Xi Jinpings Europa-Reise: China will die multipolare Ordnung, und kämpft dafür

Xi Jinpings Europa-Reise: China will die multipolare Ordnung, und kämpft dafür

Xi Jinpings erste Europareise seit fünf Jahren war kühl und selbstbewusst kalkuliert. Der chinesische Präsident weiß genau, was er will. Eine Analyse.

Letzte Station auf Xis Europareise: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán (r.) begrüßt den chinesischen Präsidenten auf dem Flughafen Budapest.
Letzte Station auf Xis Europareise: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán (r.) begrüßt den chinesischen Präsidenten auf dem Flughafen Budapest.Vivien Cher Benko/AFP

Die Strategie des chinesischen Staatschefs Xi Jinping wurde auf seiner Reise nach Paris, Belgrad und Budapest in der vergangenen Woche offensichtlich. Wirtschaftlich expandiert er in Europa durch die Hintertür Ungarn. Doch viel wichtiger: Gemeinsam mit Emmanuel Macron will er Frieden in der Ukraine und in Gaza schaffen. Dabei will er die Europäer von den USA lösen und meidet deshalb von der Leyens Brüssel. Sein Ziel: eine multipolare Weltordnung, in der die Mehrheit des globalen Südens entscheidet und nicht mehr der Stärkste. Als Vertreter der aufsteigenden Weltmacht will er die Macht der etablierten Weltmacht relativieren.

Schon sein Auto ist eine Machtdemonstration: Xi fährt in der eigenen Limousine durch Europa, in einem N701 von Hongqi, der ersten chinesischen Automarke, deren Name übersetzt Rote Fahne heißt. Er ist neben dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden der einzige Politiker, der bei Auslandsreisen seine Fahrzeuge mitbringt.

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Xis Reise hat klar gezeigt, wie er die Machtverhältnisse in Europa sieht. Der wichtigste europäische Politiker ist für ihn der französische Präsident Emmanuel Macron. Also reist er zuerst nach Paris. Nicht nach Brüssel und auch nicht nach Berlin. Olaf Scholz hat er vor einigen Wochen in Peking getroffen und für zu leichtgewichtig befunden. Im Vergleich zu Macron gilt der deutsche Kanzler in Peking als steifer und schmallippiger. Auch als schlechter vorbereitet. Selbst beim Parkspaziergang blieb Scholz seltsam hölzern.

Zudem spricht Xi mit Macron von Präsident zu Präsident. Nicht nur mit dem Bundeskanzler, der viel stärker von seiner Koalition gefesselt ist als Macron. Dem steht innenpolitisch zwar auch das Wasser bis zum Hals. Er kann sich aber mit eigenen Verordnungen über Parlament und Koalitionspartner hinwegsetzen. Zudem ist er noch bis 2027 im Amt, während bei Scholz nicht sicher ist, ob er die Wahlen nächstes Jahr übersteht.

So geht Weltpolitik: Das muss Scholz noch lernen

Macron lässt zudem mehr Nähe zu. Er fährt mit Xi in das Dorf seiner Großmutter in den Pyrenäen und bekommt dort ganz andere Bilder als Scholz. Selbst der Lauf über den Vorplatz des Elyseepalastes gelingt. Da sieht Xi weltläufig und entspannt aus wie selten. Auch seine Frau ist modemäßig und vom Auftreten her auf Augenhöhe mit Frau Macron. So geht Weltpolitik. Das sind die Bilder, die beide wollen. Win-Win. Da muss Scholz noch lernen. Macron profitiert auch davon, dass Scholz nicht Angela Merkels Standing hat.

Hinzu kommt: Frankreich ist das einzige EU-Land, das wie China einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat, den Xi stärken will. Da spielen nicht nur Scholz, sondern auch die EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen die zweite Geige, wie das offizielle Bild zeigt. Sie muss nach Paris reisen und wird von beiden auf Abstand gehalten. Für Xi ist von der Leyen zu nahe an den USA. Da ist er sich mit Macron einig – Abstand und kein Lächeln für sie.

Von der Leyens konfrontative China-Strategie konnte sich auch in der EU nicht durchsetzen. Weder bei Scholz noch bei Macron, auch in Holland und Spanien nicht. In Peking fragt man sich deshalb, für wen von der Leyen eigentlich spricht. Zudem ist nicht klar, ob sie die Wahlen im Juni überlebt. Also machen Xi, der Staats- und Parteichef der neuen Weltmacht, und Macron, der Präsident der Grande Nation, gemeinsame Sache – auch um von ihren innenpolitischen Problemen abzulenken.

Sie reden natürlich nicht über E-Auto-Zölle, wie mancher in Deutschland glaubte, sondern vor allem über Krieg und Frieden. Beide wollen sich als Friedenspräsidenten profilieren. Zum Gazakrieg gibt es eine gemeinsame Erklärung. Zur Ukraine immerhin eine Einigung über den nächsten Schritt: „Wir unterstützen, zum rechten Zeitpunkt, eine internationale Friedenskonferenz, die sowohl von der Ukraine als auch von Russland anerkannt ist und an der alle Parteien gleichberechtigt teilnehmen“, sagte Xi. Das hat er leicht abgeschwächt schon gegenüber Scholz so gesagt. Doch bei Macron wird er konkreter.

Viel wichtiger noch: China sei „bereit, mit Frankreich daran zu arbeiten“, dass es anlässlich der Olympischen Spiele in Frankreich „einen Waffenstillstand bei den Feindseligkeiten rund um den Globus gibt“. Ein Vorschlag Macrons. Er braucht Xi, da Peking sowohl von Moskau als auch von Kiew als Vermittler anerkannt ist. Macron hat diese Position nicht; er gilt in Moskau als zu parteiisch. Deshalb gibt er Xi Gesicht, indem er sagt, er begrüße es, dass sich China an die Verpflichtung halte, von Waffenlieferungen an Russland oder „anderen Hilfen“ zur Unterstützung von Putins Krieg abzusehen und den Export von „Dual-Use-Waren streng zu kontrollieren“. Von der Leyen wiederum wirft genau das den Chinesen vor. Hier seien noch „größere Anstrengungen nötig“.

Trotz der Annäherung an Xi ließ sich Macron nur wenige Tage vorher mit Sikyong Penpa Tsering fotografieren, dem Chef der tibetischen Exilregierung. Es hat ihm offensichtlich nicht geschadet. Vielleicht auch deshalb, weil es zwar Bilder, aber keine offizielle Stellungnahme von Macron zu dem Treffen gab. Macron lässt auch zu, dass Xi unter einer Brücke durchfahren muss, von der ein riesiges Free-Tibet-Banner hängt. Das ist keine Sicherheitspanne, sondern Absicht – alle Brücken, unter denen solche Kolonen durchfahren, sind für den Zeitraum der Durchfahrt gesperrt. Auch in Wirtschaftsfragen zeigt Macron klare Kante; anders als Scholz befürwortet er Zölle auf chinesische E-Autos.

Derweil denken chinesische und französischen Diplomaten weiter. Hinter den Kulissen stellt sich die Frage, ob man die Olympischen Spiele nicht für mehr nutzen könnte als für einen Waffenstillstand. Kommt Xi zur Eröffnung der Olympischen Spiele am 26. Juli erneut nach Paris? Wird er dort Joe Biden treffen? Könnten bei der Gelegenheit sogar Putin und Selenskyj erstmals zusammenkommen, zumindest im Rahmen eines virtuellen Treffens?

Waffenstillstandsgespräche bei der Olympiade?

Peking oder Paris wären nicht schlecht. Jedenfalls sind die Olympischen Spiele eine ungezwungene Plattform, um darüber zu reden. Das wichtigste Ergebnis der jetzigen Reise des chinesischen Präsidenten: Die Führungsmacht der aufsteigenden Staaten und der mächtigste EU-Politiker haben sich beim Thema Waffenstillstand in der Ukraine auf einen Weg geeinigt, bei dem die Initiative nicht von den USA ausgeht. Im Gegenteil, Washington hat gerade ein 60-Milliarden-Dollar-Militärhilfeprogramm für die Ukraine durchgewunken, sicherlich auch, um Xis Friedensvorstoß zu bremsen. Was Macron und Xi nun gemeinsam machen, ist noch kein Schulterschluss, aber schon eine Schulteranlehnung – die im Übrigen auch Ursula von der Leyen nicht gefallen dürfte.

Dass Xi nach Ungarn fuhr, kann man auch als Affront gegen sie betrachten. Viktor Orbáns Ansiedlungspolitik für chinesische Unternehmen unterläuft frech ihre China-Strategie. Deswegen verweigert sie ihm Fördergelder. Auch in Serbien, dem EU-Beitrittskandidaten mit den meisten Investitionen aus China, hat Xi ein deutliches Zeichen gesetzt. Serbien ist der Grund, warum Xi gerade jetzt nach Europa kam. Genau vor 25 Jahren bombardierten Nato-Jets die chinesische Botschaft in Belgrad. Dabei starben drei Chinesen, mehr als 20 Menschen wurden verletzt. Ziel des 78-tägigen, vom UN-Sicherheitsrat nicht genehmigten Luftkriegs der Nato war es, Serbien zum Abzug seiner Truppen aus dem Kosovo zu zwingen.

Washington beteuert bis heute, es habe sich bei dem Angriff auf die Botschaft um ein Versehen gehandelt. Doch für Serbien, China und andere Länder des globalen Südens ist es einer der Belege dafür, dass auf globaler Ebene das Recht und die Willkür des Stärkeren herrschen, deren Opfer sie lange waren.

Einige Beobachter halten Xis Geste für antiwestlich und spalterisch. Viele im globalen Süden sehen darin eine Mahnung auf dem Weg in eine bessere, fairere Welt. Xi übertrieb es auch nicht. Er verzichtete darauf, einen Kranz an der Gedenktafel niederzulegen. Es gibt also keine Bilder von dem Gedenken. Allerdings gab er in einem Namensbeitrag in der serbischen Tageszeitung Politika schon vor seiner Ankunft den Ton vor: „Heute vor 25 Jahren bombardierte die Nato in schamloser Weise die chinesische Botschaft in Jugoslawien und tötete dabei drei chinesische Journalisten.“ Das „sollten wir niemals vergessen“.

In Belgrad: Xi Jinping (l) und der serbische Präsident Aleksandar Vučić
In Belgrad: Xi Jinping (l) und der serbische Präsident Aleksandar VučićDarko Vojinovic/AP/dpa

Das Handelsblatt titelte fast schon pietätlos gegenüber den Opfern: „Xi fordert in Belgrad die Nato heraus.“ Auch Deutschland hat den Kosovokrieg der Nato damals unterstützt – den amerikanischen Irakkrieg einige Jahre später dann schon nicht mehr. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) war dagegen, ebenso Frankreich, Indien und China. Das Geschehen von Belgrad ist ein Ereignis, auf das nicht nur China, sondern der globale Süden insgesamt anders blickt als die Nato-Länder.

Dieser andere Blickwinkel wird immer wichtiger. Die aufstrebenden Länder bewerten auch Xis Reise anders. Der indische Professor Harsh V. Pant, der am Londoner Kings College lehrt, betonte im TV-Sender NDTV Xis ausgleichende Haltung. Der Chinese sende eine „klare Botschaft an den Westen, dass er nicht nur mit traditionellen Mächten wie Frankreich kooperieren will, sondern auch mit neueren europäischen Partnern wie Serbien und Ungarn, traditionell Alliierte Moskaus“.

Angesichts der Kriege in Gaza und der Ukraine streben die aufsteigenden Länder unter der Führung Pekings mehr denn je nach einer Weltordnung, in der nicht der Stärkste dominiert, sondern der Konsens der Mehrheit. Xis Reise gilt aus Pekinger Sicht auch als Versuch, die Europäer zu bewegen, wie schon im Irakkrieg eine gemeinsame Richtung einzuschlagen. Also nicht zu warten, bis die USA sie im Ukrainekrieg im Regen stehen lassen – immer mehr Amerikaner fragen sich, ob man das Geld statt für die Ukraine nicht besser für amerikanische Obdachlose ausgeben sollte.

Die Politik der aufsteigenden Länder ist durch Xis Besuch deutlicher geworden. Sie geht in Richtung einer multilateralen Weltordnung, in der die Mehrheit einen Konsens finden muss. Keine Invasionen in fremde Länder mehr ohne globalen Konsens, in welcher Weltlage auch immer. Chinas Nachbarn unterstützen das jedenfalls. Mit gutem Grund: Sie setzen darauf, dass auch Peking sich daran halten muss, wenn es in zehn Jahren noch stärker ist als heute.

Frank Sieren, einer führenden deutschen Chinakenner, hat zahlreiche Bestseller geschrieben und ist auch online präsent. Sein Gespräch mit Richard David Precht hatte allein bei Youtube 1,3 Millionen Klicks. Sein knapp vier Stunden langes Gespräch bei „Jung & Naiv“ hat sogar 2,3 Millionen Youtube-Views.