standen weniger Fragen der Anpassung und Selektion im Vordergrund, sondern vielmehr wurde nach Analogien zwischen dem Verhalten menschlicher und nicht menschlicher Primaten gesucht und eine stammesgeschichtliche Verbindung hergestellt. Herausragender Vertreter dieser Forschungsrichtung war Otto König, der Begründer der sog. Kulturethologie mit einem Schwerpunkt in der Europäischen Ethnologie. Stärker in der öffentlichen Wahrnehmung stand der Begründer der Humanethologie, Irenäeus Eibl-Eibesfeldt, der auch stammesgeschichtliche Anpassungen von Darstellungen menschlichen Verhaltens in der Kunst untersuchte (Eibl-Eibesfeldt und Sütterlin 1992). Es lohnt also auch ein Seitenblick nach München und Wien, um das Bild der Vorgeschichte einer evolutionär informierten Geschichtswissenschaft abzurunden.

In den USA entstanden zunächst Arbeiten zur hypergynen Heiratspraxis in sozial stratifizierten historischen Gesellschaften und der damit verbundenen Konkurrenz um die Mitgift (Dickemann 1979, 1981). Schließlich veröffentlichte Laura Betzig ihre viel beachtete Dissertation über Despotismus und differenzielle Reproduktion (Betzig 1986, siehe auch Betzig 1982, 1991, 1992a, b, c, 1995a, b). Darin untersuchte sie kulturvergleichend und zugleich zeitlich übergreifend das Verhältnis von politischem System und „Paarungssystem“ beim Menschen. Betzig stellte fest, dass despotische und stark hierarchische politische Systeme in der Regel polygame Heiratssysteme nach sich ziehen, und zwar eine Polygamie der Mächtigen. Demokratische Gesellschaftsordnungen hingegen harmonieren besser mit monogamen Heiratssystemen. Betzig erläuterte dieses Verhältnis an einem reichhaltigen, teils anekdotischen Material, das sie aus Beschreibungen despotischer Herrscher durch klassische Schriftsteller oder aber auch aus modernen historiografischen Werken sowie aus der ethnografischen Literatur, vor allen den HRAF (Human Relations Area Files), zog (Murdock et al. 2006). Zum einen mag der Mangel an quellenkritischem Umgang mit der historischen Überlieferung dazu geführt haben, dass diese Arbeit trotz ihrer offensichtlichen Relevanz für die Geschichtswissenschaften von diesen praktisch nicht beachtet wurde (siehe aber Herlihy 1995). Das Interesse verblieb vielmehr in einer „evolutionären Blase“ und in der Politikwissenschaft (siehe zusammenfassend Wettlaufer 2002). In der evolutionären Verhaltensökologie und Psychologie lösten die Ergebnisse allerdings eine intensive Debatte darüber aus, warum die Korrelation zwischen Macht und Polygynie bzw. genetischer Fitness in modernen Industriegesellschaften westlicher Prägung offensichtlich nicht mehr besteht (s. Hopcroft und Schnettler in diesem Band). Kevin B. MacDonald, ein amerikanischer Persönlichkeitspsychologe und inzwischen, aufgrund seiner unter Antisemitismusverdacht stehenden Bücher enfant terrible der Evolutionspsychologie (siehe zuletzt Alexis 2022), hatte diese entscheidende Frage nach dem Grund für das Aufbrechen des Fitness Vorteils der mächtigen Männer in modernen Gesellschaften seinerzeit aufgenommen und dahingehend zu beantworten versucht, dass die sog. sozial auferlegte Monogamie (socially imposed monogamy, SIM) seit dem 12. Jahrhundert in Europa die Oberhand gewonnen habe (MacDonald 1990, 1995a, b). Diese Perspektive, die stärker in Übereinstimmung mit den „empirischen Befunden“, also der herrschenden Auffassung unter Historikern stand, ging von einer multivariaten, nicht deterministischen Theorie aus, die einen direkten Zusammenhang zwischen Paarungssystem und Gesellschaftssystem verneinte und vielmehr institutionalisierte Kontrollen der Reproduktion, wie sie etwa von der Kirche ausgeübt wurden, einen prägenden Einfluss auf das Motivationssystem der Individuen zusprach. Hier kommt die „Kultur“ als vermittelnder Faktor zwischen Anpassung und Verhalten ins Spiel, die aufgrund der von der genetischen Replikation abgekoppelte Funktionsweise eine in natürlichen Systemen unbekannte Verhaltensflexibilität erlaubt. Ähnlich argumentierte David Herlihy 1995, einer der wenigen Historiker, der sich für die evolutionären Erklärungsmodelle interessierte. Er postulierte eine Weitergabe von Genen und Kultur, die ebenso wie genetisches Material das Verhalten von Menschen beeinflusst habe (Herlihy 1995b). Auf der Seite der Adaptionisten wurde allerdings weiter über die Gründe für die demografische Transition und das den fortgesetzten Erfolg der Monogamie gerätselt und neue Hypothesen entwickelt (Borgerhoff Mulder 1998; Betzig 2012).

Auch nach intensiven Debatten zum gesamten „Adaptionist Program“ (vgl. Laland und Brown 2002, S. 95 ff.) blieb das Problem im Grunde ungelöst. Um die Darwinian History und ihren Interpretationsansatz aus dem Paradigma der Adaptation wurde es anschließend ruhiger – der Begriff verschwand aus den Diskursen und neue Perspektiven wie Deep History, Neurohistory und evolutionäre Geschichtswissenschaft (Evolutionary History) übernahmen das Feld, teilweise ohne die Arbeiten, Ergebnisse und Fragen der Darwinian History noch in die eigenen Überlegungen mit einzubeziehen. Das Unbehagen der HistorikerInnen an einer Integration von Erklärungsmodellen von Verhalten aus biologischen und damit evolutionär erklärbaren Anpassungen blieb allerdings weiterhin bestehen. Erst die Deep History (Smail 2007; Shryock und Smail 2011) und die Genetic History scheinen aktuell den Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wieder in Gang zu bringen (Marcus 2020).

Der folgende Beitrag möchte vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Bemühungen um eine Erklärung menschlichen Verhaltens mit Hilfe von empirischen Daten aus historischen Zeiträumen die Rolle von Anpassung (adaptive traits) für die Entwicklung von Kultur und menschlichem Verhalten am Beispiel der neueren Debatten über die Geschichte der menschlichen Paarungssysteme genauer nachvollziehen und so zu einem besseren Verständnis der Möglichkeiten für eine evolutionär informierte Geschichtswissenschaft im Spannungsfeld des doppelten Erbes von natürlicher und kultureller Anpassung beitragen.

2 Der Begriff und das Konzept der Anpassung

Der Begriff der Anpassung im Kontext der Evolutionstheorie bezieht sich auf ein in einer Population eines Lebewesens auftretendes Merkmal (adaptive trait), das für die Weitergabe seines genetischen Materials an die nächste Generation vorteilhaft ist. Normalerweise handelt es sich um Merkmale, die durch Mutation und anschließende Selektion entstanden sind. Adaptationen können sich sowohl auf die Physiologie, die Morphologie als auch auf das Verhalten einer Spezies beziehen. Adaptation bezeichnet dabei sowohl den Prozess der Anpassung als auch das Produkt dieser Anpassung eines Organismus im Zuge eines Selektionsprozesses.

Der Adaptionismus, auch als Funktionalismus bekannt, ist somit die auf die darwinsche Evolutionstheorie beruhende Auffassung, dass viele physische und psychologische Merkmale von Organismen evolvierte Anpassungen an die Umwelt sind, in denen diese Organismen leben. Die grundlegenden Kräfte, die diese Anpassungen hervorbringen, sind in der Evolutionstheorie Variation und Selektion. Die Selektion kann bei sexueller Fortpflanzung nochmals unterschieden werden in natürliche und sexuelle Selektion. In beiden Fällen geht es aber um die Weitergabe von genetischem und Zellmaterial des Organismus in die nächste Generation. Dabei steht der größte Teil der Lebenszeit des Organismus unter selektivem Druck, denn erst mit der erfolgreichen Reproduktion der nächsten Generationen ist das „Ziel“ erreicht. Die grundlegenden Mechanismen wurden von Darwin selber beschrieben, wobei Darwins Perspektive auf Adaptation mehrschichtig ist, wie Thimothy Shanahn in seinem Buch über „The Evolution of Darwinism“ eindrucksvoll darlegt (Shanahan 2013, S. 93–114). Im Neo-Darwinismus bzw. der synthetischen Theorie, der sich ab den 1940er-Jahren etablierte und von Personen wie Julian Huxley und Ernst Mayr getragen wurde, spielte die Anpassung als Konsequenz von Variation und Selektion eine zunehmende Rolle. Nachdem mit der mendelschen Genetik die Informationsträger identifiziert waren, erschien vielen Biologen die Anpassung der entscheidende Faktor der Selektion. Ausformuliert wurde diese Perspektive 1966 von George C. Williams in seinem Klassiker „Adaptation and Natural Selection“ (Williams 1966). Eine große Wirkung auf das „Adaptionist Program“, dass in den 1980er-Jahren in Michigan an der Universität von Ann Arbor die vorherrschende Denkrichtung war, hatte außerdem Richard D. Alexander (1929–2018), der zu dieser Zeit eine Professur für Evolutionsbiologie dort innehatte. In seinem Buch über „Darwinism and human affairs“, und zwar insbesondere im zweiten Kapitel über natürliche Selektion und Kultur (Alexander 1979), legte er die Grundlagen für die spätere Beschäftigung der Darwinian History mit der Erklärung menschlichen Verhaltens unter der Perspektive der individuellen Fitness.

Adaptationen sind somit die phänotypischen Eigenschaften einer Spezies, die durch Selektion in der Vergangenheit verursacht wurden. Es ist aber auch denkbar, dass, wie George Williams es formulierte, Adaptationen nur Charakteristika seien, die „a priori für ein spezifisches Design“ konform sind (Williams 1992, S. 40, zit. nach Shanahan 2013, S. 145). Die Idee der Anpassung in einer evolutionären Vergangenheit ist zur Grundlage des Anpassungsparadigmas in der Evolutionären Psychologie geworden, die Anpassungen nach dem Environment of Evolutionary Adaptedness (EEA) funktional zu verstehen versucht. Dabei können diese Anpassungen, die in der Regel im Pleistozän erworben wurden, in der modernen Umwelt des Menschen auch dysfunktional sein oder neue Funktionen im sozialen Miteinander besitzen (sog. Exaptations) (Barkow et al. 1992). Für eine Anwendung in der Medienpsychologie siehe den Beitrag von Hennighausen, Lange und Schwab in diesem Band (s. dazu allerdings auch die kritischen Einwände von Eggert und Holzhauser in diesem Band zum Anpassungsbegriff in der Evolutionären Psychologie).

3 Kritik des Adaptionismus und Stand der Diskussion

Diese einseitig adaptionistische Sicht auf die Ausbildung von Phänotypen von Organismen wurde von Stephen Jay Gould und Richard Lewontin in ihrer 1979 erschienenen Arbeit „The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm“ kritisiert. Evolutionsbiologen hätten die Angewohnheit, so Gould und Lewontin, standardmäßig adaptive Erklärungen für jedes Merkmal vorzuschlagen, ohne ebenfalls mögliche, nicht-adaptive Alternativen für die Merkmalsausbildung in Betracht zu ziehen. Ebenso kritisierten sie die Vermengung von Anpassung mit dem Argument des Prozesses der natürlichen Selektion. Plausibilität alleine für die Erklärung von Anpassungen sei, so der methodische Einwand, kein ausreichendes Argument, solange es nicht möglich ist, diese Erklärungen auch zu falsifizieren (Gould und Lewontin 1979). Die Kritik von Gould und Lewontin wurde aufgenommen von Ernst Mayr und Daniel Dennett, die im Gegenzug für eine rigorosere Methodik zur Identifikation der Anpassungen argumentierten oder auf die schon vorhandenen Methoden hinwiesen. Mayr, der den Organismus als Ebene der Selektion betrachtete, forderte 1983: „He [the evolutionist] must first attempt to explain biological phenomena and processes as the product of natural selection. Only after all attempts to do so have failed, is he justified in designating the unexplained residue tentatively as the product of chance“ (Mayr 1983, S. 326, zitiert nach Shanahan 2013, S. 140). Daniel Dennett seinerseits wies 1995 darauf hin, dass in der Evolutionsbiologie schon immer nach verborgenen Einschränkungen gesucht wurde. „Good adaptationist thinking is always on the lookout for hidden constraints, and in fact is the best method for uncovering them“ (Dennett 1995, S. 261, zitiert nach Shanahan 2013, S. 140). Damit sind Einschränkungen in den beobachteten Anpassungen nicht notwendig ein Gegenargument, sondern Teil der Erklärung. Am deutlichsten positionierte sich Richard Dawkins auf der Seite der Kritiker von Gould und Lewontin. In seinem Buch „The Extended Phenotype: The Gene as the Unit of Selection“ (Dawkins 1982), führte er verschiedene Gründe an, warum Anpassungen eingeschränkt sein können. Dazu gehört auch die Zeitverschiebung, die zwischen Anpassung und Veränderungen in der Umwelt auftreten können. Ein Beispiel, dass er in diesem Zusammenhang anführt, ist der Reflex der Igel, sich bei Gefahr zusammen zu rollen. Unter den veränderten Bedingungen moderner menschlicher Fortbewegung oft eine tödliche Entscheidung für die Tiere (Dawkins 1982, S. 35). Ein Meilenstein in der Diskussion um den Adaptionismus war schließlich das Buch „Dawkins vs. Gould: Survival of the Fittest“ von Kim Sterelny (Sterelny 2001), in dem der Autor die Unterschiede in den Argumentationen der Kontrahenten deutlich herausarbeiten konnte. Gould und Dawkins unterscheiden sich nach Sterelny vor allem in der relativen Rolle von Selektion und Variation. Sie setzen auch unterschiedliche Schwerpunkte hinsichtlich der Entwicklung von Organismen. Entwicklungsbeschränkungen seien grundlegend für Goulds Kritik am Adaptionismus. Dawkins hingegen messe diesem Aspekt weniger Gewicht bei und war mehr an erweiterten Möglichkeiten interessiert, die den Abstammungslinien als Ergebnis von Entwicklungsrevolutionen offenstehen. Beispielsweise erhöhe die Evolution der Segmentierung die Variationsmöglichkeiten. „Wichtige Übergänge in der Evolution sind Entwicklungsübergänge, Übergänge, die neue Varianten und damit neue Anpassungskomplexe ermöglichen“ (Sterelny 2001, S. 77–78).

4 Doppelte Anpassung in Kultur und Natur – und was daraus folgt…

Parallel zur Entwicklung des „Adaptionist Program“ und seiner Kritik durch Gould und Lewontin etablierte sich schon früh eine weitere Denkrichtung, die von einer Koevolution von natürlicher Selektion und Kultur ausgeht. Diese Auffassung ist eng mit dem Namen von Edward O. Wilson und der Soziobiologie verbunden. Zusammen mit Charles Lumsden veröffentlichte Wilson schon 1981 „Genes, Mind, and Culture. The Coevolutionary Process“ (Lumsden und Wilson 1981). Während ihr Ansatz noch stärker im Bereich der genetischen Evolution verankert war, konzentrierte sich die Arbeit von Cavalli-Sforza und Feldman auf die Erforschung der kulturellen Transmissionsmechanismen (Cavalli-Sforza und Feldman 1981). Die Theorie eines doppelten Erbes (dual inheritance theory) brachten schließlich Richard Boyd und Peter Richerson gegen Ende der 1980er-Jahre auf den Weg. (Boyd und Richerson 1985; Durham 1991). Ihre Sichtweise ist bis heute prägend für das Verständnis des Verhältnisses von biologischer und kultureller Entwicklung (vgl. Currie et al. 2021).

Auf beiden Ebenen, Natur und Kultur, lassen sich somit Anpassungsprozesse beobachten. Eckart Voland beschreibt in diesem Sinne die Beziehung von Natur und Kultur als ineinander verwoben und sieht die Kultur als eine aus den natürlichen Anpassungen entwickelte Erweiterung des Verhaltensrepertoires. Dabei treten Natur und Kultur in ein Wechselspiel. Natürliche Anpassungen werden kulturell unterstützt und so selber Teil einer Kultur. Zugleich verändert Kultur die Umweltbedingungen, mindert den Selektionsdruck und bringt möglicherweise neue Regeln und Verhaltensnormen hervor, die ihrerseits wieder selektiv auf Weitergabe der natürlichen Anpassungen wirken können (Voland 2000). Als Beispiel für eine solches Wechselspiel von Natur und Kultur sei hier der soziale Gebrauch des menschlichen Schamgefühls angeführt. Genetisch veranlagt und mit eigenen physiologischen und phänotypischen Erscheinungen ausgestattet erfuhr und erfährt das Schamgefühl weiterhin vielfältige kulturelle Ausprägungen, die teilweise funktional als Stabilisatoren für Kooperation in Gruppen und der Durchsetzung von gemeinsamen Normen interpretiert werden können. Die Untersuchung des kulturellen Gebrauchs von physiologischen Anpassungen in historischen und rezenten kulturellen Settings ist dabei weiterhin ein Forschungsdesiderat (Wettlaufer 2015, 2023). Ein weiteres Thema, dass die evolutionäre Geschichtswissenschaft im Kern berührt, ist die zu Anfang schon erwähnte Entwicklung menschlicher Paarungssysteme im Wechselspiel zwischen Natur und Kultur in der Perspektive einer „Deep History“.

5 Menschliche Paarungs- und Heiratssysteme in evolutionärer Perspektive

Ausgangspunkt ist die in der Einleitung beschriebene Diskussion der im Rahmen der Darwinian History aufgestellten These der variablen Anpassung des menschlichen Paarungssystems an den Imperativ der Fitnessoptimierung im biologischen Sinne. Aus dieser Vorannahme heraus fällt es schwer, die Dominanz der Monogamie als Eheform im westlichen Kulturkreis seit dem hohen Mittelalter zu erklären, zumal im Kulturvergleich eher Systeme milder Polygynie die Regel sind (Ford und Beach 1969). In diese Richtung deuten auch die Indizien, wenn man den Menschen hinsichtlich seines Paarungssystems in die Reihe der Säugetiere einordnet (Harcourt et al. 1981). Beobachtet man die in menschlichen Kulturen verankerten Paarungssysteme vergleichend über längere Zeiträume, dann fällt die Bandbreite und die Flexibilität auf, mit der homo sapiens sapiens sich erfolgreich und angepasst an die jeweiligen Umwelten fortpflanzt. Walter Scheidel hat 2009 den Stand der Diskussion über die Erfolgsgeschichte der Monogamie zusammengefasst und am Beispiel der griechisch-römischen Gesellschaften aufgezeigt, wie schwierig die Funktionszuschreibung sowie ein verallgemeinertes Verständnis des Monogamie-Imperativs vornehmlich westlicher Gesellschaften als „Socially Imposed Monogamy“ (SIM) bislang ist. Grundsätzlich unterläuft das Vorkommen nicht ehelicher Sexualität innerhalb von „offiziell“ monogamen Gesellschaften die Bemühungen, aus der vorherrschenden Eheform Rückschlüsse auf gesellschaftliche Vorteile wie Verringerung des Wettbewerbs unter Männern und Stärkung von kooperativem Verhalten abzuleiten. Vieles deute vielmehr darauf hin, dass die christliche Tradition die griechisch-römische Auffassung von der Monogamie als einzig legitime Eheform übernommen habe (Scheidel 2009, S. 287; Scheidel 2011) und dann zusammen mit dem Christentum die andauernde Erfolgsgeschichte der Monogamie begann.

Möglicherweise reicht die Tradition eines monogamen Heiratssystems sogar noch weiter zurück. Laura Fortunato rekonstruiert in ihrer Arbeit die frühen indoeuropäischen und protoindoeuropäischen Heiratssysteme als hauptsächlich monogam mit vorherrschender Virilokalität (Frau wohnt beim Mann und dessen Familie) sowie alternativer Neolokalität (Paar wohnt weder bei den Eltern der Braut noch des Bräutigams, sondern gründet einen eigenen Hausstand). Insgesamt stimmen ihre Ergebnisse weitgehend mit früheren Schlussfolgerungen aus sprachlichen und ethnografischen Daten überein (Fortunato et al. 2006; Fortunato 2011, 2015). Fortunato und Kollegen sehen im monogamen System vor allem einen Vorteil bei der inclusive Fitness, also der indirekten Verbesserung des Fortpflanzungserfolgs über die Unterstützung von nahe verwandten Individuen (Fortunato und Archetti 2010). Ein „ursprüngliches“ menschliches Heiratssystem versuchen Walker und Kollegen mit vergleichenden Beobachtungen in Jäger-Sammler Gesellschaften zu ergründen (Walker et al. 2011). Auch bei den Gründen für den Übergang von einem polygynen zu einem monogamen Heiratssystem ist der Bogen weit gespannt. Henrich, Boyd und Richerson versuchen das „puzzle of monogamous marriage“ über die positiven Effekte beim Wettbewerb zwischen Gruppen zu erklären. Durch die Unterdrückung des intrasexuellen Wettbewerbs und aufgrund der Reduzierung der Zahl unverheirateter Männer sowie die Verringerung von Konflikten innerhalb eines Haushalts biete Monogamie als Heiratssystem Vorteile gegenüber einem polygynen System (Henrich et al. 2012). Sadettin H. Citci macht hingegen die in modernen Gesellschaften gestiegenen Einkommensmöglichkeiten von Frauen für den Systemwechsel verantwortlich (Citci 2014). Francesconi und Kollegen sehen in der beim Menschen besonders ausgeprägten Überlappung der Versorgung von Kindern unterschiedlichen Alters in einer Familie den entscheidenden Faktor (Francesconi et al. 2016). Bauch und McElreath erkunden mit Hilfe einer Simulation den Zusammenhang zwischen der Ausbreitung sexuell übertragbaren Krankheiten und der Etablierung der SIM – und finden natürlich einen Zusammenhang (Bauch und McElreath 2016). Ein weiterer Aspekt, der zudem für die Ausbildung der Monogamie als bevorzugte Heiratsform sprechen könnte, sind die Vorteile, die monogame Familien bei der gemeinsamen Aufzucht der Nachkommen, dem sog. Cooperative Breeding, haben (Boomsma 2009, 2013; Schacht und Kramer 2019, S. 66–67).

Den umfassendsten Versuch, das Rätsel zu lösen, haben zuletzt Ross und Kollegen in einer groß angelegten Studie unternommen. Darin haben sie das Standard-Polygynie-Schwellenwertmodell mit female choice in ein Modell der gleichberechtigen Partnerwahl modifiziert und dieses Modell dann mit einem neuen, umfangreichen Datenset, darunter auch Daten historischer Populationen, überprüft. Sofern zwei Bedingungen erfüllt seien, könne in diesem Modell auch in sehr ungleichen Gesellschaften, mit stark unterschiedlicher Verteilung der Ressourcen, Monogamie zur vorherrschenden Eheform werden. Allerdings wurde in der Studie auch serielle Monogamie als eine Form der Polygynie klassifiziert, was die Vergleichbarkeit mit anderen Erklärungen erschwert. Die Analyse ergab, dass mit der Umstellung auf stratifizierte Agrarökonomien: (i) die Häufigkeit von Personen mit ausreichendem Vermögen, um eine polygyne Ehe zu sichern, abnehme, und (ii) die marginalen Fitnessrenditen abnahmen und extrem wohlhabende Männer daran hinderte, so viele Frauen zu heiraten, wie deren relatives Vermögen sonst vorhersagen würde. Diese Bedingungen führen zusammen, so Ross und Kollegen, zu einer hohen Wahrscheinlichkeit von Monogamie bei Ackerbau treibenden Bevölkerungen (Ross et al. 2018). Alle kulturell tradierten Normsetzungen sind, auch in diesem Modell, nur nachgeordnete Anpassungen an die Fitnessvorteile, die sich aus der Monogamie ergeben sollen.

Insgesamt kann man sich der Auffassung von Schacht und Kramer in der neuesten Literaturübersicht zu diesem Thema uneingeschränkt anschließen. Ein Konsens über ein menschentypisches Paarungssystem ist und bleibt in der Literatur schwer fassbar. In allen heutigen menschlichen Gesellschaften sind monogame, polyandrische, polygyne und kurzfristige Paarungsmuster vorhanden, wobei die meisten Gesellschaften mehrere Arten von Ehen und Paarungsbeziehungen aufweisen. Eine weitere Erschwernis einer einfachen Klassifizierung des Paarungssystems sind die vielfältigen möglichen Interpretationen von biologischen Merkmalen, die typisch für Menschen sind und die verwendet werden, um Paarungsmuster unserer Vorfahren anzuzeigen. Zusammenfassend kommen Schacht und Kramer zu drei Kernaussagen. 1) Obwohl Polygynie in den meisten Gesellschaften sozial sanktioniert ist, sei Monogamie kulturübergreifend der dominierende Ehetyp innerhalb einer Gruppe. 2) Sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe kommt in allen Gesellschaften vor, dennoch sind die Vaterschaftsraten von solchen Beziehungen beim Menschen relativ niedrig im Vergleich zu denen von sozial monogamen Vögeln und anderen Säugetieren. 3) Während der zeitliche Ablauf der Evolution bestimmter anatomischer Merkmale umstritten ist, weisen der Grad des sexuellen Dimorphismus beim Menschen und die relative Größe (in Bezug zum Körpergewicht) der männlichen Keimdrüsen auf eine abweichende Geschichte der sexuellen Selektion im Vergleich zu unseren nächsten Verwandten, den großen Menschenaffen, hin. Damit gebe es zwar viele ethnografische Beispiele für Unterschiede zwischen menschlichen Gesellschaften in Bezug auf Paarungsmuster, die Stabilität von Beziehungen und die Art und Weise gibt, wie Väter in ihre Nachkommen investieren. Die enge Paarbindung in Kohabitation bleibe jedoch ein allgegenwärtiges Merkmal der menschlichen Paarungsbeziehungen. Diese Paarbindung drückt sich manchmal in Polygynie und/oder Polyandrie aus, wird aber am häufigsten in Form einer monogamen Ehe beobachtet, die oft auch seriell ist und durch ein geringes Maß an Vaterschaftsunsicherheit und ein vergleichsweise hohes Maß an väterlicher Fürsorge gekennzeichnet ist (Schacht und Kramer 2019, S. 68).

6 Fazit

Zeit erneut Bilanz zu ziehen. Seit der deutschsprachigen Veröffentlichung des Artikels „Evolutionsbiologie und historische Wissenschaften“ von Nancy Wilmsen Thornhill in dem von Eckart Voland herausgegeben Band zu „Natur und Kultur im Wechselspiel“ sind inzwischen 30 Jahre vergangen (Thornhill 1992). Der Beitrag, der am Beispiel von Veränderungen von Heiratsbeschränkungen in der Amerikanischen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts zu zeigen versucht, wie Prinzipien der Evolutionstheorie bei der Erklärung kultureller Phänomene helfen können, schlug eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und ordnet sich in die vielfältigen Bemühungen der Behavioral Ecology ein, aus historisch-demografischen Daten Erklärungen für das Verhalten und die Fortpflanzungsentscheidungen in historischen Populationen zu finden (Cody et al. 2020, Kindworth und Voland 1995, Voland 1990, 1995). Aus den Geisteswissenschaften hat kaum jemand dieses Angebot angenommen und diesen Weg weiter beschritten (vgl. aber Herlihy 1995; Kroll und Bachrach 1990; Bergstrom 1994; Scheidel 2014). In den Naturwissenschaften ist das anfängliche Interesse ebenfalls zurückgegangen, nachdem greifbare Erfolge ausblieben. GeisteswissenschaftlerInnen waren in der Regel schlicht nicht an dieser Erweiterung der Perspektive interessiert, die ihnen nur als Verengung erschien und keinen Raum für Diskussionen bot. Im Bereich von Verwandtschaft, Reproduktion, Fortpflanzungsstrategien, Elterlichem Investment oder auch Heiratsregeln- und Systemen ergaben sich zwar Anknüpfungspunkte, doch die Bereiche der Geistes-, Kunst- und Kulturgeschichte im engeren Sinne blieben von evolutionären Theorien unberührt. Eine Ausnahme bildet diesbezüglich die weniger theorie- und stärker analogiebasierte Humanethologie, die auch in diesem Kontext einige bemerkenswerte Ergebnisse vorweisen konnte.

Das größte Problem für die Akzeptanz der Darwinian History im Kreis geisteswissenschaftlicher ForscherInnen war die – aus jener Perspektive – penetrante Suche nach dem Fitnessvorteil eines Verhaltens oder eines kulturellen traits. Egal wie komplex das beobachtete Verhalten war – diese Bedingung musste erfüllt werden. Damit bewegte sich die Darwinian History nahe an einem Zirkelschluss und setzte sich der Kritik eines Biologismus aus. Ähnlich wie in der Soziobiologie entzündete sich die Kritik an der Verneinung der Eigenständigkeit und Eigendynamik soziokultureller Phänomene (Wuketits 1999). Wenn man kulturelle Verhaltensmuster näher beobachtet, so sind sie, aus traditionalen Gesellschaften heraus entwickelt, in der Regel zumindest nicht hinderlich für die Reproduktion. Kollektiver Zölibat in religiösen Gemeinschaften, so wie er z. B. der katholischen Kirche entwickelt wurde, ist ein typisches Beispiel einer Verhaltensnorm, die nicht über direkte Fitnessvorteile erklärt werden kann. Natürlich können zölibatäre Priester Verwandten zu Vorteilen verhelfen, die sich am Ende auch in Fitness ausbezahlen. Aber die Fokussierung auf den Aspekt der Fitness greift hier deutlich zu kurz, um die Entstehung und Verbreitung dieses kulturellen Phänomens gänzlich zu begreifen.

Das Thema „evolutionäre Geschichtswissenschaft“ trifft trotz dieser Einschränkungen immer wieder auf Interesse bei den HistorikerInnen. Deep History und Neurohistory sind nur zwei Forschungsfelder, die seit einigen Jahren diskutiert werden (Smail 2007, 2014; Shryock und Smail 2011; Wettlaufer 2012). Unter der Evolutionary History oder evolutionären Geschichtswissenschaft versteht man heute sowohl eine historisch und evolutionär informierte Umweltgeschichte (Russell 2011) als auch Forschungsansätze mit kultur- und emotionsgeschichtlichem Schwerpunkt (Wettlaufer 2023). Besonders aufgeschlossen zeigen sich GeisteswissenschaftlerInnen derzeit in Bezug auf die sog. Genetic History, die mit den modernen Methoden der Molekulargenetik Fragen zur Ausbreitung von Populationen und sogar einzelnen Individuen zu beantworten vermag. Damit schlägt sie eine Brücke zur Genealogie, die auch in der Public History viele interessiert. Mit den Populationen werden aber oft auch die damit verbundenen Kulturen und Sprachen greifbar, deren Verbreitung damit auf einer neuen Grundlage erforscht werden kann. Auch wenn das historische Einzelereignis, die Singularität, sich damit weiterhin einer evolutionären Erklärung entzieht, scheint doch gerade die Genetic History aktuell den Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wieder stärker in Gang zu bringen (siehe u. a. Weigel 2001; Zerjal et al. 2003; Marcus 2020, Liu et al. 2021).