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1 Einleitung

Warum haben die Staaten aufgehört, Anti-Personen-Minen zu nutzen, obwohl diese lange Zeit als militärisch unverzichtbar galten?Footnote 1 Wie konnte es gelingen, einen internationalen Strafgerichtshof zu errichten, dessen Mandat viel weiter reichte als das, was bei den Verhandlungen ursprünglich erhofft wurde? Weshalb verboten immer mehr Städte den Einsatz von Plastiktüten? Was passiert, wenn internationale Normen gegen Gewalt an Frauen mit lokalen Traditionen der Genitalverstümmelung kollidieren? Warum bemühen sich die Staaten, in bewaffneten Konflikten zivile Ziele zu schonen – und warum wurden Männer und Jungen nicht zusammen mit anderen Zivilist*innen aus Srebrenica evakuiert? Warum geriet das Foltertabu nach den Ereignissen vom 11. September 2001 ins Wanken? Abstrakter übersetzt: Warum stimmen Staaten internationalen Normen zu, die ihre Handlungsmöglichkeiten beschränken? Welche Prozesse beobachten wir, wenn Normen entstehen? Wie wirken internationale, nationalstaatliche und lokale Normen zusammen? Welche Faktoren befördern und behindern die Verbreitung und Umsetzung von Normen? Wie ist es möglich, dass Akteure bereits internalisierte Verhaltensstandards wieder in Frage stellen?

Mit solchen Fragen – und vielen mehr – befasst sich die Forschung zu internationalen Normen, die nicht nur dem Umgang der Staaten miteinander sondern auch dem staatlichen Umgang mit Individuen einen Handlungsrahmen geben. Dass es solche Handlungsrahmen gibt und sie tatsächlich wirken, wurde schon im Rahmen der Neo-Neo-Debatte in den 1980er-Jahren prominent argumentiert. Die Normenforschung als solche hat allerdings erst im Zuge des konstruktivistischen Hinauswachsens über das rationalistische Paradigma in den 1990er-Jahren einen richtigen Schub erfahren. Sie versprach alternative Konzeptionen des internationalen Systems und seiner Akteure und verschrieb sich dem Wandel (Sikkink 2008). Entsprechend bildeten sich als erste große Erkenntnisinteressen die Wirkung von Normen sowie ihre Entstehung und Diffusion heraus. Später kam das Interesse für die Erosion von Normen, aber auch ihre Robustheit und die ambivalenten Effekte von Kontestation hinzu. In den letzten Jahren zeichnet sich die Tendenz ab, Normen noch stärker als bisher im Zusammenspiel mit anderen Normen und normativen Systemen zu analysieren, um der wachsenden Komplexität einer immer weiter verregelten und verrechtlichten Ordnung Rechnung zu tragen.

Entlang dieser Schwerpunkte führt der Beitrag in das theoretische Grundgerüst der Normenforschung ein, legt also ihre zentralen Annahmen, Konzepte und Modelle dar und beschreibt ihre unterschiedlichen Richtungen. Das Bestreben, die Breite der Ansätze in einem derart großen, reichhaltigen und produktiven Forschungsgebiet in einem verhältnismäßig kurzen Handbuchbeitrag zu erfassen, muss an vielen Stellen zulasten der Tiefe gehen, und leider auch zulasten empirischer Illustrationen, die jedoch als detaillierte Fallstudien in den referenzierten Werken zu finden sind. Ferner spare ich, ebenfalls aus Platzgründen, metatheoretische und methodische Debatten, die im Zusammenhang mit Normen auch geführt werden, weitgehend aus. Wo es möglich ist, versuche ich zudem, stärker die Beiträge von Forscher*innen aus dem deutschsprachigen Kontext hervorzuheben.

2 Was Normen sind und wie sie wirken

Als Importdisziplin, die gerne begriffliche und theoretische Anleihen an anderen Sozialwissenschaften nimmt (Wiener 2010, S. 339), haben die Internationalen Beziehungen auch die Vorstellung der sozialen Normen nicht erfunden, sondern sie vielmehr für sich entdeckt und konzeptionell übersetzt. Prägend waren hier vor allem die Soziologie, die Ökonomie, aber auch die Ethnologie, wobei aus der Orientierung an diesen unterschiedlichen Disziplinen auch einige konzeptionelle Unterschiede erwuchsen (Rosert 2019a, S. 114). So war man sich lange uneins darüber, ob Normen normativ als Verhaltensvorschriften (Krasner 1983, S. 2) oder behavioristisch als Verhaltensregelmäßigkeiten (Axelrod 1986, S. 1097; Thomson 1993, S. 80) zu sehen sind. Nachdem schließlich in der konstruktivistischen Literatur eine Definition von Normen als „collective expectations about proper behavior for a given identity“ (Jepperson et al. 1996, S. 54) zum Standard avanciert war, erstarkt mit den praxistheoretischen Einflüssen derzeit wieder der Fokus auf Praktiken und Verhalten (Bode 2018; Bode und Huelss 2018).

In der Definition von Normen als kollektiven Verhaltenserwartungen kommt zum einen das geteilte, intersubjektive Element zum Ausdruck, das Normen von Ideen unterscheidet (Farrell 2001, S. 71). Zum anderen kommt darin zum Ausdruck, dass Normen sowohl etwas Normatives als auch etwas Normales innewohnt: Sie geben ein gewünschtes Verhalten vor und wirken damit normativ; der Vorgabe sollte jedoch auch eine gewisse Verhaltenspraxis folgen, sodass das gewünschte Verhalten normal, im Sinne von häufig und verbreitet, erscheint, zumindest in bestimmten zeitlichen und räumlichen Kontexten (Gholiagha et al. 2021, S. 223–224). Dennoch können Normen eine gewisse Diskrepanz zwischen der Handlungsanweisung und den tatsächlichen Handlungen und sogar gelegentliche Brüche verkraften – sofern ihre Richtigkeit nicht angezweifelt wird (Rosert und Schirmbeck 2007, S. 260; Deitelhoff und Zimmermann 2020, S. 52). Freilich ist diese auch kontrafaktische Geltung von Normen (Kratochwil und Ruggie 1986, S. 767) nicht völlig vom Verhalten entkoppelt: Stellt sich das Verhalten, das der Norm entspräche, nicht ein bzw. ist es nicht mehr der Regelfall, zeigt sich darin die Schwäche, wenn nicht gar das Verschwinden einer Norm (Sandholtz 2008, S. 107).

Die verhaltenslenkende Wirkung ist das Kriterium, mit dessen Hilfe Normen von Prinzipien unterschieden werden können. Für Normen ist sie wesentlich, woraus wiederum folgt, dass Normen hinreichend konkret sein sollten, um in spezifischen Situationen das Verhalten vorgeben zu können. Für Prinzipien hingegen ist das Urteil wesentlich, woraus wiederum folgt, dass Prinzipien hinreichend abstrakt sein sollten, um in unterschiedlichen Situationen einen Standard von richtig und falsch vorgeben zu können (Thomas 2001, S. 27–28). Von manchen als „Meta-Normen“ bezeichnet, bedürfen Prinzipien deshalb konkretisierender subsidiärer Normen (Großklaus 2017, S. 266).

Hierin klingen bereits die Funktionen an, die Normen für den einzelnen Akteur wie auch für die gesellschaftliche Ordnung erfüllen. So fungieren sie durch ihren imperativen Charakter in erster Linie als Orientierungspunkt und Verhaltensmaßstab für die Akteure (im internationalen System in der Regel nicht Individuen, sondern Staaten, zwischenstaatliche Akteure wie internationale Organisationen und nicht-staatliche Akteure wie Unternehmen oder Nicht-Regierungsorganisationen (Rosert 2019a, S. 115)). Als „Du-sollst“- bzw. „Es wird erwartet, dass Du“-Sätze formuliert, instruieren sie ihre Adressaten darüber, welches Verhalten für „wiederkehrende soziale Handlungssituationen“ als angemessen gilt (Deitelhoff 2006, S. 37). In diesem Sinne wirken Normen regulativ: sie lenken das Verhalten von Akteuren, wobei Verbotsnormen hierfür die Möglichkeit, etwas zu tun, und Gebotsnormen die Möglichkeit, etwas nicht zu tun, delegitimieren (Tannenwald 1999, S. 434–437).

Daneben wirken Normen immer auch konstitutiv – bedeutungsstiftend und erschaffend. Wie die Definition verrät, sind Normen eng an Identitäten geknüpft: Sie richten sich an und gelten für Akteure mit einem bestimmten Selbstverständnis, unterstützen aber auch die Herausbildung dieses Selbstverständnisses wie auch die Fremdwahrnehmung davon, was man ist und wohin man gehört (Kowert und Legro 1996, S. 452–453; March und Olsen 1989, S. 161). Mit anderen Worten stützt normgeleitetes Verhalten die Identität nach innen und nach außen. Es indiziert und signalisiert Absichten sowie die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – und es kann Aufschluss darüber geben, welchen Rang die Akteure in dieser Gemeinschaft einnehmen, wo sie also in der sozialen Hierarchie stehen (Elster 1989, S. 108–109; Towns 2012, S. 180, 188).

Über diese Inklusions- und Exklusionsfunktion hinaus leisten Normen auch weitere Beiträge zur sozialen Ordnung. In erster Linie handelt es sich bei Normen um Versuche der Problemlösung – mit ihnen reagieren die Akteure auf Missstände, in der Hoffnung, diese würden durch norminduzierte Verhaltensänderungen behoben, zumindest aber gemildert und in Zukunft vermieden (Kratochwil 1991, S. 69–70; Winston 2018, S. 640; Rosert 2019b, S. 1106). Außerdem dienen Normen als interpretativer Rahmen für die Klassifizierung und Bewertung von Handlungen. So definieren sie nicht nur, welche Handlungen erlaubt und verboten sind, sondern wirken viel grundsätzlicher. Denn sie legen fest, was als eine solche Handlung zählt, bzw. in welchem Kontext eine Handlung eine bestimmte Bedeutung erlangt und in eine bestimmte Kategorie fällt (grundlegend Searle 1995, S. 43–50). Normen stiften damit Bedeutungen und, darüber hinausgehend, auch Ordnung, indem sie auf die Struktur des internationalen Systems einwirken und das normative Fundament der internationalen Politik bilden (March und Olsen 1989, S. 52; Wiener 2004, S. 189).

Die Tabelle 1 fasst die unterschiedlichen Funktionen zusammen und verdeutlicht zudem, dass eine Unterscheidung in regulative und konstitutive Normen, wie sie gelegentlich vorgenommen wird, nicht überzeugend ist. Keine Norm ist entweder regulativ oder konstitutiv, sondern Normen wirken regulativ und konstitutiv: Als „Medium sozialer Kontrolle“ beeinflussen sie das Verhalten; als „Medium sozialer Konstruktion“ schaffen sie Bedeutungen von Objekten, Handlungen und Identitäten (Onuf 1998, S. 68) (Tab. 1).

Tab. 1 Funktionen von Normen (eigene Zusammenstellung, übernommen aus (Rosert 2019a, S. 118))

Das regulative Element darf allein deshalb nicht fehlen, weil es Teil der Definition ist – also das, was soziale Phänomene überhaupt zu Normen macht (Winston 2018, S. 640–641; Jurkovich 2020, S. 696–697). Konstitutive Elemente sind erst einmal nur Eigenschaften. Das lässt sich am Beispiel der Souveränität verdeutlichen, welche zwar häufig als konstitutive Norm bezeichnet wird, aber eine Eigenschaft darstellt. Wer über diese Eigenschaft verfügt, kann für sich Staatlichkeit und damit verbundene Rechte beanspruchen. Hieraus wiederum erwächst eine ganze Kollektion regulativer Normen (Finnemore und Sikkink 1998, S. 891). Darin enthalten sind Gebote und Verbote, die sich lange Zeit primär an andere Staaten richteten (z. B. der Respekt der territorialen Integrität oder die Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten), die zunehmend jedoch auch den Staat, der für sich Souveränität beansprucht, betreffen (allem voran der Schutz seiner Bürger*innen). Souveränität wirkt also sowohl konstitutiv in dem Sinne, dass sie definiert und ermöglicht als auch regulativ in dem Sinne, dass sie beschränkt und verpflichtet (Großklaus 2017, S. 267).

An die Frage nach den Wirkungen von Normen schließt sich die Frage an, aus welchen Motiven heraus Akteure Normen befolgen. Diese Motive werden idealtypisch durch zwei Handlungslogiken erfasst: die Konsequenzialitätslogik (logic of consequences) und die Angemessenheitslogik (logic of appropriateness) (Deitelhoff 2006, S. 112). Im Kern geht es dabei um die Frage, ob die Akteure danach streben, das für sich Beste oder das intersubjektiv Richtige zu tun. Die dahinterstehenden handlungstheoretischen Idealtypen, der homo oeconomicus und der homo sociologicus, bleiben weiterhin wichtige Referenzpunkte für die Normenforschung. Sie sind zudem auch für die Praxis relevant – zumindest, wenn man sie nicht als einander ausschließende Menschenbilder begreift, sondern anerkennt, dass unterschiedliche Akteure eher dem einen oder dem anderen Idealtypus nahekommen und sich das Handlungsmotiv auch für denselben Akteur je nach Situation unterscheiden kann. Erkennen und unterscheiden zu können, welches Motiv in welchem Maße wann und für wen handlungsleitend ist, ist deshalb wichtig, weil davon abhängt, welche Strategien zielführend sein könnten, wenn man eine Änderung des Akteursverhaltens wünscht.

Der Konsequenzialitätslogik folgend entscheiden sich als rational konzipierte Akteure auf Basis individueller Kosten-Nutzen-Kalküle und feststehender Präferenzen für diejenige Handlungsalternative, die ihnen den größten Nutzen verspricht – sie orientieren sich damit an den antizipierten Konsequenzen einer Handlung (Elster 1989, S. 99; March und Olsen 1998, S. 949–950). In einem erweiterten rationalistischen Verständnis lässt sich auch die Existenz einer sozialen Identität durchaus in das Modell integrieren, wenn in die Präferenzordnung des Akteurs nicht-materielle Faktoren wie soziale Anerkennung, Status und Reputation aufgenommen werden (Akerlof 1980, S. 753–756; Bernheim 1994, S. 843). Die Normbefolgung bleibt jedoch instrumentell, weil sie mit dem Ziel geschieht, zu einer Gruppe dazuzugehören oder seinen Ruf als verlässlicher Kooperationspartner aufrechtzuerhalten (McElroy 1992, S. 50). Dennoch ist auch hierbei eine intrinsische Komponente enthalten – zwar glauben die Akteure nicht unbedingt an die Richtigkeit der Norm, offenbar jedoch an die Bedeutung der Identität und der Gruppe (Cancian 1975, S. 138–139).

Ist im rationalistischen Menschenbild die Gesellschaft nicht mehr als ein Faktor auf der Nutzenfunktion des Akteurs, so ist sie in der durkheimschen Konzeption der sozialen Akteure „eine Macht, die sie bestimmt“ (Durkheim 1983 [1897], S. 271). Der Angemessenheitslogik folgende Akteure überlegen, in welcher Situation sie sich befinden, wer sie sind und welches Handeln für diese Situation angemessen ist, wobei solche Angemessenheitsvorstellungen in Normen festgehalten, sozial geformt und durch Sozialisation vermittelt werden (March und Olsen 1989, S. 23; March und Olsen 1998, S. 949–950). Die Befolgung von Normen ist hier intrinsisch motiviert, d. h. die Akteure haben die (in Normen kondensierten) gesellschaftlichen Erwartungen verinnerlicht und agieren aus dem Glauben an die Richtigkeit der Norm heraus (Elster 1989, S. 104). Im Konzept der Angemessenheitslogik können Normen und Interessen zusammen- (und auch wieder auseinander-)laufen: Was die Akteure wollen und als ihr Interesse definieren, ist nicht a priori gegeben, sondern erst ein Ergebnis einer Auseinandersetzung des Akteurs mit der Situation und mit den an ihn gerichteten Erwartungen – normkonformes Verhalten kann somit im Interesse des Akteurs liegen, muss es aber nicht (Weldes 1996, S. 276–277).

3 Phasen der Normevolution

Wie sich Normen im Zeitverlauf entwickeln, wird mithilfe verschiedener Modelle zu beschreiben versucht. Diejenigen Modelle, die die gesamte Normbiografie als Abfolge verschiedener Phasen – darunter Entstehung, Diffusion und Erosion – abbilden, können als Makro-Modelle bezeichnet werden. Hierzu zählen das „evolutionary pattern“ von Ethan Nadelmann (1990), das „norm-life cycle“ von Martha Finnemore und Kathryn Sikkink (1998) oder Ann Florinis (1996) Analogie zwischen Normen und Genen. Modelle, die bestimmte Phasen differenziert betrachten, können als Meso-Modelle bezeichnet werden. Die Normentstehung wird beispielsweise im Agenden-Diffusionsmodell (Rosert 2019b), die Diffusion im weltgesellschaftlichen Modell (Coni-Zimmer 2014) beschrieben. Prozesse der Normdurchsetzung beschreibt das Spiralmodell von Thomas Risse, Stephen Ropp und Kathryn Sikkink (1999). Mikro-Modelle schließlich zoomen in Unterphasen verschiedener Hauptphasen hinein. Sie untersuchen beispielsweise, wie sich Normunternehmer bestimmter Issues annehmen (Carpenter 2007), wie Agenda-Setting funktioniert (Joachim 2003), wie in Verhandlungen Überzeugung gelingen kann (Deitelhoff 2009) oder wie sich bestimmte Themen und Verständnisse durchsetzen und andere nicht (Holzscheiter 2010). Im Folgenden beleuchte ich ausgewählte Aspekte der Normevolution unter Rückgriff auf diese Modelle genauer.

3.1 Die Entstehung von Normen

Die Grenzen zwischen den Phasen, in denen Normen noch entstehen und schon diffundieren, sind fließend, zumal Entstehungs- und Diffusionsprozesse durchaus parallel ablaufen können. Normgenese wird definiert als ein Prozess, „durch den sich ein neuer normativer Anspruch innerhalb einer Gruppe von Akteuren bildet“ (Deitelhoff 2006, S. 45). Überträgt sich die vereinbarte Norm auf weitere Akteure und gewinnt sie an Akzeptanz, spricht man von Normdiffusion (Finnemore und Sikkink 1998, S. 902). Doch auch die Genese selbst lässt sich als Diffusionsprozess verstehen. In diesem schließen sich zum einen immer mehr Akteure ehemals wenig verbreiteten oder nur individuell vorhandenen Überzeugungen an – die bereits angesprochene Geteiltheit und Intersubjektivität von Normen nimmt zu (Sikkink 2008, S. 91). Zum anderen bewegt sich der Normkandidat dabei durch verschiedene Agenden – die der Öffentlichkeit, der Zivilgesellschaft, der Medien oder internationaler Organisationen (Rosert 2019b).

Wann gilt eine Norm als „entstanden“? Die Frage ist je nach Entstehungsform einfacher oder schwieriger zu beantworten. Weil internationale Normen häufig verschriftlicht werden, beispielsweise in Deklarationen, Resolutionen, Konventionen oder Verträgen (Khagram et al. 2003, S. 15), hat man in vielen Fällen einen manifesten Zeitpunkt, auf den man die Normentstehung datieren kann. Nicht alle Normen sind jedoch verrechtlicht; manche existieren lediglich als Verhaltenspraxis oder verbleiben so lange in der internationalen Diskussion, dass sie als Normen gelten können ohne formal festgeschrieben worden zu sein (Florini und Simmons 2000, S. 11; Finnemore 2000, S. 701).Footnote 2 Auch wenn sich für solche Fälle kein fester Entstehungszeitpunkt bestimmen lässt, kann man sich diesem über die Analyse der Verhaltenspraktiken oder der internationalen Diskurse annähern (beispielsweise Clapp und Swantston 2009; oder Bode und Huelss 2018).

Noch schwieriger zu identifizieren als nicht-verrechtlichte Normen sind nicht-entstandene Normen – solche Fälle, in denen sich bestimmte Probleme nicht in Problemlösungsversuche in Form entsprechender Normen übersetzt haben (Kingston 2013; Carpenter 2014; Rosert 2019a). Die Herausforderung ist geringer, wenn es sichtbare Normsetzungsbemühungen gab, die jedoch erfolglos geblieben sind (beispielsweise, weil sich die Staaten in Verhandlungen nicht einigen konnten). Daneben gibt es Normen, die zwar in formalen Verhandlungsergebnissen festgehalten wurden, jedoch entweder nicht bindend oder inhaltlich derart schwach sind, dass man nicht von einer Normentstehung sprechen kann (Bob 2012, S. 32).Footnote 3 Schwerer zu entdecken sind solche Fälle, für die nicht einmal bei den potenziellen Normunternehmern ein entsprechendes Problembewusstsein herrscht – wenn etwas nicht als Problem wahrgenommen wird, wird man auch das Fehlen einer entsprechenden Norm nicht bemerken.Footnote 4

Normen entstehen auf unterschiedlichen Wegen. Manche Normen bilden sich heraus, wenn nationale Gesetze, Normen und Praktiken auf die internationale Ebene ausstrahlen (Koschut 2014; Towns 2012); andere entstehen spontan, „without conscious human design“ (Sugden 1989, S. 86), aus Praktiken und Gewohnheiten, sofern diese Erwartungen mit Verpflichtungscharakter generieren (Kratochwil 1991, S. 82 f.). Das Gros der Normen wird als Reaktion auf bestimmte Problemlagen angestrebt – sie sind Ergebnisse gezielter Normsetzung, was bedeutet, dass sie dezidiert von Akteuren gefordert, verhandelt und schließlich angenommen werden. Drei Akteursgruppen interagieren hierbei miteinander: Normunternehmer, Normadressaten und Mobilisierungsadressaten.

Normunternehmer (norm entrepreneurs, ursprünglich moral entrepreneurs) treiben Normsetzungsprozesse voran: Sie erkennen und benennen bestimmte Sachverhalte als Problem, stellen ein kollektives Problembewusstsein her, fordern die Problemlösung in Form einer Norm ein und engagieren sich auch nach deren Entstehung im Sinne der Norm, etwa durch Monitoring oder Compliance-Förderung (McElroy 1992, S. 179–180; Wunderlich 2013, S. 35 f.). Klassischerweise wird in diesem Zusammenhang vor allem die transnationale Zivilgesellschaft – Nichtregierungsorganisationen, Advocacy- und/oder Betroffenen-Netzwerke sowie Zusammenschlüsse von Wissenschaftler*innen („concerned scientists“) – analysiert (Keck und Sikkink 1998; Schapper 2018; Bolton und Mitchell 2020). Erste Versuche der Zivilgesellschaft, auf die internationale Ebene Einfluss zu nehmen, finden sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts, doch die Anzahl und die Interaktionsdichte grenzüberschreitender zivilgesellschaftlicher Aktivitäten haben seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich zugenommen und seit den 1970er-Jahren mehrere große Schübe erfahren (Smith 1997, S. 42–44; Brühl 2003, S. 46).

Internationale Organisationen sind ebenfalls als Normunternehmer aktiv, wenn sie eigene normative Visionen strategisch verfolgen, als Plattformen für Aushandlungen von Normen dienen, Lernprozesse fördern oder auf die Mitglieder Druck ausüben (Finnemore 1993; Squatrito et al. 2019). Doch auch Staaten waren schon immer und bleiben weiterhin in der Normsetzung engagiert: Darunter sind Mittelmächte, die durch eigene am Gemeinwohl orientierte Politik, z. B. im Umwelt- oder Abrüstungsbereich, eine Strahlkraft entwickeln (Ingebritsen 2002; Becker-Jakob et al. 2013, S. 207; Efstathopoulos 2018), aber auch Großmächte, die sich für die Beendigung bestimmter Praktiken einsetzen, wie etwa Großbritannien für das Ende der Sklaverei (Kaufmann und Pape 1999), die internationale Ordnung mittels Normen stabilisieren wollen (Fey et al. 2013; Rauch 2014, S. 43–50) oder die normative Transformation mancher Bereiche, etwa des Friedensaufbaus, prägen (Jütersonke et al. 2021).

Die Vielfalt der Akteure, die als Normunternehmer agieren, bedeutet auch, dass sich die Motive für das Engagement unterscheiden können. Grundlage des transnationalen zivilgesellschaftlichen Normunternehmertums sind gemeinsame Wertvorstellungen und Prinzipien – und die Anerkennung, dass ein bestimmter Sachverhalt diesen so sehr zuwiderläuft, dass er untragbar ist. In der Regel setzt sich die Zivilgesellschaft für öffentliche Güter ein und handelt somit gemeinwohlorientiert (Florini und Simmons 2000, S. 7). Gegenstand der Forschung sind jedoch auch die Effekte, die die Professionalisierung und Vergrößerung des NGO-Sektors hat, etwa ungleiche Machtverteilung, Ressourcen- und Kompetenzstreitigkeiten oder konkurrierende Zielsetzungen (Cooley und Ron 2002).

Es entspricht dem Mandat internationaler Organisationen, globale öffentliche Güter bereitzustellen, wobei auch in diesem Fall Eigenmotive, etwa die Sicherung und Legitimierung des eigenen Fortbestehens dazukommen können (Barnett und Coleman 2005, S. 594). Das Engagement von Staaten kann ebenfalls mehreren Motiven geschuldet sein: den Interessen im engeren Sinne (etwa der Verbesserung der eigenen Sicherheitslage), sozialen Bedürfnissen (etwa der Verbesserung des internationalen Status), aber sicherlich auch dem Glauben an die moralische Richtigkeit der vertretenen Normen (Becker-Jakob et al. 2013, S. 233; Towns 2012, S. 183). Dieses klassische Verständnis wurde inzwischen auch um Staaten erweitert, die aufgrund ihrer internen undemokratischen Verfasstheit und/oder aggressiven Außenpolitik in der internationalen Politik eher als Parias gelten, dennoch aber Normen propagieren (Wunderlich 2017).

Unterschiedlich sind auch die Ressourcen, die unterschiedlichen Normunternehmern zur Verfügung stehen. Transnationalen Akteuren fehlen zwar klassische Machtmittel wie Militär, Kapital oder Entscheidungsbefugnisse, jedoch werden sie als glaubwürdig und moralisch integer angesehen, was ihnen, zusammen mit ihrer Expertise, diskursive Macht verleiht – verstanden als Macht über Informationen und Bedeutungen (Keck und Sikkink 1998, S. 16–19; Holzscheiter 2005, S. 725). Die Ausübung dieser Macht setzt freilich trotzdem ein Minimum an konventionellen Ressourcen wie Personal, Finanzmittel und Medienzugang voraus. Internationale Organisationen verfügen über Expertise über bestimmte Problemfelder, informationale Autorität, institutionelles Wissen und die notwendigen bürokratischen Strukturen sowie finanzielle Ressourcen (Barnett und Finnemore 2004; Liese und Weinlich 2006). (Mächtige) Staaten schließlich besitzen genügend klassische Druckmittel, um ihren peers Normen schlicht aufzuzwingen (De Nevers 2007, S. 56). Mittlere und kleinere Mächte fungieren indes eher als Organisatoren und Austragungsorte von Normsetzungsprozessen und stellen personelle, finanzielle und technische Ressourcen zur Unterstützung der Implementation von Normen sowie deren Verifikation bereit (Becker-Jakob et al. 2013). Zudem pflegen sie nicht selten besondere Beziehungen zu einigen Großmächten, und genießen eine gewisse ökonomische und politische Bedeutung wie auch internationalen Respekt (Matthew 2003, S. 9–10).

Diejenigen Akteure, deren Präferenzen, Einstellungen und Verhalten die Normunternehmer zu ändern versuchen, bezeichnen wir als Normadressaten. In der internationalen Politik sind dies üblicherweise Staaten: Sie sollen die Menschenrechte wahren und schützen, die Klimakrise bekämpfen, Konflikte friedlich lösen, nicht korrupt sein, Zivilist*innen verschonen, persönliche Daten schützen, die globale Ungleichheit verringern und Handelsbarrieren abbauen. Wie diese Aufzählung der Problemfelder jedoch deutlich macht, können Staaten nicht die alleinigen Akteure sein, an die sich internationale Normen richten – denn in all diesen Bereichen sind auch andere Akteure aktiv, deren Verhalten ebenfalls reguliert wird (wenngleich nicht alle von ihnen den Status von Völkerrechtssubjekten haben). Eine zentrale Akteursgruppe sind Unternehmen, für die Umwelt-, Menschenrechts- und Rüstungsexportstandards gelten und die in verschiedenen Ländern, auch solchen mit einer zweifelhaften Menschenrechtsbilanz und nicht-demokratischen Verfasstheit, tätig sind (Hofferberth et al. 2011; Deitelhoff und Wolf 2013). Auch an internationale Organisationen richten sich Normen: etwa an die Vereinten Nationen, unter deren Mandat die Friedensmissionen laufen oder an die ASEAN, die in der Bekämpfung des Kleinwaffenhandels aktiv ist (Beber et al. 2017; Capie 2008). Schließlich sind auch nicht-staatliche bewaffnete Akteure zu nennen, denn auch sie sind zunehmend angesprochen, wenn es um die Einhaltung von Normen insbesondere im Bereich der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts geht, etwa beim Verzicht auf die Rekrutierung von Kindersoldaten oder auf den Einsatz von Landminen (Herr 2015).

Anders als Normadressaten werden Mobilisierungsadressaten nicht deshalb zur Zielgruppe von Normunternehmern, damit sie selbst ihr Verhalten ändern (weil es nicht in ihrer Macht steht oder weil sie es ohnehin nicht praktizieren), sondern damit sie auf die Normadressaten einwirken. Zu Mobilisierungsadressaten können die Öffentlichkeit, andere transnationale Netzwerke, andere Staaten oder staatliche Zusammenschlüsse werden. Sie sollen also motiviert werden, auf die Normadressaten Einfluss zu nehmen, um letztere zur Normakzeptanz zu bewegen (Gamson 1990, S. 14–15). Jedoch sind Normadressaten und Mobilisierungsadressaten nicht immer voneinander abgrenzbar; die Rollen können sich im Verlauf von Normsetzungsprozessen ändern oder dieselbe Akteursgruppe kann beides zugleich sein. So ist etwa die Öffentlichkeit ein wichtiger Mobilisierungsadressat – viele Normen setzen jedoch auch einen breiten gesellschaftlichen Wandel voraus, sodass die Öffentlichkeit auch selbst durchaus ein Normadressat werden kann (Stachursky 2013, S. 3–4). Ebenso können diejenigen Normadressaten, die die Norm bereits akzeptiert haben, zu Mobilisierungsadressaten werden, wenn sie dazu bewegt werden sollen, sich bei ihren peers für die Norm einzusetzen.

Die argumentative Grundlage für Interaktionen zwischen diesen Akteursgruppen bildet das „Framing“, also die diskursive Rahmung – damit werden Sachverhalte auf eine bestimmte Art und Weise als Probleme konstruiert (Khagram et al. 2003, S. 11–12). Normunternehmer organisieren und präsentieren ihren Zielgruppen Ausschnitte der Welt, um eine geteilte Wahrnehmung und Einschätzung der Wirklichkeit zu fördern; sie treten damit als „Frame-Sponsoren“ auf und betreiben Informations- und Bedeutungsmanagement (Creed et al. 2002). Framing zielt darauf, beim Zielpublikum kognitive, emotionale und behaviorale Reaktionen auszulösen. Mit anderen Worten sollen die Adressaten einen Sachverhalt auf eine bestimmte Art und Weise verstehen, bestimmte Gefühle haben und sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten. Dies soll erreicht werden, indem man Sachverhalten – selektiv und repetitiv – bestimmte Attribute zuschreibt (Entman 1993, S. 52–53; de Vreese und Lecheler 2012, S. 300). Die Attribute werden zudem kohärent miteinander verbunden, aber auch an die individuellen, institutionellen und kulturellen Überzeugungen der Zielgruppen geknüpft (Snow und Benford 1992, S. 137). Den Prozess der Herstellung von Anschlussfähigkeit an vorhandene normative Ressourcen nennt Richard Price „Grafting“ – aufpfropfen (1998, S. 628–630).

Nicht alle Frames haben die gleichen Chancen, zu verfangen; manche sind kognitiv und emotional einfacher aufzunehmen als andere. Zu den förderlichen Eigenschaften im Bereich der Kognition zählt Nachvollziehbarkeit, was wiederum bedeutet, dass ein Problem nicht zu komplex sein bzw. dargestellt werden darf. Wirken die Problemstrukturen komplex, d. h. sind etwa die Ursachen und die Erscheinungsformen des Problems vielfältig und die Konsequenzen unklar oder nicht so leicht den Ursachen zurechenbar, kann dies abschrecken (Cobb und Elder 1983, S. 98–99; Newig 2004, S. 169). Dass Botschaften deutlich und einfach sein sollen, ist auch als Erfolgskriterium von Normsetzungsprozessen identifiziert worden: So gelte es, neben einer pointierten Problembeschreibung auch eine möglichst kurze Kausalkette aufzustellen, d. h. die Ursachen bzw. Verantwortlichen zu benennen und die Norm als praktikablen und nachvollziehbaren Lösungsweg zu präsentieren. Probleme, die dem Handeln von Akteuren zugeschrieben werden, erscheinen attraktiver als Probleme, die dem Wirken von Strukturen zugeschrieben werden (Keck und Sikkink 1998, S. 19, 27; Carpenter 2011, S. 86). Überhaupt müssen Probleme grundsätzlich als lösbar eingeschätzt werden: Das Framing sollte also deutlich machen, dass Problemlösungen denkbar und durchsetzbar sind (Kingdon 2003: 114, 165–167). Ferner kann man annehmen, dass solche Normen, die kleine Verhaltensänderungen erwarten lassen, leichter akzeptiert werden, als Normen, die große Veränderungen erfordern, weil erstere besser an die bestehende Praxis anschließen – daher kann ein sukzessives Vorgehen, bei dem zunächst weniger radikale Normen etabliert werden und später darauf aufgebaut wird, um radikalere Normen durchzusetzen, sinnvoll sein (Joachim 2003, S. 253).

Die förderlichen Eigenschaften im Bereich der Emotion sollen bei den Adressaten bestimmte Gefühle – Mitgefühl mit den Betroffenen, Empörung über die Verursacher bzw. Scham bei den Verursachern – auslösen.Footnote 5 Dies wird durch Frames begünstigt, die konkret sind sowie Nähe und Dramatik transportieren. Konkret werden Sachverhalte durch Personifizierung und Visualisierung: Der Fokus wird auf die individuellen Schickale von Betroffenen gelegt und es werden visuelle Mittel (Fotos, Filme, Grafiken) eingesetzt, um das Problem sichtbarer zu machen (Keck und Sikkink 1998, S. 19–20; Price 1998, S. 623). Nähe („proximity“) bedeutet, dass das Framing das Problem näher an das Publikum heranrücken muss, um die Identifikation mit den Betroffenen zu erleichtern. Nähe kann durch geografische, aber auch biografische, kulturelle oder ethnische Bezüge hergestellt werden. Entscheidend ist, dass das Frame Ähnlichkeiten zwischen den Betroffenen und dem Publikum konstruiert und dessen (potenzielle) eigene Betroffenheit hervorhebt (Djerf-Pierre 2012, S. 503). Emotionalität und Dramatik kann ein Issue erstens durch Trigger-Ereignisse erhalten; diese zeichnen sich u. a. durch Seltenheit und ein besonderes Ausmaß aus (Waldherr 2012, S. 23). Zweitens kann die Sprache Dramatik erzeugen, durch die Wahl eines entsprechenden Vokabulars (Superlative oder Vergleiche), durch die Konstruktion von Narrativen oder durch die Verwendung generischer Frames (Yee 1996, S. 95–96). Solche Frames sind etwa Humanität, Moral und Werte, Allgemeinwohl bzw. öffentliches Interesse, Fortschritt, Gefahr, Bedrohung, Angst, Schmerzen, Verluste, Krisen und Unsicherheit (Luhmann 1979, S. 38–44). So gelten beispielsweise Normen, die auf die Verhinderung körperlicher Schmerzen zielen, als vergleichsweise leicht zu vermitteln (Keck und Sikkink 1998, S. 27).

Zusammengefasst passiert bei Framing-Prozessen im Kontext der Normförderung also Folgendes: Das jeweilige Problem muss so in interpretative und normative Strukturen eingefasst werden, dass es vom Zielpublikum als bearbeitungswürdig und dringend wahrgenommen wird; es müssen dessen Ursachen bzw. Verursacher diagnostiziert werden und eine Norm, welche ein Spektrum an angemessenen Handlungen eröffnet, als Problemlösung aufgebaut werden, sodass das Zielpublikum aktiviert wird, etwas dagegen zu tun. Normunternehmer müssen folglich strategische Entscheidungen darüber treffen, welches Framing sie für das Problem etablieren wollen, und dabei die sozialen, politischen und kulturellen Bedeutungsrepertoires des Zielpublikums bedenken. In der Diskussion um die Regulierung von Autonomie in Waffensystemen heißt es beispielsweise, dass zu entscheiden ist, ob es aussichtsreicher ist, militärische, humanitär-völkerrechtliche oder ethische Aspekte hervorzuheben. Sind die Terminator-Assoziationen, die das Label „Killer Robots“ für entsprechende Waffensysteme erzeugt, hilfreich oder irreführend (Rosert und Sauer 2021)? Ist es zielführend, das Unterscheidungsgebot zum wichtigsten Ablehnungsgrund für solche Waffen aufzubauen oder sollte die Menschenwürde im Mittelpunkt stehen (Rosert und Sauer 2019)? Und: sollten sich die Staaten darauf einigen, wie Autonomie in der Kriegsführung eingesetzt werden darf – welche Verifikationsmechanismen sind in einem solchen Regime zielführend? (Abb. 1)

Abb. 1
figure 1

Adressaten und Strategien der Normunternehmer. (Eigene Darstellung, siehe auch Rosert 2019a, S. 140)

Um die Mobilisierungsadressaten zu erreichen, deren Interesse und Positionierung sich dann wiederum auf die politischen Entscheider auswirken sollen, müssen Normunternehmer die öffentliche Aufmerksamkeit auf das jeweilige Problem lenken – das Framing muss erst sichtbar werden. Zur Schärfung des öffentlichen Problembewusstseins (awareness raising) führen sie sogenannte Kampagnen durch (Keck und Sikkink 1998, S. 19–25; Khagram et al. 2003, S. 7). In den Kampagnen kommen in der Regel zwei einander ergänzende Elemente zum Einsatz: die Informationspolitik (information politics) und die Aktionspolitik (action politics). Die Veröffentlichung und Verbreitung von Informationen und die Initiierung von Aktionen zielt nicht nur auf die Erhöhung des Wissens über das Problem, sondern auch auf die Förderung bestimmter Positionen – neben Fakten sollen auch Emotionen und Haltungen vermittelt werden. Medien der Informationspolitik können beispielsweise Presseartikel, Fernsehberichte, Vorträge, Ausstellungen, Plakate und Informationsmaterial, aber auch Filme und Romane sein. Mittel der Aktionspolitik können beispielsweise Demonstrationen, Protestaktionen oder Spendenaufrufe sein. Ob es gelingt, das Thema mittels der Aktionspolitik in den Medien zu platzieren, hängt beispielsweise von der Menge der Beteiligten sowie der Kontinuität und der Kreativität der Aktionen ab.

Die Öffentlichkeit zu aktivieren ist eine Methode, auf die Normadressaten sozialen Druck auszuüben, in der Hoffnung, mit diesem Hebel ihre Kosten-Nutzen-Kalküle soweit zu verändern, dass sie bereit sind, sich den Erwartungen entsprechend zu positionieren und die jeweilige Norm anzuerkennen, weil sie andernfalls öffentlicher Kritik ausgesetzt werden (Mantilla 2020, S. 447). Allgemein formuliert, entsteht sozialer Druck durch soziale, d. h. von Gruppen bzw. Gemeinschaften verteilte, Belohnungen und Bestrafungen, welche den sozialen Nutzen der Akzeptanz bzw. die sozialen Kosten der Nicht-Akzeptanz der Norm erhöhen (Johnston 2001, S. 499; Rost Rublee 2008, S. 422). Das Stichwort-Trio, welches in diesem Zusammenhang in verschiedenen Kombinationen vorkommt, lautet naming, blaming, and shaming. Gemeint ist damit die namentliche Benennung der jeweiligen Akteure und ein öffentliches Anprangern normablehnender Haltungen und normwidriger Verhaltensweisen. Dies geschieht mit dem Ziel, Rechtfertigungs- und Anpassungsdruck zu erzeugen (Schimmelfennig 2001, S. 64; Liese 2006, S. 104). Die Kritik wird in der Regel von transnationalen Normunternehmern, aber auch von internationalen Organisationen geübt und über die Medien übermittelt (Krain 2012, S. 575).

Sozialer Druck ist ein Hybridmechanismus, der rationalistische und konstruktivistische Elemente vereint (Schimmelfennig 2001, S. 65). Er operiert einerseits mit Kosten-Nutzen-Kalkülen, um instrumentelle Anpassungen der Rhetorik bzw. des Verhaltens zu erzeugen – ob Akteure einsehen, dass die Norm richtig ist, ist zweitrangig. Andererseits lässt sich rationalistisch kaum erfassen, warum Beschämen überhaupt effektiv sein kann, denn es setzt interne psychologische Prozesse voraus: Die in materieller Hinsicht möglicherweise sogar lohnenswerte Normablehnung wird mit „psychologisch schmerzhaften Empfindungen“ (Axelrod 1986, S. 1104, Übersetzung ELR) wie Schuldgefühlen und Scham geahndet (Elster 1989, S. 104). Während materielle Sanktionen die materielle Verwundbarkeit der Akteure voraussetzen, setzen soziale Sanktionen die soziale Verwundbarkeit voraus: Werden normbezogene Handlungen an das Standing der Akteure in der internationalen Gemeinschaft geknüpft, und verspüren die Akteure eine gewisse Identifikation mit der Gemeinschaft, werden sie dieses Standing wertschätzen und daher Reputations- und Statusverluste infolge normablehnenden Verhaltens fürchten (Mantilla 2018, S. 322–326).Footnote 6

Im Unterschied zum Druck zielen Überzeugungsversuche auf die Konvergenz von Position, Verhalten und Einstellung, d. h. auf eine tatsächliche Änderung der Akteurspräferenzen und intrinsische Normakzeptanz (Checkel 2001, S. 562; Deitelhoff 2009, S. 43). Dies soll in Aushandlungsprozessen erreicht werden, die auf einen argumentativen Konsens zielen und an deren Ende der Sieg des besseren Arguments stehen soll (Müller 1994, S. 26–28, 36–37). Während sozialer Druck sowohl direkt als auch diffus ausgeübt werden kann, findet Überzeugung in direkter Kommunikation, z. B. in internationalen Verhandlungen, statt (Deitelhoff und Müller 2005, S. 172). Die Kontextbedingungen, die eine solche argumentative Einigung möglich machen und auf deren Herstellung Normunternehmer als situationsorientierte „Diskursmakler“ hinarbeiten (Deitelhoff 2006, S. 73), wurden aus Habermas’ Theorie abgeleitet, auf das internationale System übertragen und in Studien zu unterschiedlichen internationalen Verhandlungsforen empirisch bestätigt. Diese sind: eine gemeinsame Lebenswelt, die gemeinsame Erfahrungen, Referenzpunkte und Handlungsziele beinhaltet und auf der internationalen Ebene durch institutionalisierte Diskurse und Kooperation sowie durch das Völkerrecht gegeben ist; die ideale Sprechsituation, die Inklusivität, gleiche Teilnahmerechte und den Schutz vor Repression in Entscheidungsprozessen umfasst, und die auf Seiten der Akteure Aufrichtigkeit sowie die Bereitschaft, sich in andere Akteure hineinzuversetzen und sich überzeugen zu lassen, voraussetzt, und eine Öffentlichkeit, der gegenüber man rechenschaftspflichtig ist und die deshalb als Kontrollinstanz für die Gültigkeit und Glaubwürdigkeit der vorgebrachten Argumente gilt (Risse 2000, S. 14–19; Deitelhoff 2009).

Zusammengefasst können die Normadressaten, aufbauend auf einem ansprechenden Framing, durch zwei – einander ergänzende – Wege dazu gebracht werden, entstehende Normen zu akzeptieren: Ein Weg besteht darin, sozialen Druck auszuüben, um den sozialen Nutzen der Normakzeptanz zu erhöhen; diese wird lohnenswert, ohne notwendigerweise als richtig angesehen zu werden. Der soziale Druck kann in direkten Interaktionen zwischen Normunternehmern und Normadressaten hergestellt werden, aber auch „über Bande“: in diesem Fall werden die Öffentlichkeit oder andere Staaten mobilisiert, die über leverage gegenüber den Normadressaten verfügen, und die sich dann an die Normadressaten wenden. Der zweite Weg besteht darin, (moralisch) zu argumentieren, um den Akteur zur Einsicht zu bewegen, dass die Normakzeptanz richtig ist, selbst wenn sie von ihm nicht als lohnenswert angesehen wird.

3.2 Die Diffusion von Normen

Obwohl die Entstehungs- und die Diffusionsphase, wie bereits erwähnt, zusammenfallen und zeitgleich ablaufen können, ist es zu analytischen Zwecken dennoch hilfreich, sich vorzustellen, was mit einer Norm passiert, nachdem sie auf internationaler Ebene festgeschrieben worden ist. Eine solche Norm diffundiert idealerweise sowohl in die Breite als auch in die Tiefe, sprich: Immer mehr Staaten und immer mehr Akteure innerhalb der Staaten erkennen sie an und ändern ihr Verhalten entsprechend. Doch wie werden sich die Akteure der Existenz von Normen bewusst? Welche Faktoren begünstigen und erschweren die Verhaltensanpassung? Welche Formen kann diese annehmen und nach welchen Mustern läuft sie ab? Wie kann die Diskrepanz zwischen der Anerkennung und der Umsetzung von Normen erklärt werden? Können Akteure gezwungen werden, Normen einzuhalten und wie? Wie reagieren Staaten auf Compliance-Druck? Was geschieht, wenn internationale Normen mit regionalen, nationalen und lokalen Normen in Berührung kommen?

Zwei prominente Erklärungsmechanismen für die Diffusion von Normen sind Sozialisation und Lernen, wobei Sozialisation den gesamten Prozess, Lernen die Vorgänge im Akteur meint. Im Blickpunkt steht die Vergesellschaftung der Akteure: Sie werden durch Interaktionsprozesse an das soziale Leben mit seinen Werten, Normen und Rollen herangeführt, wobei die oben bereits beschriebenen Framing- und Überzeugungsprozesse sowie die Ausübung von Druck eine Rolle spielen (Zimmermann 2016, S. 101). Bereits die englische Schule hat das internationale System als eine Gesellschaft konzipiert, die sich durch gemeinsame Interessen und Zielvorstellungen auszeichnet und über Regeln, die der Erreichung dieser Ziele dienen, sowie über Institutionen der Regelumsetzung verfügt (Bull 1977). Das internationale System wird zur Sozialisationsinstanz, die über den Zugang zu sozialen Ressourcen entscheidet; einzelne Akteure werden zu Sozialisanden, die (nicht unbedingt bewusst) nach diesem Zugang streben und sich deshalb den Überzeugungen und Erwartungen anpassen (Schimmelfennig 2000, S. 117). Sozialisation ist demnach ein Lernprozess, in dem lernfähige Parteien miteinander interagieren, einander imitieren und schließlich bestimmte Verhaltensweisen internalisieren (Bernheim 1994, S. 842; Schimmelfennig 2000, S. 111 f.).

Martha Finnemore und Kathryn Sikkink integrierten diese Aspekte in ihr viel beachtetes Norm-Life-Cycle-Modell (Finnemore und Sikkink 1998). Darin zentral ist die Vorstellung einer kaskadenartigen Dynamik der Normdiffusion. Diese kommt in Gang, sobald die Zahl der Normunterstützer einen Kipppunkt („tipping point“) erreicht, den die Autorinnen bei ca. einem Drittel aller Staaten vermuten: Die Anzahl der Normunterstützter wächst nun schneller, während zugleich die Notwendigkeit für innerstaatliche Akteure sinkt, auf die Regierung Druck auszuüben.Footnote 7 Schließlich wird die jeweilige Norm breitflächig internalisiert.

Die beschriebenen Ansätze eignen sich gut, um Erfolgsfälle zu erklären, doch sie geben recht wenig Aufschluss darüber, weshalb einige Akteure manche Normen akzeptieren, andere jedoch nicht und weshalb internationale Sozialisationsprozesse nicht auf alle Akteure gleichermaßen wirken – einige Akteure bleiben trotz hoher Interaktionsdichte gegenüber internationalen Normen relativ resistent, andere setzen sie minimalistisch um, während sich bei wiederum anderen eine Kluft zwischen Rhetorik und Verhalten zeigt (Zimmermann 2016, S. 100; Dixon 2017). Solche Varianzen haben als Ansporn gedient, Sozialisation als komplexen Prozess zu begreifen. Dieser findet auf verschiedenen Ebenen statt: neben der internationalen auch auf Ebene der nationalen Eliten und der nationalen Bevölkerung bis hin zu einzelnen Individuen (Flockhart 2006, S. 93, 99). Und er beginnt schon beim Erscheinen der Norm auf der innenpolitischen Tagesordnung, womit unterschiedliche innerstaatliche Interessensgruppen, die an der Formierung normativer Vorstellungen im Rahmen ihrer institutionellen Handlungsmöglichkeiten mitwirken, ins Zentrum rücken (Cortell und Davis Jr. 1996, S. 453; Checkel 1997, S. 476). Durch die Untersuchung des politischen Systems kann erklärt werden, wie Normen diffundieren, warum Diffusionsprozesse ausbleiben und warum es in manchen Systemen eher eine top-down-Diffusion, in anderen hingegen eine bottom-up-Diffusion gibt (Checkel 2001, S. 580).

Ob Normen innerstaatlich verfangen oder nicht hängt davon ab, wie gut sie zu den bereits existierenden nationalen und lokalen Normen passen: Können sie an bestehende innerstaatliche Vorstellungen andocken, kann die Diffusion inkrementell vonstattengehen; widersprechen sie ihnen hingegen, sind vermehrte Mobilisierungsanstrengungen und Druck notwendig (Farrell 2001, S. 65, 81) oder die Diffusion misslingt gänzlich (McIntosh Sundstrom 2005, S. 432 f.). Während in früheren Arbeiten Passung bzw. Nicht-Passung als entweder vorhanden oder nicht vorhanden erscheinen, hat sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die aktive Herstellung der Passung verlagert. Antje Wiener wies schon früh auf eine Grundeigenschaft von Normen hin, die solche Prozesse ermöglicht: Normen sind demnach sowohl stabil und strukturierend als auch offen für und sogar angewiesen auf Interpretationen (Wiener 2004, 2007). Entsprechend sind auch Normbeziehungen grundsätzlich nicht fixiert, sondern können strategisch als synergetisch oder konflikthaft konstruiert werden (Fehl 2018).

Was daraus für die Akzeptanz und Umsetzung von Normen, die ja in der Regel auf verschiedenen Ebenen unterhalb der internationalen stattfindet, folgt, wird unter dem Schlagwort Lokalisierung erforscht. Lokalisierungsprozesse können in unterschiedlichen normativen Lösungen münden. So kann es gelingen, fremde Normen in durchaus divergierende lokale Kontexte zu integrieren: Sie werden dabei kreativ angeeignet, was eine wechselseitige Anpassung des Lokalen und des Internationalen, Rückkopplungseffekte auf die internationale Ebene und die Produktion neuer normativer Ideen bedeuten kann (Acharya 2004, S. 245, 269; Ottendörfer 2016; Zimmermann 2017, 2021). Gelingt es allerdings nicht, normative Widersprüche aufzulösen, kann dies zur Verschleierung von Einstellungen und Verhaltensweisen führen, die die Norm verletzen (Cloward 2014) oder zu „hohlen Kompromissen“, die die Norm zwar auf nationalstaatlicher Ebene festschreiben, jedoch in einer Art und Weise, die keine Umsetzung erwarten lässt (Lesch 2021). Möglich ist aber auch, dass sich externe Normen auf lokaler Ebene weiterentwickeln, wenn dort progressive Lösungen umgesetzt werden, auf die man sich national oder international nicht einigen konnte (Jakobi und Loges 2022).

Dass manche Akteure der Diffusionsdynamik widerstehen, sprich Normen nicht anerkennen und/oder die Umsetzung verweigern, wirft die Frage auf, wie Umsetzungslücken geschlossen und Normen durchgesetzt werden können. Als Durchsetzung zählen Tätigkeiten zur Verringerung der Diskrepanz zwischen Norm und Verhalten, sodass schließlich eine „nicht gänzlich freiwillige Normbeachtung erreicht wird“ (Zangl 2001, S. 52). Dies geschieht mittels verschiedener Sanktionsmechanismen, deren trans-, inter- und nationales Zusammenspiel in einem weiteren bekannten Modell, nämlich dem „Spiralmodell des Menschenrechtswandels“ erfasst wird (Forschungsgruppe Menschenrechte 1998; Risse et al. 1999, 2013). Im Kern setzt sanktionsbasierte Sozialisation, wie bereits im Zusammenhang mit dem sozialen Druck erläutert, offenkundig auf einen rationalen Akteur, dessen Kosten-Nutzen-Kalküle durch Drohungen verändert werden (Zangl 2001, S. 53). Als weicher Mechanismus gelten soziale Sanktionen (Schimmelfennig 2001, S. 64) wie der Abbruch diplomatischer Kontakte, die Kritik am Fehlverhalten und, wie oben bereits im Zusammenhang mit Normentstehung beschrieben, sozialer Druck. Als harter Mechanismus gelten materielle Sanktionen wie finanzielle, wirtschaftliche oder militärische Zwangsmaßnahmen. Wichtig ist, unterschiedliche Gründe für die Nicht-Befolgung zu bedenken, da diese freilich beeinflussen, welche Form der Compliance-Förderung überhaupt Chancen auf Erfolg hat: Bei Unwilligkeit mag Zwang die aussichtsreichste Option sein, bei Unfähigkeit ist es jedoch Unterstützung (Franck 1990; Chayes und Handler Chayes 1993, S. 24).

In neueren Arbeiten wird außerdem versucht, die Dichotomie Normeinhaltung/ Normbruch aufzubrechen bzw. differenzierter auseinanderzusetzen, was Compliance bedeuten kann. Beispielsweise entwirft Jennifer Dixon eine Typologie verschiedener Strategien der rhetorischen Anpassung, zu denen normbrüchige Staaten greifen, um durch scheinbare Normakzeptanz zu verschleiern, dass sie weiterhin normwidrig agieren. Sie unterscheidet Nichtbeachtung, Vermeidung, Kontestation und Signalisierung (Dixon 2017). Vermeintliche Normeinhaltung ist auch der Fokus von Zoltán Búzás (Búzás 2018). Er greift Sara Percys (Percy 2007) Beobachtung auf, dass sich soziale Normen nicht in kongruente rechtliche Pendants übersetzen und zeigt auf, wie Staaten die sich daraus ergebenden Spielräume nutzen, um den Wortlaut der Norm einzuhalten, aber ihren Geist zu unterlaufen.Footnote 8 In die gleiche Forschungsrichtung geht Andreas von Stadens Buch (2018), in dem der Autor den Begriff minimalistischer Compliance etabliert. Darunter versteht er den Versuch, mittels verschiedener Strategien, etwa Gegenreformen oder Einzelfallentscheidungen, Normen nur zu einem gerade noch hinreichenden Mindestmaß umzusetzen.

Vertreter*innen der sogenannten kritischen Normenforschung üben Kritik an der Diffusions- und Compliance-Perspektive und zum Teil auch an der Normenforschung als solcher (Engelkamp et al. 2012; Hofius et al. 2014; Zarakol 2014). Sie sei eurozentrisch, blende Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus und nehme Sanktionierung und Stigmatisierung unhinterfragt hin, wobei sie fast schon komplizenhaft dazu beitrage, internationale Hierarchien und Ausschlüsse alternativer normativer Ordnungen zu reproduzieren. Den Vorwurf begründet die offenkundige Tendenz im Mainstream der Normenforschung, es (unreflektiert) als Erfolgsfälle zu definieren, wenn – mit der eigenen normativen Haltung übereinstimmende – internationale Normen auf der lokalen Ebene unhinterfragt und passiv übernommen werden, wohingegen deren Zurückweisung als rückschrittlicher Widerstand klassifiziert wird (Zimmermann 2021, S. 174). Mit dieser politischen Kritik einher gehen dezidiert auch andere epistemologische, ontologische und methodologische Zugänge; die Perspektive wird erweitert um andere Modi der Wissensproduktion, andere Verständnisse der Beziehungen zwischen Forschenden und „Beforschten“, andere Kausalitätsannahmen, eher rekonstruktive als subsumptive Forschungslogiken sowie interpretative und genealogische Methoden (Glaab et al. 2021; Loges 2021; Herschinger und Sauer 2021).

3.3 Die Kontestation und Erosion von Normen

Der kritischen Normenforschung durchaus zugeneigt, aber dennoch distinkt sind die (miteinander eng verwobenen) Forschungszweige rund um die Kontestation und Erosion von Normen. Während die Normenforschung zu einem gewissen strukturalistischen Bias neigt und Agency vernachlässigt (Rosert und Schirmbeck 2007, S. 279; Herschinger und Sauer 2021, S. 119), stellen sie die Handlungsmacht von Akteuren im Umgang mit geltenden Normen ins Zentrum. Dabei beschreibt „contestedness“ eine Eigenschaft von Normen, nämlich deren Umstrittenheit, und Kontestation beschreibt klassischerweise diskursive Prozesse des Bestreitens von und des Streitens über Normen (Wiener 2004, 2018; Liese 2009; Wolff und Zimmermann 2016; Niemann und Schillinger 2017; Deitelhoff und Zimmermann 2020). Inzwischen geraten auch nicht-verbale Formen von Kontestation stärker in den Fokus (Stimmer und Wisken 2019; Kreuder-Sonnen 2019), wobei noch zu klären ist, ob jedes normwidrige Verhalten als Kontestation gewertet werden kann bzw. wie man non-compliance von „behavioral contestation“ unterscheidet.

Sowohl verbale als auch nicht-verbale Kontestation kann indizieren, dass eine Norm zu erodieren beginnt und diese Erosion vorantreiben. In diesem Erosionsprozess verringert sich der Geltungsanspruch einer Norm (Rosert und Schirmbeck 2007): Immer weniger Akteure halten eine Norm für richtig; die Reichweite der Norm – also ihr Geltungs- und Anwendungsbereich – nimmt ab, sodass sich die ehemals durch die Norm beschränkten Handlungsspielräume der Akteure auf Kosten der Norm erweitern (Rosert und Schirmbeck 2007, S. 257–258). Weit verbreitetes normwidriges Verhalten kann auch ohne begleitende diskursive Angriffe zur Erosion von Normen führen, weil es den Verpflichtungscharakter der Norm schädigt (Deitelhoff und Zimmermann 2019, S. 8).

Kontestation ist weder immer erfolgreich noch führt sie zwangsläufig zur Erosion – vielen Normen bleiben auch dann robust, wenn sie Angriffen ausgesetzt sind, d. h. ihr Geltungsanspruch bleibt breit akzeptiert, sie lenken weiterhin das Verhalten ihrer Adressaten und können sogar gestärkt werden (Acharya 2004; Arcudi 2016; Reiners 2021). Interessant ist nun, unter welchen Bedingungen Kontestation Normen schwächen oder sogar stärken kann (Deitelhoff und Zimmermann 2019). Relevant sind hier erstens die Eigenschaften der Norm selbst. Faktoren, die die Resilienz von Normen erhöhen, sind etwa ihre lange Tradition und die Verankerung in normativen Systemen (Großklaus 2017; Lantis und Wunderlich 2018). Ein weiterer Faktor ist die Präzision bzw. Vagheit der Norm, wobei nicht eindeutig ist, in welche Richtung das wirkt: Einige Autorinnen nehmen an, dass Vagheit die Hinterfragung begünstigt (Krook und True 2012, S. 104; Stimmer und Wisken 2019, S. 529); laut anderen wiederum fördert Präzision die schnelle Erosion (Panke und Petersohn 2016, S. 15).

Ob eine Norm gestärkt oder geschwächt wird, hängt zweitens auch von den beteiligten Akteuren und den Reaktionen auf Kontestation ab. Wenn sich mächtige, sichtbare und angesehene Akteure als sogenannte „norm antipreneurs“ (Bloomfield 2016) oder „norm saboteurs“ (Schneiker 2021) betätigen, schadet es der Norm mehr als wenn es Akteure sind, die ohnehin als Paria gelten – im Gegenteil: Kontestation durch letztere kann bestimmte Normen sogar stützen, wenn dadurch deutlich wird, dass diese Normen offenbar nur für zivilisierte Mitglieder der Gemeinschaft gelten (Heller et al. 2012, S. 285; Panke und Petersohn 2016, S. 14; Price 2019, S. 44). Wesentlich ist schließlich auch, ob Brüche sanktioniert werden: Sanktionen bestärken die Geltung; bleiben sie hingegen aus, erhöht das nicht nur die Unsicherheit, sondern birgt auch die Gefahr, dass sich die Entrüstung statt auf die Normbrecher auf das Regime richtet (Clark et al. 2018, S. 331; Price 2019, S. 47).

Drittens spielen auch die Formen und Inhalte der Normhinterfragung eine Rolle. Klaus Günther (1993) folgend, unterscheiden Nicole Deitelhoff und Lisbeth Zimmermann zwischen der Gültigkeits- und der Anwendungskontestation (Deitelhoff und Zimmermann 2020). Gültigkeitskontestation ist demnach gefährlicher für eine Norm, weil hierdurch der normative Anspruch der Norm infrage gestellt wird, es also grundlegend darum geht, ob das Verhalten, das die Norm fordert, angemessen und notwendig ist. Anwendungskontestation hingegen zielt auf Klärung ab: Gilt die Norm für die konkrete Situation, in der sie angewendet werden soll? Welche spezifischen Handlungsanweisungen folgen aus der Norm dafür? Solche Anwendungsfragen spiegeln nach Ansicht der Autorinnen die alltägliche Praxis der internationalen Rechtsauslegung wider – für die Norm gefährlich werden sie nur dann, wenn Gültigkeitskontestation als Anwendungskontestation verschleiert und der Normkern durch Anwendungsfragen ausgehöhlt wird.

In diesem Zusammenhang ebenfalls relevant sind schließlich die Beziehungen zwischen verschiedenen Normen, auf die der aufkeimende Forschungsstrang zu Normkomplexität fokussiert (Fehl 2018; Fehl und Rosert 2020). Dabei werden Konflikte – ein etablierter Faktor für Normenwandel (Sandholtz und Stiles 2009; Zimmermann et al. 2013) – differenzierter analysiert: Geben zwei Normen in einer bestimmten Situation einander ausschließende Handlungsalternativen vor, müssen Akteure priorisieren und die Normen hierarchisch anordnen, was die untergeordnete Norm schwächen könnte (Peltner 2017; Gholiagha et al. 2020). Die Sanktionierung von Brüchen der einen Norm kann bedeuten, dass dabei andere Normen verletzt werden (Saltnes 2017). Auch könnten Akteure Normkonflikte gezielt mobilisieren, um Normen zu schwächen oder ihre Umsetzung zu behindern (Jakobi und Loges 2022).

4 Fazit

Normen sind nicht nur aus der internationalen Politik, sondern auch aus der Disziplin der Internationalen Beziehungen nicht mehr wegzudenken. Auf einem soliden konzeptionellen Fundament aufbauend leistet das Forschungsfeld auch nach über drei Jahrzehnten seiner Existenz weiterhin substanzielle theoretische und natürlich auch empirische Beiträge zum besseren Verständnis des Phänomens internationale Normen und bleibt dabei der Tradition treu, sich durch andere Disziplinen, etwa die Ökonomie, das Völkerrecht, die Kommunikationswissenschaft, die Anthropologie und die Sozialpsychologie sowie andere IB-Strömungen, etwa die Praxistheorie oder die Diskursforschung inspirieren zu lassen. Für die IB brachte die Normenforschung einen erheblichen Mehrwert: Soziale Verhaltensmuster bei Staaten und differenzierte Handlungsmotive wurden offengelegt. Das Bestreben, sich moralisch und sozial angemessen zu verhalten, auch für Staaten geltend zu machen, hat Fortschrittsperspektiven für die internationale Politik eröffnet und tatsächliche Fortschritte erklärbar gemacht.

Zugleich wurden die Forscher*innen in diesem Feld zunehmend kritischer – sich selbst, aber auch ihrem Forschungsgegenstand gegenüber. So hat zum einen die Selbstreflexion – über die eigenen normativen Standards und die Diskursposition – nun mehr Platz (Price 2008; Deitelhoff und Zimmermann 2013; Engelkamp et al. 2021). Zum anderen wurde die Perspektive auf Normen mehrfach erweitert: um Normen und Normeneffekte, deren normative Erwünschtheit zumindest zweifelhaft ist und entsprechend auch um Normunternehmer, die sich kaum als humanistisch und emanzipatorisch motivierte Akteure konzipieren lassen. Auch die klassischen Normunternehmer werden etwas nüchterner gesehen und blinden Flecken – ignorierten Problemen, erfolglosen Normen – wird mehr Aufmerksamkeit zuteil. Eines gilt deshalb nach wie vor: Fragen und Themen gehen der Normenforschung nicht aus.