Berliner Familienvater nach Unfall querschnittgelähmt: „Wir müssen unsere Zukunft neu malen“

Familienvater nach Unfall querschnittgelähmt: „Wir müssen unsere Zukunft neu malen“

Bei Abrissarbeiten wurde der Berliner Christopher S. unter Mauertrümmern begraben. Eine Eisenstange bohrte sich in seinen Hals und durchtrennte das Rückenmark.

Anika S. vor der Ruine des alten Gebäudes. Bei den Abrissarbeiten verletzte sich ihr Mann schwer und ist seitdem querschnittgelähmt.
Anika S. vor der Ruine des alten Gebäudes. Bei den Abrissarbeiten verletzte sich ihr Mann schwer und ist seitdem querschnittgelähmt.Sabine Gudath

Anika S. sitzt im Garten ihrer Doppelhaushälfte in Panketal (Brandenburg) und schaut ihren Töchtern Rosalie und Heidi beim Spielen zu. Die Sonne scheint hell und man hört die Vögel auf den Bäumen zwitschern. Doch die Idylle trügt. Das Leben der vierköpfigen Familie ist von einem auf den anderen Tag aus den Fugen geraten. Vor einem Monat verletzte sich der 33-jährige Vater der beiden Kinder bei Abrissarbeiten auf dem neuen Grundstück der Familie so schwer, dass er nur knapp überlebte. Die Familie bangt nun um ihre Existenz.

Christopher S. liegt auf der Intensivstation im Unfallkrankenhaus Berlin in Marzahn und ist von der Brust abwärts gelähmt. „Alles, was wir uns zusammen aufgebaut haben, ist zerstört“, sagt seine 35-jährige Ehefrau. Ihre Stimme wirkt kraftlos, die Augen schauen müde. Das Unglück hat ihr zugesetzt, auch weil es ihre Zukunftspläne zerstört. 

Der zweifache Vater Christopher S. bei Abrissarbeiten eines alten Gebäudes. Kurz danach passierte das Unglück.
Der zweifache Vater Christopher S. bei Abrissarbeiten eines alten Gebäudes. Kurz danach passierte das Unglück.privat

Anika und Christopher S. wollten sich in der Nähe ihrer Doppelhaushälfte, in der sie zur Miete wohnen, ein neues Haus bauen. Sie hatten sich im Oktober vergangenen Jahres ein bebautes Grundstück gekauft. Das alte Gebäude wollten sie aus Kostengründen selbst abreißen und hatten schon mit den Arbeiten begonnen.

Es ist durchaus üblich, dass Abrissarbeiten in Eigenregie durchgeführt werden. „Es gibt in Deutschland keine Vorschrift, dass man das nicht darf. Wer die Affinität und das handwerkliche Geschick dazu hat, kann das durchaus selbst machen, sofern eine Genehmigung der Bauaufsichtsbehörde vorliegt“, erklärt der Berliner Architekt und Diplom-Bauingenieur, David Weinert aus Steglitz, der Berliner Zeitung. Allerdings müsse man dabei sehr vorsichtig sein und es gebe bestimmte Bereiche, die man lieber Experten überlassen sollte.

Christoper S. habe immer eine Begabung für handwerkliche Arbeiten gehabt und vieles zu Hause selbst repariert, erklärt seine Ehefrau. Mit einem solchen Unglück hätten sie daher niemals gerechnet.

Eine Woche nach Ostern, am 6. April, verabschiedete sie ihren Mann wie jeden Samstag morgens an der Tür, der zu dem nur ein paar Straßen weit entfernten Grundstück fuhr. „Ich nahm ihn noch kurz in den Arm und versprach ihm, dass ich am frühen Abend mit unserer kleinen Tochter zur Baustelle nachkomme“, erzählt die Mutter.

Als sie sich Stunden später mit ihrem Lastenfahrrad auf den Weg machte, bemerkte sie einen Rettungshubschrauber am Himmel. „Ich habe mir zunächst nichts dabei gedacht, weil wir durch die Nähe zum Helios-Klinikum Berlin-Buch häufiger welche sehen“, erinnert sie sich. Erst als der Helikopter in der gleichen Straße herunterging, in der sich ihr Grundstück befand, sei sie unruhig geworden und immer schneller gefahren.

„Nicht, dass Christopher etwas passiert ist, bitte nicht!“, habe sie gedacht. Da näherten sich schon weitere Rettungswagen, Polizei und Feuerwehr der Baustelle. 

Am Ort bewahrheiteten sich ihre schlimmsten Befürchtungen: Ihr Mann war bei den Abrissarbeiten schwer verunglückt. Sie sei sofort von Rettungssanitätern abgewimmelt worden, als sie zu ihm wollte. „Sie haben mich nicht zu Christopher gelassen, weil er in einem so schlechten Zustand war, dass ich ihn so nicht sehen sollte“, sagt Anika S.

Ihr Mann war gerade dabei, die Front des alten Gebäudes abzureißen, als sich ein Stück des Mauerwerks über ihm löste. „Er versuchte noch auszuweichen und fiel dabei auf eine Eisenstange, die direkt vor ihm aus dem Boden ragte. Sie bohrte sich tief in seinen Hals“, erklärt Anika S. Die Einsatzkräfte mussten ihn mit der Stange zusammen bergen und konnten ihn deshalb auch nicht im Hubschrauber transportieren, sondern fuhren ihn im Rettungswagen in die Klinik.

Dass der Unfall überhaupt aufgefallen war, lag an einem Nachbarn, der den Familienvater zufällig beim Gassigehen mit seinem Hund unter den Trümmern entdeckt hatte – nur wenige Minuten nach dem Vorfall. „Hätte er nicht sofort Hilfe geholt, wäre Christopher wohl nicht mehr am Leben“, sagt seine Frau.

Noch am selben Abend wurde ihm während einer fünfstündigen Operation die Eisenstange aus dem Hals entfernt. Der sechste und siebte Wirbel wurden bei dem Unfall komplett zerstört und das Rückenmark durchtrennt. Christopher S. ist nun von der Brust an abwärts gelähmt. Er kann seine Beine nicht mehr spüren und bewegen. 

„Der Arzt sagte mir kurz nach dem Eingriff, dass Chris Glück im größten Unglück hatte“, erzählt Anika S. Er wird nach einem Luftröhrenschnitt momentan noch über eine Kanüle beatmet und kann sich nur schwer verständigen. „Wenn wir miteinander sprechen, kann er nur flüstern und ich verstehe ihn kaum.“ Der an der Charité angestellte Biotechnologe wird derzeit nicht nur medizinisch, sondern auch psychologisch betreut. 

Die Bauarbeiten liegen brach, nachdem Christopher S. hier verunglückte.
Die Bauarbeiten liegen brach, nachdem Christopher S. hier verunglückte.Sabine Gudath

Er hadere gerade schwer mit seinem Schicksal, so erklärt seine Frau. „Chris war bis vor seinem Unfall ein sehr aktiver Mensch. Er war nicht nur handwerklich sehr aktiv, er ging auch gerne kitesurfen und fuhr viel Fahrrad.“

Für die ganze Familie ist sein Unfall ein schwerer Einschnitt in ihr bisheriges Leben. Anika S. fährt jeden Tag zu ihrem Ehemann, sitzt von morgens bis abends an seinem Krankenbett und versucht ihm Kraft und Trost zu geben. Die zwei und acht Jahre alten Töchter werden von einer Tagesmutter, in der Schule und von den Großeltern betreut. „Ohne die Unterstützung unseres sozialen Netzwerkes aus Freunden und Verwandten kämen wir gar nicht zurecht“, sagt die Mutter.

Sie muss jetzt beide Elternrollen übernehmen. Das fällt ihr nicht leicht. „Unsere ältere Tochter traut sich bislang nicht, ihren Vater im Krankenhaus zu besuchen. Sie hat große Ängste“, sagt Anika S.

Die Kinder brauchen weiter ihre Normalität. Doch mit ihnen gemeinsam zu toben und zu lachen, während ihr Mann schwer verletzt im Krankenhaus liegt, ist eine der größten Herausforderungen. „Der Spagat zwischen Klinikalltag und dem Alltag zu Hause ist schwierig“, sagt die Mutter leise. 

Außerdem plagen die Eltern nun finanzielle Sorgen: die Miete für die Doppelhaushälfte, die laufenden Kosten. Christopher S. hat keine Unfallversicherung und deshalb keinen Anspruch auf eine Schadenregulierung. Viel Erspartes habe die Familie nicht. Anika S. hat jetzt einen Spendenaufruf bei Go Fund Me im Internet gestartet unter: Spendenaktion von Anika Skopnik: Für Chris – Wir brauchen ein Wunder. (gofundme.com)

Da war die Welt noch in Ordnung: Christopher S. mit seiner achtjährigen Tochter Rosalie auf dem Spielplatz.
Da war die Welt noch in Ordnung: Christopher S. mit seiner achtjährigen Tochter Rosalie auf dem Spielplatz.privat

Bislang haben beide Elternteile 40 Stunden in der Woche gearbeitet. Der Vater wird voraussichtlich noch drei Monate in der Klinik bleiben müssen und danach mehrere Monate in einer Rehaklinik behandelt werden. So lange bezieht er Krankengeld, das sind 70 Prozent seines Brutto-Gehalts. Die Mutter ist derzeit wegen der außergewöhnlichen Belastungen ebenfalls arbeitsunfähig.

Eigentlich wollten sie nach dem Abriss mit dem Hausbau beginnen. Der Antrag für den Kredit bei ihrer Bank liegt auf dem Küchentisch. „Wenn einer der Vertragspartner ein Pflegefall ist, werden wir ihn nicht genehmigt bekommen“, glaubt Anika S.

Von ihrem Plan vom Eigenheim sind sie nun plötzlich weit entfernt. Die Trümmer der Mauer haben auch ihren Lebenstraum begraben. „Wir müssen das Bild unserer Zukunft neu malen“, sagt sie. 

In die Doppelhaushälfte kann Christopher S. nicht so einfach zurück. Die Räume sind über mehrere Stockwerke gebaut und nicht rollstuhlgerecht. „Fraglich ist auch, ob der Vermieter alle Maßnahmen genehmigen würde“, sagt Anika S.

Erst kürzlich hatte der Bundesgerichtshof (BGH) in zwei Fällen die Barrierefreiheit gestärkt und entschieden, dass Baumaßnahmen, die der Barrierefreiheit dienen, grundsätzlich zulässig sind (Urt. v. 09.02.2024, Az. V ZR 244/22; V ZR 33/32). Bauliche Veränderungen seien nur in absoluten Ausnahmefällen unangemessen. 

Anika S. mit ihren beiden Töchtern Rosalie und Heidi
Anika S. mit ihren beiden Töchtern Rosalie und Heidiprivat

Barrierefreie Umbauten können mit bis zu 4000 Euro bezuschusst werden

Barrierefreie Umbauten in der Wohnung oder im Haus können von den Krankenkassen bezuschusst werden. Laut der Techniker Krankenkasse können Betroffene einen Zuschuss zur Verbesserung des Wohnumfelds von bis zu 4000 Euro bekommen. Dafür müssten ihnen die Umbauten vom Medizinischen Dienst (MD), früher MDK, oder einer Fachpflegekraft – beispielsweise von einem ambulanten Pflegedienst – vorgeschlagen worden sein. Außerdem müsse ein Kostenvoranschlag über die geplanten Baumaßnahmen vorliegen.

Doch am liebsten wäre es Anika S., wenn sie ihren Traum vom Eigenheim doch noch verwirklichen könnten. „Ich weiß noch nicht wie, aber ich hoffe noch immer auf eine Lösung“, betont sie. Das Haus, das sie geplant hatten, sei barrierefrei entworfen worden. Dort hätte auch Christopher eine Chance, künftig mit ihr und seinen beiden Töchtern zu leben. 

Es gibt Tage, da glaubt Anika S., dass sie die Kraft hat, mit ihrer Familie trotz allem eine schöne neue Zukunft zu gestalten. „Sie wird anders, kleiner und bescheidener, aber trotzdem schön.“ Es gibt aber auch Tage, an denen sie nicht mehr weiterweiß, „weil alles unter mir zusammengebrochen ist.“

Wenn sie wieder am Krankenbett ihres Mannes sitzt und seine Hand hält und sich darüber freut, dass seine Mundwinkel leicht gezuckt und seine Augen geleuchtet haben, weil er sich so gefreut hat, dass sie bei ihm ist, dann hat sie wieder neue Hoffnung. Dann erinnert sie sich an den Satz: „Wir müssen das Bild unserer Zukunft neu malen.“ Sie hat ihn fest verinnerlicht.