Schlüsselwörter

1 Einleitung

Nach dem Zweiten Weltkrieg, zwischen 1945 und 1990, erlangten die meisten der ehemaligen Kolonien und Protektorate in Asien, in der Karibik und Afrika die formale Unabhängigkeit; neue Nationalstaaten entstanden. Mit der für diesen Prozess üblichen Bezeichnung „Dekolonisation“ steht „ein technischer und undramatischer Begriff für einen der dramatischsten Vorgänge der neueren Geschichte“ ein (Jansen und Osterhammel 2013, S. 7). Dieser Welle der Dekolonisation, die innerhalb der Geschichtswissenschaften als dritte Welle bezeichnet wird,Footnote 1 gingen jahrzehntelange anti-koloniale Widerstandskämpfe voraus. Da es für Europa nicht nur ökonomisch schwierig wurde, die Kolonien zu halten, sondern auch die moralischen Rechtfertigungen für Unterdrückung und gewaltvolle Beherrschung endgültig zu versagen begannen, war der bemerkenswerte Prozess der überfälligen Dekolonisation nicht mehr aufzuhalten (Chamberlain 1985).

Die formale Dekolonisation führte jedoch mitnichten zu einem Ende des westlichen Imperialismus und Interventionismus. Im Gegenteil, die epistemologischen wie auch konkret-materiellen Bedingungen, auf welche sich der europäische Kolonialismus stützte, bestehen bis zum heutigen Tage, wenn auch in veränderter Form, weiter fort. Die ehemals kolonisierten Länder müssen nun das ambivalente Erbe der imperialen Mächte verwalten sowie auf die Ansprüche und Forderungen des Westens reagieren. Ob in Entwicklungs- oder Handelspolitik, Friedens- und Sicherheitsfragen, Debatten um Menschenrechte, Klimawandel oder das Recht auf geistiges Eigentum, in all diesen Politikfeldern der internationalen Beziehungen sind Problemwahrnehmungen als auch Lösungsstrategien weiterhin durch neokoloniale Beziehungen geprägt. Gleichzeitig werden die mit dem Kolonialismus einhergehenden Massaker, Genozide, der Diebstahl und die Ausbeutung der Kolonisierten nicht selten mithilfe eines Narratives, welches eine angeblich europäische Überlegenheit und liberale Normen und Werte zelebriert, verharmlost: In seinem Buch The Other Heading: Reflections on Todays Europe stellt Jacques Derrida fest, dass Europa schon immer dazu tendiert habe, sich als „kulturelles Kapital“ (von caput, Kopf, Haupt) der Welt zu sehen, welches der Weltzivilisation als Orientierung diene (Derrida 1992, S. 24 ff.).Footnote 2 Diese Rolle des Norm-Produzenten und Normeinhaltungskontrolleurs – sowohl juristisch als auch soziokulturell – wurde zunächst von Europa und später dann von den USA beansprucht, wobei beide von der Prämisse aus agierten, dass das, was für den Westen gut sei, auch für den Rest der Welt gut sein müsse (siehe auch Said 1978). Der missionarische Impetus wird heutzutage auch darin sichtbar, dass der Westen sich weiterhin in der Verantwortung sieht, weltweit den Frieden, die Demokratie und die Menschenrechte zu sichern. Dieser Logik folgend, wird jedwede westliche Intervention als ein Akt der Befreiung kodiert oder als notwendige sicherheitspolitische Praxis gerechtfertigt. Folgerichtig wird der Widerstand postkolonialer Länder gegen eurozentrische Anmaßungen und westlichen Interventionismus als illegitime Praxis gewertet, die sich generell gegen Gerechtigkeit und Frieden sowie die Errungenschaften der europäischen Aufklärung richtet. Letztlich legitimiert eine eurozentrische Logik rassistische Politiken und rechtfertigt die kulturelle Unterordnung wie auch die ökonomische Ausbeutung postkolonialer Räume im Namen von Fortschritt, Entwicklung und Demokratie.

Angesichts der immer weiter zunehmenden Globalisierung kann zudem eine gesteigerte Erwartungshaltung vis-à-vis der mächtigen internationalen Organisationen und Nationalstaaten wahrgenommen werden, die ethische Verantwortung gegenüber den verletzlichsten globalen Räumen zu übernehmen. Die damit einhergehende Forderung, transnationale Akteure sollten über ihre territorial basierten Partikularinteressen hinaus den internationalen Schutz der Menschenrechte gewähren und weltweit Demokratie befördern, erweist sich in Anbetracht der kolonialen Vergangenheit jedoch als ein janusköpfiges Unterfangen. Während es auf den ersten Blick nachvollziehbar erscheint, dass der Westen Verantwortung für die ehemals kolonisierten Länder übernimmt, ist das westliche Begehren, im Interesse von weit entfernten Anderen zu sprechen und zu handeln, unter Berücksichtigung der gewaltvollen imperialen Geschichte auch ganz anders lesbar. Allzu schnell artikuliert sich hier erneut eine europäisch und US-amerikanische Suprematie, die sich mit einem problematischen Paternalismus verschränkt, die dem Westen erneut unhinterfragt das Recht zugesteht, im Namen der Moderne – oder eben der Weltsicherheit – die schwer errungene Souveränität postkolonialer Staaten zu unterlaufen. Nicht selten geschieht dies selbst unter Missachtung von UN-Beschlüssen und/oder internationaler Konventionen.

Allein diese kurze Skizzierung macht deutlich, dass die anhaltenden politischen Asymmetrien zwischen dem Westen und den ehemalig kolonisierten Ländern ihren Ursprung in der Kolonialgeschichte haben. Postkoloniale Perspektiven im Feld der IB sind somit nicht nur sinnvoll, sondern im Sinne von globaler Gerechtigkeit und einer weitreichenden Dekolonisierung auch unvermeidbar.

2 Postkoloniale Perspektiven auf internationale Beziehungen

Im Folgenden werden die unterschiedlichen Bereiche der IB (Friedens- und Konfliktforschung/Security Studies, Entwicklungspolitik/Good Governance und internationales Recht/Menschenrechte) unter einer postkolonialen Perspektive analysiert. Wir legen dar, warum bereits die Grundprämissen der Mainstream-IB, insofern sie einer kolonialen Logik verhaftet bleiben, problematisch sind und argumentieren gleichzeitig für eine globalhistorisch reflektierte Analyse internationaler Beziehungen. Dabei kann nicht oft genug betont werden, dass das Präfix „post“ im Begriff „postkolonial“ keine Periodisierung bezeichnet, die den Beginn eines Zeitalters signalisiert, in dem der Kolonialismus als überwunden gilt. Im Gegenteil markiert das „post“ die Forderung, Kolonialismus und imperiale Herrschaftssysteme nicht mehr lediglich als Fußnoten der großen Erzählungen von Modernität, sondern als einen zentralen und konstitutiven Teil der europäischen Geschichte zu betrachten (Seth 2011, S. 174).

2.1 Kolonialismus und „internationale Ordnung“

In der klassischen IB-Theoriebildung wird die Geschichte der modernen internationalen Beziehungen als im europäischen Staatensystem verwurzelt begriffen und dessen Entstehung zeitlich und inhaltlich mit dem Westfälischen Frieden im Jahre 1648 identifiziert (Gruffydd Jones 2006, S. 4). Dagegen problematisieren postkoloniale Theorien die Produktion eines „westfälischen Common Sense“ (Grovogui 2002) innerhalb der IB und argumentieren, dass dieser nur Ergebnis einer Auslöschung der gewaltsamen Geschichte des europäischen Kolonialismus sein konnte. Selbst ein kursorischer Blick auf die europäische Kolonialgeschichte zeigt, dass das gegenwärtige internationale System die ökonomischen, politischen, institutionellen, kulturellen und juristischen Vermächtnisse kolonialer Herrschaft perpetuiert. Die fundamentalen Ungleichheiten zwischenstaatlicher Machtbeziehungen und die Positionierung von Staaten im äußerst disparaten und ausbeuterischen internationalen System (Gruffydd Jones 2006, S. 4) kann dabei nur im Sinne einer Expansion der internationalen Gemeinschaft und mithin gewaltvollen Dissemination europäischer Ideen von Staat, Souveränität, Demokratie und Rechtlichkeit, begriffen werden. Nur die einseitige Betrachtung europäischer Geschichte, isoliert von kolonialen Verflechtungen, ermöglicht es dagegen, ein idealisierendes Narrativ aufrechtzuerhalten, nach dem Europa als alleinige Quelle von Aufklärung, Modernität, Demokratie und Souveränität verstanden werden kann.

Doch bereits die Ideen von „der Welt“ und „dem Globus“ sind zutiefst geprägt von (neo-)kolonialen Vorstellungen. Peter Hulme beschreibt dies pointiert als eine „Repräsentation der Erde als Globus […, die] unausweichlich mit dem europäischen Kolonialprojekt verbunden ist“ (Hulme 2005, S. 45). Die Skepsis postkolonialer Theorie gegenüber jedwedem unkritischen „globalen Denken“ (Hulme 2005, S. 47) sei in diesem Zusammenhang zu verstehen, ebenso wie die Kritik an der geradezu vorsätzlichen Amnesie und systematischen Politik des Vergessens des Mainstreams der IB (Krishna 2006, S. 89). Wenn überhaupt eine historische Darstellung der Entwicklung der internationalen Ordnung im Mainstream angeboten wird, basiert diese zumeist auf einer verzerrten eurozentrischen Geschichtsdarstellung (Krishna 2006, S. 169). Es ist dieser Tunnelblick, so wird postuliert, der nach wie vor die westliche IB prägt (vgl. Gruffydd Jones 2006, S. 4). Die Entwicklung der internationalen Beziehungen wird in dieser Lesart gewissermaßen als Geschichte des guten Willens Europas beschrieben, das dem „Rest der Welt“ an seinen demokratischen Errungenschaften teilhaben lässt. Wir erkennen hier eine doppelte Strategie, die die Erfahrungen postkolonialer Räume negiert und gleichzeitig die Geschichte Europas idealisiert (Gruffydd Jones 2006, S. 8). So stabilisiert die im Mainstream der IB kaum hinterfragte Annahme, westliche Normen seien alternativlos, die Überlegenheit des Westens, die zudem a priori angenommen wird. Konsequenz ist unter anderem, dass postkoloniale Staaten in der Folge lediglich versuchen können, dem Westen nachzueifern und dabei gleichzeitig geradezu notwendig scheitern müssen. Denn bei dem Versuch, die europäischen Normen zu imitieren, wird zwangsläufig die Autorität des europäischen Originals stabilisiert, verbleibt doch die Autorität die Kopien zu akzeptieren oder eben zurückzuweisen beim Westen. Die postkolonialen Staaten können so niemals mehr als den Status guter Nachahmer erreichen (etwa Bhabha 1994, S. 121 ff.). Die Konstruktion des Westens als die normative Macht, die im Namen von Modernität, Fortschritt, Emanzipation, Gerechtigkeit und Frieden operiert, hinterließ dabei eine Spur gewalttätiger Praxen, die noch auf eine adäquate politikwissenschaftliche Aufarbeitung warten. Postkoloniale Staaten, die dennoch die Anerkennung ihrer Modernität und Zivilisation beanspruchen, sehen sich trotz des evidenten double bind gezwungen, das europäische Normensystem nachzuahmen, riskieren sie sonst doch, zwangsweise zivilisiert und modernisiert zu werden. Dies ist auch der Grund dafür, dass innerhalb postkolonialer IB argumentiert wird, dass eine Dekolonisierung der IB zuvorderst die „Dialektik des Selbstvertrauens-in-Ignoranz“ „dialectic of self-confidence-in-ignorance“ (Gruffydd Jones 2006, S. 8) irritieren muss. Eine Kritik an dieser Dynamik beginnt mit der Hinterfragung des Narrativs, nach dem der Westen Ursprung aller internationalen Ordnung sei. Nur so kann die normative Gewalt, die eurozentrischen Epistemologien inhärent ist und welche die für die koloniale Begegnung charakteristischen Machtverhältnisse persistent verfestigt, herausgefordert werden. Dies wiederum macht eine Untersuchung der epistemologischen, sozialen und politischen Verflechtungen zwischen Europa und den vormals kolonisierten Territorien vonnöten (Randeria und Eckert 2009). Eine der wichtigsten Forderungen innerhalb postkolonial informierter Politikwissenschaften ist deswegen, die konstitutive Rolle der kolonialen Beherrschung für die sich entwickelnden politischen Entitäten und zwischenstaatlichen Beziehungen innerhalb Europas sowie für die sich herausbildenden Beziehungen zwischen Europa und seinen Anderen zur Kenntnis zu nehmen.

Die weit verbreitete Gewohnheit innerhalb der IB, in den Westfälischen Friedensverträgen den alleinigen Ursprung von Konzepten wie dem der „staatlichen Souveränität“ zu sehen, bedarf einer Hinterfragung und De-Universalisierung. Dabei geht es hier weder um eine „Politik der Schuldzuweisung“ (Said 1993, S. 96), noch darum, marginalisierte Perspektiven in die IB zu integrieren. Postkoloniale Theorie zielt eher auf eine umfassende Dekolonisierung, die über die Integration zuvor nicht beachteter Narrative ins „Internationale“ hinausgeht. Stattdessen muss die hegemoniale Konstitution der internationalen Räume, die „imaginative Geographie“ (Said 1978, S. 54) wie auch die Idee des „Internationalen“ selbst infrage gestellt werden. Erbe des Kolonialismus sind schließlich auch die sichtbaren geopolitischen Konfigurationen. Sowohl der Westen als auch sein Anderes haben sich gegenseitig im Verlauf eines vielfältigen, ungleichen, hierarchischen und zwanghaften Austauschs konstituiert, von dem beide Seiten nicht unberührt bleiben konnten und deren Folgen heute noch sichtbar und spürbar sind – etwa unbestritten in den Grenzverläufen und konkreten Ausgestaltungen internationaler Beziehungen (Spivak 2008; Castro Varela et al. 2008).

Die neokolonialen Kontinuitäten, die in gegenwärtigen Diskursen über humanitäre Interventionen zum Schutz und zur Förderung von Menschenrechten, Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit wie auch im Konzept der Good Governance sichtbar werden, legitimieren sich durch das Versprechen, die Armut und Ungerechtigkeit in der Welt zu bekämpfen. Eine Armut und Ungerechtigkeit, die sie paradoxerweise gleichzeitig im Namen angeblich unternehmerischer Verantwortung verursachen und ignorieren. Genozide und imperiale Expansion werden dabei als Teil einer Erzählung rekonfiguriert, nach der die Moderne und die damit einhergehende Etablierung kapitalistischer Strukturen den Feudalismus und die angeblichen Rückständigkeit der außereuropäischen Welt überwunden hat. In dieser Lesart wird angenommen, dass der Kapitalismus und die Moderne in Europa ihren Anfang genommen und sich anschließend in der postkolonialen Welt ausgebreitet haben. Europa wird damit zum Ursprung und Lokus all dessen, was es zu bewahren gilt – etwa Rechtsstaatlichkeit, Ordnung und Humanismus (siehe hierzu Quijano und Wallerstein 1992). Strukturen globaler Ungleichheit und Ausbeutung werden mithin nicht als Vermächtnisse des Kolonialismus und Ausdruck einer verfehlten Dekolonisierung, sondern als das Ergebnis „gescheiterter Staaten“ interpretiert. Konkret wird dies im Sprechen von „inkompetenten Regierungsführungen“, der „Korrumpierbarkeit“ und den „barbarischen Werten und Normen“, die die Implementierung einer Good Governance in postkolonialen Räumen verunmöglichen würden, sichtbar (kritisch hierzu Anghie 2004). Staaten des globalen Südens werden mit dem Etikett „Demokratiedefizit“ versehen und die verletzlichsten Subjekte in den ehemaligen Kolonien dafür verantwortlich gemacht, dass sie die „Gaben“, die Europa ihnen überlassen hat, wie etwa Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, nicht in gelungener Weise zu nutzen wussten.

Postkoloniale Studien versuchen sich deswegen unter anderem an einer differenten Darstellung der kapitalistischen Moderne, bei der „die Entwicklung des Kapitalismus und der Moderne keine Geschichte einer endogenen Entwicklung in Europa ist, sondern Folgen struktureller Verbindungen zwischen verschiedenen Teilen der Welt sind, welche der Vormachtstellung Europas zeitlich lange vorausgehen – und welche […] die Bedingungen für diese Vormachtstellung geliefert haben“ (Seth 2011, S. 172). Die Eroberung der außereuropäischen Welt und der daraus resultierende Import von Gold und Silber war in der ersten Phase der Kolonisierung bekanntermaßen eine wichtige Bedingung für die Entwicklung des Kapitalismus in Europa. Eine weitere zentrale Rolle spielte der Import von Rohstoffen aus den Kolonien bei gleichzeitiger Etablierung eines wenig freiwilligen kolonialen Absatzmarktes für europäische Industriegüter, welcher die Industrialisierung Europas vorantrieb und entscheidenden Anteil bei der Entstehung der Moderne hatte (Blaut 1989; auch Amin 2011). Darüber hinaus zeigt bereits Hannah Arendt in ihrer Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1986[1951]) auf, inwieweit die Entwicklung des Kapitalismus der imperialen Expansion bedurfte, um das in Europa akkumulierte Kapitel in Bewegung zu halten. Die Entwicklung des Kapitalismus fällt somit zusammen mit der kolonialen Eroberung, der Etablierung einer Plantagenökonomie und der Ausweitung eines transnationalen Handels – inklusive des Sklavenhandels. So fällt durchaus nicht zufällig der Augsburger und der Westfälische Frieden mit der Unterwerfung und Besiedlung der Amerikas und der Gründung der British East India Company und der Dutch East India Company zusammen (Seth 2011, S. 173). Dies war ebenso das Zeitalter des beginnenden Wettstreits um die Kolonien, der seinem Höhepunkt im „scramble for Africa“ (Arendt 1986[1951], S. 308) fand. Damit einher ging die Entwicklung neuer politischer Herrschaftsmodelle und Raumstrukturierungen, so zum Beispiel Mandate, Oberherrschaft, Konzessionen und Lizenzen, Interessen- und Einflusssphären, wie auch die Idee der Protektorate als notwendige europäische Schutzräume (Seth 2011, S. 173).

Im Mainstream der IB wird von der Vorstellung ausgegangen, dass die Expansion der internationalen Gemeinschaft nach dem Schema „erst der Westen, dann der ‚Rest‘“ vonstattengegangen sei. Dies ist in Anbetracht der Dominanz westlicher philosophischer Traditionen kaum verwunderlich, wenn auch aufgrund des darin inhärenten unhinterfragten Eurozentrismus bedenklich. Hegel beispielsweise war der Ansicht, dass die Geschichte vom Westen nach Osten verlaufe, so dass die aktuellen Ereignisse in der arabischen Welt den historischen im Westen ähnelten (Hegel 1986[1832–1845], S. 74 ff.). Doch zur gleichen Zeit, in der sich das westfälische System etablierte und sich souveräne Territorialstaaten entwickelten, wurden eben auch koloniale und imperiale Systeme außerhalb Europas begründet. Die koloniale Herrschaft basierte dabei ganz und gar nicht auf dem normativen Prinzip wechselseitiger Anerkennung und Souveränität, sondern im Gegenteil auf dem gewaltvollen Durchsetzen europäischer Normen in den kolonisierten Territorien (etwa Speitkamp 2014). Der IB-Mainstream beginnt die Beschreibung der Beziehungen zwischen Staaten und Völkern dagegen mit der Annahme, dass Staaten immer schon existiert hätten und geradezu von Natur aus ihre partikularen Interessen verfolgten (Seth 2011, S. 175). Angesichts der Norm der staatlichen Souveränität, welche das Diktum der Nichtintervention impliziert, werde, so die Annahme, die Verfolgung differenter partikularer Interessen mit Hilfe eines kodifizierten internationalen Rechts und diplomatischen Gepflogenheiten, welche die Interaktionen zwischen verschiedenen politischen Systemen regulieren, ausbalanciert. Unerwähnt bleibt in einer solchen Darstellung, dass diese Regeln weit davon entfernt sind, universell gültig und neutral zu sein, privilegieren sie doch die Regulation der Interaktion zwischen verschiedenen politischen Systemen nach westlichen Normen und Regeln, die in sehr spezifischen historischen und kulturellen Kontexten entstanden sind und mithin als „provinziell“ (Chakrabarty 2000) zu betrachten sind. Nur indem der provinzielle Ursprung und die kontaminierte Normativität (contaminated normativity) der dem internationalen Recht und der internationalen Ordnung zugrundeliegenden partikularen Interessen ausgeblendet werden, kann deren transhistorische und transkulturelle Gültigkeit behauptet werden.

2.2 Die Friedensideologie: internationales Recht und das Empire

Im Feld der Postcolonial Legal Studies wird das Recht als ein wichtiges Instrument der kolonialen Herrschaft beschrieben, das sowohl in den Kolonialländern als auch in Europa grundlegende Veränderungen im Verständnis von Gerechtigkeit hervorbrachte. So konnte nachgewiesen werden, dass europäische Rechtsinstitutionen die imperialistischen Unternehmungen – inklusive Sklaverei – explizit legitimiert haben (etwa Baxi 2000; Kirkby und Coleborne 2001). In den postkolonialen Rechtswissenschaften werden deswegen nicht nur die Rechtfertigungsstrategien begangenen Unrechts untersucht, sondern auch deren Folgen für das heutige normative Rechtsverständnis im Allgemeinen entfaltet (siehe Grovogui 2002; Gathii 2009; Pahuja 2013). Die Third World Approaches to International Law (TWAIL) betonen in diesem Zusammenhang, dass die Universalisierung des Völkerrechts sowohl als Instrument als auch Bedingung kolonialer und postkolonialer Herrschaft fungierte (Mutua 2000; Anghie und Chimni 2003; Chimni 2006). Obwohl sich die nationalen Befreiungsbewegungen kolonisierter Länder durchaus auf das Völkerrecht beriefen, um ihre Forderung nach Selbstbestimmung zu legitimieren, blieben die institutionalisierten Hierarchien im internationalen Recht weiterhin erhalten und trugen zur Unterordnung ehemaliger kolonisierter Länder bei. So ist auch zu verstehen, warum die Vertreter/-innen von TWAIL die Legitimität des internationalen Recht prinzipiell infrage stellen. Denn ohne das Instrument des internationalen Rechts und dessen Konzeption von Privateigentum und Besitz sowie der Legitimierung von Konfiszierung und Aufzwingung von Regierungsformen wäre die Enteignung außereuropäischer Völker nicht in einer solchermaßen systematischen Art und Weise möglich gewesen. Aber auch humanitäre und liberale Zivilisationsdiskurse werden von den TWAIL-Vertreter/-innen kritisch betrachtet, begleiteten und rechtfertigten sie doch die europäische Eroberung und Beherrschung der kolonialen Territorien.

In Imperialism, Sovereignty, and the Making of International Law (2004) entfaltet der Rechtswissenschaftler Antony Anghie aus einer postkolonialen Perspektive heraus eine dringend notwendige alternative Geschichte des Völkerrechts. Im Gegensatz zu klassischen Darstellungen, die die Konsolidierung der Souveränitätsdoktrin auf den Westfälischen Frieden von 1648 datieren, zeigt Anghie die konstitutive Rolle des Kolonialismus in Diskursen über Souveränität und internationalem Recht auf (auch Anghie 2006a, b). Detailliert beschreibt der Rechtswissenschaftler, wie die westfälische Definition von Souveränität europäischen Staaten gleiche Rechte und Selbstbestimmung gewährt, der außereuropäischen Welt diese jedoch gleichzeitig verweigert. Erkundet werden hierfür insbesondere die Kontinuitäten der historischen Beziehung im Völkerrecht der Gegenwart, das, obwohl es Universalität beansprucht, diese grundlegende Asymmetrie nie überwunden hat – und, wie argumentiert wird, dies auch nie intendierte. Die Legitimierungsstrategie von Kolonialismus als „Zivilisierungsmission“ (siehe Said 1978; auch Castro Varela und Dhawan 2015) und der damit mobilisierte Dualismus zwischen „Zivilisierten“ und „Unzivilisierten“ wird im Gegenteil in aktuellen IB-Diskursen durch Kategorien wie etwa „entwickelt“ und „unterentwickelt“ perpetuiert. Folgerichtig werden in der Fachliteratur „entwickelte“ Rechtssysteme von „unterentwickelten“ unterschieden (Anghie 2004, S. 191). Unterentwickelten Rechtssystemen wird dabei immer die Möglichkeit eingeräumt, so Anghie, sich zu entwickeln, auch wenn dafür freilich die Anleitung durch Europa vonnöten bleibe (Anghie 2004, S. 146). Das internationale Recht sei somit ein eurozentrisches pädagogisches Projekt, das auf einer Entmündigung der ehemalig kolonisierten Länder einerseits sowie der Bestätigung Europas als überlegene Macht andererseits beruhe (Anghie 2004, S. 267).

Paradoxerweise geben (neo-)koloniale Diskurse vor, diese Dualismen überwinden zu wollen: So stelle der Zivilisierungsdiskurs in Aussicht, dass die behauptete politische Inkompetenz der Kolonisierten durch Anstrengungen ihrerseits überwunden werden könne. Doch zugleich rechtfertigt diese Vorstellung, dass diejenigen, die keine Vernunft zeigen, auch ohne ihre Einwilligung regiert werden und/oder in ihre innerstaatlichen Angelegenheiten interveniert wird (Anghie 2006b, S. 743 f.). Anghie analysiert diesen Zusammenhang historisch anhand der Schriften des Juristen und Theologen Francisco de Vitoria (1483/86–1546). Dieser entwickelte das römische Fremdenrecht (ius gentium) zu einem universalen ius inter gentes weiter und entwicklete einen globalen Begriff von Gemeinwohl, weswegen er als Begründer des modernen Völkerrechts und als Vordenker einer modernen Idee des „gerechten Krieges“ (bellum iustum) (Anghie 2004, S. 24 ff.) gilt. Vitoria war Mitbegründer der Schule von Salamanca, die in der Spätscholastik unter anderem ein internationales Naturrecht entwickelte. Er glaubte nachweisen zu können, dass die kolonisierten Bevölkerungen aufgrund ihrer „barbarischen kulturellen Praxen“, wie ein unterstellter Kannibalismus und rituelle Menschenopfer, nicht zur Souveränität fähig seien. Dieser angebliche Barbarismus war Vitoria zufolge der entscheidende Differenzmarker zwischen den Kolonisierten und den spanischen und portugiesischen Kolonialmächten (Anghie 2004, S. 9 ff.). Die „überlegenen Kolonialherren“, so Vitoria, seien deswegen legitimiert, der indigenen Bevölkerung in den eroberten Territorien ihre Gesetze, Praktiken und Identität aufzuzwingen – wenn nötig auch mithilfe kriegerischer Handlungen. Kolonialismus wurde als ein Akt der Selbstverteidigung rekonfiguriert. Vitoria zufolge hatten nur Souveräne das Recht, Kriege zu führen, ebenso wie nur Christen „gerechte Kriege“ führen konnten. Beides war Nicht-Europäern a priori verwehrt. Damit wurde Nicht-Europäern de facto die Rechtsfähigkeit aberkannt und mithin auch der Status einer Rechtspersönlichkeit (legal personality) abgesprochen. Wie Anghie (2004, S. 13ff.) überzeugend darlegt, beeinflussten Vitorias Argumente maßgeblich die Entwicklung des Völkerrechts: Zunächst wurden bestimmte Gruppen als von der Sphäre der Souveränität ausgeschlossen definiert, da sie die europäischen Normen, die für universell erklärt wurden, nicht erfüllten. Darauf folgend wurden die Souveräne berechtigt, diejenigen, die keine Souveränität beanspruchen konnten, zu beherrschen (auch Koskenniemi 2004; Pahuja 2013). Wie Anghie in späteren Arbeiten darlegt, findet eine solche Argumentation auch heute noch zur Rechtfertigung von kriegerischen Interventionen Anwendung – insbesondere wenn es um den Einsatz nicht-demokratischer Mittel gegen vorgeblich nicht-demokratische Staaten geht. Viele Expert/-innen des internationalen Rechts und der IB bemerkten etwa, dass nach den Anschlägen des 11. Septembers im Westen von einer neuen und bisher nicht gekannten Bedrohung die Rede war und allzu rasch nach Reformen im Kriegsrecht und den Menschenrechten gerufen wurde (Anghie 2006b, S. 750 ff.). Vergessen wurde dabei, dass Terroranschläge wie die auf die USA im globalen Süden lange vorher bekannt waren, was aber nie zu einem Ruf nach einer Revidierung bekannter Rechtsvorstellungen geführt hatte. Der so genannte war on terror ist Anghie zufolge deswegen als eine Neuauflage des „gerechten Krieges“ zu werten, wie die Rhetorik des damals amtierenden US-Präsidenten Bush erschreckend viel Ähnlichkeit mit Vitorias Rhetorik zeige. Die „imperiale Dimension“, die sich etwa in der Etablierung der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA niederschlägt, die einen präemptiven Schlag gegenüber „Schurkenstaaten“ aus Gründen des Selbstschutzes legitimiert, ist so offensichtlich, dass, so Anghie, selbst bisher kaum an Imperialismus interessierte IB-Expert/-innen anerkennen mussten, dass es weniger um Sicherheit als um die Transformation der politischen und sozialen Karte im Nahen Osten ging (Anghie 2006b, S. 750). Ein solchermaßen defensiver Imperialismus kann problemlos mit idealisierten Ideen von Menschenrechten, Demokratie, Weltfrieden, globaler Gerechtigkeit und Good Governance argumentativ gestärkt werden (Anghie 2004, S. 279; 294–298).

Trotz des Wissens um die juristischen Rechtfertigungen globaler Ungleichheiten haben westliche Rationalisten und Liberale immer wieder betont – selbst wenn koloniale Gewalttaten eingestanden wurden –, dass Kolonialismus und Imperialismus letztlich der „unzivilisierten“ Welt Aufklärung, Rationalität und Humanismus gebracht habe.Footnote 3 Selbst die Einführung der Kolonialsprachen wie auch die Etablierung europäischer Bildungsinstitutionen – vornehmlich Missionarsschulen – wurden als Möglichkeit gewertet, die „rückständigen“ Gemeinschaften in den Kolonien aus der „Dunkelheit“ ans „Licht“ des ökonomischen Fortschritts und der intellektuellen Entwicklung zu bringen (Castro Varela und Dhawan 2015). Quer durch das koloniale Spektrum hindurch wurden europäische Technologien und westliches Wissen als Symbole eines wünschenswerten Fortschritts verstanden.Footnote 4 Die komplizenhafte Beziehung zwischen den Diskursen der Moderne und der Aufklärung sowie der kolonialen Vereinnahmung derselben wird gerade hier überdeutlich.

Wie von Verfechter/-innen des TWAIL betont wird, ist es für das Verständnis historischer Herrschaftsmuster und der Rolle des internationalen Rechts in diesen notwendig, die Strategien zu fokussieren, mithilfe derer die normative Legitimität des Rechts innerhalb der internationalen Ordnung aufrechterhalten wird. So zeigt sich, dass die Ideologie eines wohlwollenden Imperialismus die Institutionalisierung und Verankerung hegemonialer Interessen legitimiert hat, wie etwa die Institution des UN-Sicherheitsrates mit seinen fünf permanenten Mitgliedern, den so genannten Vetomächten, verdeutlicht. Nach wie vor kann beobachtet werden, dass internationales Recht mobilisiert wird, um Interventionen zu rechtfertigen, die implizit darauf zielen, postkoloniale Staaten „vor sich selbst zu retten“.

Analog sind Menschenrechte zu einer wirkmächtigen politischen Norm geworden, deren Verletzung durch einen Staat oder eine Institution zur Delegitimierung des- oder derselben führen kann. Menschenrechte sind somit zu Symbolen für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft liberaler Staaten geraten. Verstehen wir Liberalismus hier als grundlegende philosophisch-politische Richtung, die wesentlich zur Entstehung von Konzepten wie etwa parlamentarische Demokratie oder auch Verfassungs- und Rechtsstaat beigetragen hat, muss vermerkt werden, dass die postkoloniale Theorie dem Liberalismus eine offene Komplizenschaft mit dem europäischen Kolonialismus und Imperialismus nachgewiesen hat. Die Auslassung der Untersuchung dieser Komplizenschaft im Mainstream der IB-Literatur wurde innerhalb postkolonialer Studien kritisch herausgearbeitet (siehe etwa Mehta 1999). So konnte etwa gezeigt werden, in welcher Weise John Stuart Mill das British Empire mit der Einschätzung rechtfertigte, die kolonisierten Länder seien noch nicht reif genug, um liberale Werte wie Freiheit und Demokratie zu etablieren. Uday Mehta spricht in diesem Zusammenhang von einer Strategie des Zivilisierungsinfantilismus (civilizational infantilism, Mehta 1999, S. 70). Die gewaltvollen Methoden der Kolonialmächte wurden dabei durchgängig als notwendiges, temporäres Übel präsentiert. Kaum zufällig sind den politischen Argumentationen sozialdarwinistische Ideen inhärent. Der Historiker Dipesh Chakrabarty (2000, S. 8 ff.) spricht in diesem Zusammenhang vom „Warteraum der Geschichte“, in dem die Kolonien in einer Jetzt-noch-nicht-Situation gehalten wurden, sobald diese im Modus des Liberalismus auf ihre Rechte beharrten.

Im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) heißt es allumfassend: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren“. Der evidente Widerspruch mit der faktischen Realität ist bezeichnend. Zu Recht wurde deswegen diese feierlich proklamierte Erklärung von Seiten der damals noch immer kolonialisierten Länder als zynisch interpretiert (Castro Varela 2014). Heutzutage jedoch denkt die Mehrheit der Menschen im globalen Norden bei Menschenrechtsverletzungen eben an jene Länder, die Europa angeblich zu zivilisieren trachtet(e) – obschon Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor allem von Europa ausgingen. Je besser die Menschenrechtspolitik eines Staates bewertet wird, desto eher, so wird angenommen, ist dieser als liberaler und mithin „zivilisierter Staat“ zu beschreiben. In diesem Zusammenhang argumentieren postkoloniale Theoretiker/-innen, dass die Relation zwischen Staat, internationaler Zivilgesellschaft als Verteidiger/-innen der Menschenrechte und den Subalternen im globalen Süden als Empfänger/-innen derselben zur Folge hat, dass Menschenrechte zunehmend instrumentalisiert werden, um erneut in die Souveränität postkolonialer Staaten zu intervenieren (Mutua 2002; Anghie 2004; Spivak 2004). Der Druck auf die Länder des globalen Südens wird dabei auch von transnationalen politischen und humanitären Netzwerken und so genannten Hilfsorganisationen ausgeübt, die damit zu quasi-staatlichen Akteuren geraten.

Dass der Westen sich berufen fühlt, das Unrecht im globalen Süden anzuklagen, stellt eine erstaunliche Umkehrung der Geschichte darFootnote 5 – schließlich war es der globale Norden, der Territorien annektierte, deren Bevölkerung unterwarf und deren Rohstoffe ausbeutete. Es ist insofern politisch als dringlich zu erachten, die historische Amnesie des Westens zu hinterfragen, die dem globalen Norden eine moralische Verpflichtung aufzuerlegen scheint, den Unterjochten in den postkolonialen Räumen zur Hilfe zu eilen. Folge sind Eingriffe, die der kolonialen Zivilisierungsmission in Begründung und Praxen durchaus nicht unähnlich sind (Kapoor 2008, S. 36). Die Menschenrechtsagenda trägt also teilweise nolens volens dazu bei, die Macht westlicher Staaten und internationaler Organisationen zu stärken. Außerdem dient sie oft genug als Alibi für strategische oder militärische Interventionen im Namen der Schutzverantwortung. Die Ideologie der SchutzverantwortungFootnote 6 wurde vor allem von Seiten postkolonialer feministischer Theorie in den letzten Jahrzehnten einer deutlichen Kritik unterworfen. Der normative Einfluss des Diskurses ist insbesondere durch die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC) deutlich gestiegen. Angesichts der langen und gewaltvollen Geschichte kolonialistischer Einmischungen in Länder des globalen Südens werfen allerdings gegenwärtige Versuche, im Interesse der Anderen zu handeln, wichtige politische Fragen – insbesondere bezüglich der Souveränität postkolonialer Länder – auf. So ist bemerkenswert, dass der ICC bisher nur Strafverfolgungen gegen afrikanische Länder aufgenommen hat. Auch ist eines der ausdrücklichen Ziele des ICC die Korrektur nationaler Rechtssysteme und die Stabilisierung von Rechtsstaatlichkeit in den so genannten Entwicklungsländern. Solche Entwürfe stehen problematischerweise mit alternativen Modellen der Konflikttransformation in einem Spannungsverhältnis: Nicht selten unterlaufen Strafverfolgungen durch den ICC lokale Rechtssysteme und erschweren damit die Chancen für einen langfristigen stabilen Frieden. Die Legitimität und die Effizienz lokaler Mechanismen und Praktiken, so die Kritik (etwa Dhawan 2012), werden durch dieses top-down Modell delegitimiert und die Singularität der Kontexte, in welchen Transitional Justice operationalisiert werden sollte, folgenreich ignoriert.

Die wachsende Verlagerung der Aufmerksamkeit weg von den sozioökonomischen hin zu den psychologischen Aspekten eines Konfliktes hat zudem zu einer Pathologisierung von Postkonflikt-Gesellschaften geführt. Traumadiskurse liefern hier eine Legitimierung für fortgesetzte politische Eingriffe und etablieren einen paternalistischen Diskurs, der Postkonflikt-Gesellschaften als unfähig beschreibt, sich selbst zu regieren. Im Kontext der Transitional Justice wird dies unter anderem an dem schnell anwachsenden Netzwerken von Experten und Expertinnen sichtbar, die in Postkonflikt-Situationen postautoritärer Gesellschaften eingeflogen werden, um Regierungsmitglieder und lokale NGOs zu beraten. Auch wenn der Werkzeugkasten der Geber/-innen von Gerechtigkeit umfangreich und auf verschiedenste Kontexte anwendbar ist, impliziert die Einheitsgrößen-Attitüde (one size fits all) des Transitional-Justice-Ansatzes eine problematische Unhinterfragbarkeit, selbst dann wenn der soziale Kontext, in dem sie zur Anwendung kommt, keine adäquate Berücksichtigung findet. Dies ist insbesondere deswegen relevant, weil gerade die Eckpfeiler der Transitional Justice, wie Wahrheit oder Versöhnung, in den verschiedenen sozio-politischen Kontexten durchaus unterschiedliche historische Bedeutungen haben. Das Ignorieren der möglichen Vielfalt der Interpretationen dieser Konzepte führt einerseits dazu, dass das Streben nach Weltfrieden, transnationaler Demokratie und globaler Gerechtigkeit als Alibi für eine fortgesetzte westliche Suprematie überhaupt erst zum Einsatz kommen kann. Andererseits birgt die Kritik an einem universellen Demokratie- oder Gerechtigkeitsbegriff die Gefahr einer kulturrelativistischen Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen und Unrechtssystemen. Deshalb bezeichnet die postkoloniale Feministin Gayatri Chakravorty Spivak die Schlussfolgerung, Menschenrechte seien zurückzuweisen, weil sie eurozentrisch sind, als nicht wirklich politisch sinnvoll (Spivak 2004, S. 525). Eher gehe es darum, die Idee der Zuteilung von Rechten und damit auch von Gerechtigkeit, die sich in den Menschenrechtsdiskursen niederschlägt, zu hinterfragen (Spivak 2004, S. 524). Die Distanz zwischen jenen, die Rechte zuteilen und jenen, die lediglich als Opfer von Unrecht und als Empfänger/-innen von Rechten gelten, müsse überwunden werden, so Spivak.

2.3 Kolonialismus nach Dekolonisierung: Globalisierung und Entwicklungszusammenarbeit

Aus dem Blickwinkel postkolonialer Theorie betrachtet kann Globalisierung eigentlich nur als ein machtvolles neokoloniales Re-Arrangement in Gestalt eines immer globaler werdenden Kapitalismus erscheinen, das durch ein komplexes Netzwerk aus nationalen und transnationalen Akteur-/innen, Kapital, Arbeit, Anbieter/-innen und Märkten, wie auch wuchernden internationalen NGOs und multilateralen Agenturen, ermöglicht wird (Behdad 2005, S. 63). Die daraus hervorgegangene globale Ordnung kann als gleichzeitig zerstörerisch und ermächtigend beschrieben werden. Eine Frage, die die postkolonial informierte IB in diesem Zusammenhang beschäftigt, ist, ob Globalisierungsprozesse unvorhergesehene Chancen für vormals unterdrückte Gruppen bieten können oder ob eine solche Perspektive lediglich die brutalen Privatisierungsprozesse und die imperialistische Expansion beschönigt (Chowdhry und Nair 2002). Es geht also in anderen Worten darum, auszumachen, ob Globalisierung als eine Fortsetzung des imperialen Projektes des Westens zu verstehen ist oder ob sie globale Machtverhältnisse transformieren kann (Krishnaswamy 2008, S. 10 ff.).

Als postsozialistisches und neoliberales Projekt der offenen Märkte führte die ökonomische Globalisierung ohne Zweifel zu weltweiten Deregulierungs- und Privatisierungsprozessen, die eine enorme Mobilität von transnationalem Kapital, Gütern und Menschen mit sich brachte. Migrationsprozesse haben sich dabei ebenso multipliziert wie sich virtuelle transnationale Beziehungen vervielfacht haben. Ältere Erklärungsmodelle globaler kultureller Beziehungen, wie beispielsweise das Drei-Welten-System oder das Zentrum-Peripherie-Paradigma werden heute weitgehend als inadäquat beschrieben, kann doch, so die Argumentation, nicht mehr eindeutig zwischen kulturellen Praktiken und Regionen sowie Nationen und Kulturen unterschieden werden. Stuart Hall diagnostizierte etwa das Vorhandensein einer „globalen Kultur“, die durch das Phänomen der Massenkommunikation und moderne Mittel kultureller Produktion charakterisiert sei (Hall 1997, S. 178). Im Zeitalter der Informationsökonomie entstehen globale Städte als strategische Schauplätze für die Finanzierung des internationalen Handels, Investments und Basisoperationen (Sassen 2008, S. 87). Mobilität – ob materiell oder virtuell – eröffnet, so die etwas idealisierende Vorstellung, für bisher ausgeschlossene Gruppen den Zugang zur öffentlichen Sphäre und birgt das Potential, statische imperialistische Kräfteverhältnisse ins Wanken zu bringen. Das Sprechen vom Global VillageFootnote 7 verweist hier auf die Tatsache, dass die Welt aufgrund neuer Kommunikationstechnologien zusammengeschrumpft ist. Im Epizentrum der sozio-politischen Systeme wurden zudem unternehmerische Werte etabliert und durch internationale und nationale Strukturen, die die Mobilität des Kapitals auch durch spekulative Geldgeschäfte fördert, gefestigt. Selbst das politische Sprechen und Denken ist heute im großen Stil durchzogen von einer unternehmerischen Sprache und Logik. Die Wirtschaftspolitik konzentriert sich dabei in erster Linie auf die Schaffung von Wettbewerbsvorteilen für Unternehmen. Auch transnational operierende Firmen üben beständig Druck auf Regierungen und lokale Akteur/-innen – etwa lokale NGO-Vertreter/-innen – aus, um möglichst günstige Bedingungen für die freie Bewegung des Kapitals zu schaffen. Beugen sich die Staaten diesem Druck nicht, folgen nicht selten Handelsembargos und die internationale Isolation. Insbesondere die Nationalstaaten des globalen Südens haben dabei häufig kaum eine andere Wahl – zuweilen sekundiert durch die amtierenden Machthaber/-innen – als einer beschleunigten Globalisierung zuzustimmen. Die Welt wird nach berechenbaren, marktfreundlichen Bedingungen geformt. Es sind vor allem Unternehmen und Investoren, die die Globalisierungs-, und Neoliberalisierungsprozesse – zumeist recht skrupellos – gestalten. Einerseits führte dies zur Dominanz multinationaler Unternehmen bei gleichzeitiger Aushöhlung der Nationalstaaten, so dass behauptet werden kann, dass Unternehmensmanager/-innen heute über mehr Macht als demokratisch gewählte Abgeordnete verfügen (Harvey 2007). Anderseits kann ebenso festgestellt werden, das Regierungsvertreter/-innen im globalen Süden – oft unter dem Vorwand, nationale Interessen zu verfolgen – die Re-Modellierung des Staates mit dem Ziel, Auslandsinvestitionen anzuziehen, direkt unterstützen (Sklair 2008, S. 219). Allianzen zwischen globalisierungstreuen Politiker/-innen, der transnationalen kapitalistischen Klasse und dem Unternehmenssektor werden so gestärkt. Einer der Effekte dieses Zusammenschlusses ist die brutale Privatisierung sozialer Institutionen – wie etwa Schulen, Universitäten und Krankenhäusern – mit den geläufigen fatalen Konsequenzen (Sklair 2008, S. 219).

Die Beobachtung, dass sich ökonomische, kulturelle und technologische Transmissionen, ebenso wie Kapitalbewegungen, beschleunigt haben und Waren, Menschen und Ideen mobiler geworden sind, führte in Teilen der Politik- und Sozialwissenschaften zu der Ansicht, dass eine grundlegend neue weltpolitische Situation vorläge, die durch den Niedergang des Nationalstaatsmodells und der Imperien gekennzeichnet sei (Cooppan 2005, S. 81). Die Globalisierungsforschung geht etwa in Teilen davon aus, ein neues Verständnis für kulturelle Prozesse zu ermöglichen, das den homogenen eurozentrischen Narrativen von Entwicklung und Fortschritt Einhalt gebieten kann, indem sie den Fokus auf eine soziale und kulturelle Organisierung jenseits nationalstaatlicher Grenzziehungen legt. Hierbei werden strukturalistische Auffassungen herausgefordert, die sowohl die Weltsystemtheorie (Wallerstein 2004) als auch die eurozentrische Chronologie, welche die Periodisierung in vormodern-modern-postmodern durchsetzte, bestimmt (Gikandi 2005, S. 614).

Während der britische Soziologe Roland Robertson den Begriff der „Glokalisierung“ einführte, um die Beziehung zwischen dem „Lokalen“ und „Globalen“ als wechselseitige Durchdringung zu beschreiben, stellen postkoloniale Theoretiker/-innen wie Homi Bhabha Hybridität und kulturellen Wandel als Formen der Artikulierung „globaler oder transnationaler Fiktionen“ dar (Bhabha 1994, S. 205), welche Homogenisierung- und Standardisierungstendenzen herausfordern. Auch Arjun Appadurai beschreibt Globalisierungsprozesse nicht als gänzlich negativ. Im Kontrast zum „kulturellen Imperialismus“ würden neue Globalisierungsformen das Entstehen „delokalisierter Transnationen“ (Appadurai 1996, S. 172), welche die „Hegemonie der Eurochronologie“ (Appadurai 1996, S. 30) durch Hybridität und Differenz herausfordern, ermöglichen. In ähnlicher Weise legt der Literaturkritiker Bill Ashcroft den Fokus auf den Einfluss lokaler Gruppen auf globale kulturelle Produktionen sowie auf die Strategien postkolonialer Gemeinschaften, die dem kulturellen Kapital des imperialen Zentrums teils widerstehen, obschon sie gleichfalls als Konsument/-innen vereinnahmt würden (Ashcroft 2001, S. 206).

Zusammengefasst schwingt in diesen sehr diversen Ansätzen die Hoffnung mit, die Globalisierung führe zur Verdrängung einer rein westlichen Hegemonie, da sie essentialistische Ideen infrage stelle sowie dezentrierte Narrative befördere. Letztere entstünden vornehmlich in transnationalen Räumen, da Nationalstaaten keinen adäquaten Rahmen mehr für die Opposition gegen den gegenwärtigen Kapitalismus böten. Laut Appadurai etwa bringt die Globalisierung eine spezifische Trennung (disjuncture) zwischen dem Ökonomischen, dem Politischen und dem Kulturellen mit sich. Er geht davon aus, dass globale „mediascapes“ und „ideoscapes“ sich zu spannungsvollen Schauplätzen kultureller Homogenisierung und Heterogenisierung entwickelten (Appadurai 1996, S. 32). Die Idee des „subversiven Konsums“ impliziert dabei, dass Kultur nicht unilateral übermittelt wird, sondern vielmehr Prozesse der Auswahl, Interpretation, Übersetzung, Adaption und Aneignung in Gang setzt (Krishnaswamy 2008, S. 14). Appadurai unterscheidet hier interessanterweise zwischen älteren Formen der Moderne, welche auf die instrumentelle Rationalisierung der Welt abzielten, und einer neuen globalen Kultur, die er durch Reziprozität statt Hierarchie charakterisiert sieht. Die USA sei nicht mehr länger „der Puppenspieler“ der Welt, sondern lediglich „Knotenpunkt einer komplexen transnationalen Konstruktion einer imaginären Landschaft“ (Appadurai 1996, S. 30).

Diese optimistische Perspektive, nach der der Imperialismus von der Globalisierung abgelöst worden sei, wird zunehmend von einer Einschätzung, die eher durch eine Krisenstimmung gekennzeichnet ist, verdrängt (Gikandi 2005, S. 610). Dieser Argumentation folgend, wird die Machtasymmetrie zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden trotz gegenteiliger Behauptungen durch die neoliberale Globalisierung verstärkt. Globale Institutionen wie der Internationale Währungsfond (IWF), die Weltbank, multinationale Unternehmen sowie regionale Investmentbanken setzen oftmals die Innenpolitik ehemals kolonisierter Länder unter Druck, ihre Ökonomie nach den Prinzipien des freien Handels, Monetarismus und „ökonomischem Rationalismus“ auszurichten (Ashcroft 2001, S. 209). Während die neokoloniale Macht des Bankensektors unternehmerische und militärisch-industrielle Komplexe stärkt, beobachten wir dabei gleichzeitig eine fortschreitende Verelendung großer Bevölkerungsteile. Die neoliberale Globalisierung verfestigt strukturelle Unterschiede und verstärkt soziale Ungleichheiten, die während der Kolonialherrschaft etabliert wurden. So war die europäische Industrialisierung, wie bereits dargelegt, auf den Sklavenhandel angewiesen, um Investitionsmöglichkeiten durch neue plantagenbezogene Märkte zu schaffen (Brennan 2005, S. 107). Wichtiger Bestandteil einer imperial-ökonomischen Politik war neben der Ausbeutung die Verhinderung von Entwicklung innerhalb der Kolonien. Nur so wurde es möglich, den Ländern des globalen Südens strukturell ungleiche Handlungsbedingungen aufzuzwingen (Brennan 2005, S. 109). Während die Kolonien Rohstoffe nach Europa exportierten und diese als Fertigerzeugnisse reimportierten, produzieren viele der ehemaligen Kolonien in der derzeitigen Globalisierungsphase arbeitsintensive, halbfertige Produkte mit geringem Technologieniveau im Niedriglohnsektor, während die ehemaligen Kolonialmächte die wissensintensive Produktion auf hohen Technologieniveau monopolisieren (Amin 2011). Die Peripherien sind damit zu Orten billiger Produktion und des ausbeuterischen Abbaus von Ressourcen geraten.

Aktuell relevant ist in diesem Zusammenhang auch die Aushöhlung kollektiver Rechte ländlicher Gemeinschaften etwa mithilfe von Biopiraterie, die im Rahmen von Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) durch die Welthandelsorganisation zunimmt und unter anderem eine Patentierung biogenetischen Materials (etwa von Basmatireis und Neemöl) möglich gemacht hat (Shiva 2001; Randeria 2009, S. 219 ff.). Darüber hinaus führen multinationale Unternehmen immer häufiger genmanipulierte Samen in die postkoloniale Welt ein, was hohe Verschuldung provoziert, das ländliche Elend verstärkt und unter anderem zum Suizid von tausenden Bauern geführt hat (Sainath 2004). Massenhafte Zwangsvertreibungen haben zudem zu bitterer Not und der Zerstörung von Existenzgrundlagen geführt (Pearce 2012; Liberti und Flannelly 2013). Globalisierungsprozesse können somit als gewaltvoller Zusammenstoß von Perspektiven und Positionen der verletzlichsten Gruppen in den ländlichen Räumen des globalen Südens mit denen der globalen Elite gelesen werden, so Vandana Shiva. Anhand des Beispiels der zunehmenden Zahlen von Suiziden von Bauern in Indien verdeutlicht sie die brutale und ausbeuterische Konvergenz von globalem unternehmerischen Kapitalismus und lokalem Feudalismus (Shiva 2001, S. 23).

Eng mit den Globalisierungsdiskursen verklammert sind Entwicklungsdiskurse, die auf der Kooperation globalen Kapitals mit multilateral operierenden Hilfsorganisationen beruhen. In einer durch eurozentrische Epistemologien informierten Perspektive wird der Ursprung der immensen Kapitalakkumulation im globalen Norden von den Bedingungen des Kolonialismus losgelöst und stattdessen mit Diskursen von Fortschritt und Rationalität als Produkte europäischer Aufklärung verknüpft. Entwicklungspolitiken bleiben damit von imperialen Weltkonstruktionen dominiert und perpetuieren die „Differenzmaschinerie“, die fortwährend ein „zivilisiertes Wir“ und die „armen Anderen“ herstellt (Ashcroft 2001, S. 207; auch Anghie 2006a). Weit verbreitet ist etwa das Bild von „denen“, die „unserem“ Beispiel folgend, zur Entwicklung geführt werden (Kapoor 2008, S. 20 f.). Die fehlende Auseinandersetzung mit den historischen Kontinuitäten, auf denen die Machtverhältnisse zwischen dem globalen Norden und Süden beruhen, und den Bedingungen, unter denen die Epistemologien sowie die materiellen Privilegien der Ländern des Nordens geschaffen wurden, bleibt dabei alles andere als folgenlos. Vielmehr werden im Entwicklungsdiskurse neokoloniale Machtverhältnisse reproduziert, die dazu beitragen, dass die Ideologie der kulturellen Überlegenheit des Westens weitestgehend unwidersprochen bleibt. Die Probleme der so genannten Entwicklungsländer sind weiterhin vor allem durch Mangel definiert (Mangel an Bildung, Demokratie, Geschlechtergleichheit, Toleranz, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Technologie etc.), die den Norden dazu zu legitimieren scheinen, für den Süden Verantwortung zu übernehmen (Kapoor 2008, S. 4 ff.; auch McEwan 2009).

Die Rechtfertigung neokolonialer Strukturen kann sehr eindrücklich anhand des so genannten „Empowerment-Paradigmas“ im gegenwärtigen Entwicklungsdiskurs veranschaulicht werden: Zu Beginn der Dekolonisierung wurde Entwicklung nicht nur als zentrales Element von Demokratisierungsprozessen verstanden, sondern zugleich als ein wirksames Mittel zur Erlangung von Geschlechtergerechtigkeit in ehemalig kolonisierten Ländern propagiert (Kapoor 2008, S. 41 ff.; Zein-Elabdin und Charusheela 2003, S. 2 f.). Das in der Entwicklungspolitik popularisierte Konzept „Fraueninteressen“ unterstellt dabei, dass alle Frauen, unabhängig von der spezifisch rassistischen Positionierung, Klasse, Religion und Sexualität, gemeinsame Interessen teilen. Aus diesem Grunde fiel es auch leicht, universelle Lösungsansätze für divergierende Kontexte und Problemlagen zu befürworten (Saunders 2002). Dieser Ansatz wurde in einer höchst problematischen „Politik des Helfens“ umgesetzt, welche die durchaus vorhandenen ökonomischen und geopolitischen Interessen der Helfenden unsichtbar machte. Der globale Norden erscheint an dieser Stelle erneut als moralische Kraft, der den „Armen“ hilft, während die ökonomischen und politischen Interessen dahinter unausgesprochen bleiben. Wir können also sehen, wie auch die Verbindung von „Gender“ und „Entwicklung“ dem globalen Norden als Alibi dient, um in die innerstaatlichen Angelegenheiten im globalen Süden zu intervenieren (Chowdhry und Nair 2002).

Auch der Kampf gegen Armut wird dabei zunehmend als Integration der Armen in den Kapitalmarkt kodiert, während andere Ansätze zur Überwindung sozialer Ungerechtigkeit ignoriert oder gar bekämpft werden.Footnote 8 Mikrofinanzprogramme haben sich angesichts von Staaten, die nicht in der Lage zu sein scheinen, sozialstaatliche Strukturen zu etablieren, als scheinbar effektive Werkzeuge zur Armutsbekämpfung etabliert. Indem sie jedes Individuum als potentielle Unternehmer/-in begreifen, scheinen das Konzept und die Praxis der Mikrokredite produktive, selbstständige Tätigkeiten zu unterstützen. Angesichts der Kritik an Strukturanpassungsprogrammen (SAP) werden Mikrofinanzprogramme deswegen als „Strukturanpassung mit menschlichem Gesicht“ zelebriert und als effektives und zuverlässiges Gegenmittel gegen Armut beschrieben (kritisch hierzu Spivak 2007, S. 177).

Diese Beispiele veranschaulichen die Problematik des Entwicklungsdiskurses und machen deutlich wie Entwicklungszusammenarbeit in einem kolonialen Rechtfertigungszusammenhang verhaftet bleibt (Saunders 2002). Wenn jedoch auf der einen Seite die Entwicklungspolitik des Westens als die einzige Möglichkeit der Dekolonisierung des globalen Südens angeführt wird, so finden sich auch Anti-Development-Positionen, die jede Form von Entwicklung als ein von Ausbeutung gekennzeichnetes kapitalistisches Wachstum rundheraus ablehnen und ebenso fraglich sind. An die Vertreter/-innen letzterer Position wird von Seiten der postkolonialen Theorie der Appell gerichtet, die Ambivalenz des Entwicklungsprozesses anzuerkennen, die etwa auch darin besteht, Mittel und Wege für die Entwicklung ökonomischer Unabhängigkeit für entrechtete Gruppen bereitzustellen. Eine kategorische Zurückweisung von Entwicklung läuft mithin zwangsläufig Gefahr, die Situation der im globalen Süden prekär lebenden Menschen als jenseits von kapitalistischen Strukturen zu romantisieren (Kapoor 2008, S. 52 ff.).

Die ambivalente Natur der Globalisierungsprozesse sind mithin evident und der damit im Zusammenhang stehende politische Diskurs um Global GovernanceFootnote 9 verständlich. Dabei erscheinen die Schlüsselkonzepte der Globalisierungsstudien – wie etwa Hybridität oder Mobilität – unzureichend, um materielle und strukturelle Erfahrungen von Ausbeutung und Entrechtung im globalen Süden in ihrer Komplexität zu analysieren. Und der digitale Raum bietet nicht nur neue Zugangsmöglichkeit zu virtuellen Gegenöffentlichkeiten, sondern ist eben auch der neue Hauptschauplatz für den Handel des globalen Kapitals (Sassen 2008, S. 89), unterdessen menschliche Mobilität im großen Maßstab durch westliche militärische Operationen (etwa FRONTEX oder EUROSUR) verhindert wird. Nicht umsonst ist die europäische und US-amerikanische Kontroll- und Sicherheitsindustrie eine stetig wachsende und lukrative Branche.

Weitere wichtige Aspekte sind die Rekonfigurierung der Rolle des Staates und das Verständnis von Politik im Global Governance-Diskurs. Nach wie vor dominiert innerhalb der Globalisierungsforschung die Ansicht, der Nationalstaat sei redundant geworden. Häufig wird der Staat lediglich auf seine repressiven Elemente reduziert und als überholtes Konzept erachtet. Ironischerweise erschließen sich aus der Schwächung von Nationalstaaten in der Ära der neoliberalen Globalisierung neue Handlungsmöglichkeiten für die internationale Zivilgesellschaft, welche nun eine ausgesprochene Führungsrolle innerhalb der aktuellen Global Governance einnimmt. Da sie ein hohes Maß an Legitimität in der öffentlichen Sphäre innehaben, werden internationale Organisationen und internationale zivilgesellschaftliche Akteur/-innen zunehmend mit der Verantwortung betraut, die Schaffung von Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie auf globaler Ebene zu überwachen. Mit dem Legitimitätsverlust des Nationalstaats wird die transnationale Zivilgesellschaft geradezu zum Hoffnungsträger für die Etablierung notwendiger sozio-politischer Transformationsprozesse. So wird gemeinhin angenommen, dass eine ermächtigte internationale Zivilgesellschaft unwillkürlich zu einer Stärkung der Demokratie beiträgt. Es ist auch hier Spivak, die diese allzu simplistische Gleichung unter einer postkolonialen Perspektive problematisiert und unter Rekurs auf Antonio Gramsci darlegt, dass die Zivilgesellschaft als eine Erweiterung der hegemonialen Ordnung zu verstehen sei und eben nicht als deren Gegenspieler (Spivak 2004, S. 542). Vehement kritisiert sie folgerichtig die Rolle elitärer zivilgesellschaftlicher Akteur/-innen, die – ohne von den Menschen, die sie zu vertreten vorgeben, direkt gewählt worden zu sein – beachtliche politische Macht sowie Zugang zu einer transnationalen Öffentlichkeit erlangt haben (Dhawan 2013). Wie Gramsci legt auch Spivak den Fokus auf subalterne Gruppen, die weder Zugang zu staatlichen Organen noch zu transnationalen Gegenöffentlichkeiten haben und stellt fest, dass die Monopolisierung von Handlungsmacht durch Zivilgesellschaftsakteure /-innen, die Unrecht richten wollen, Subalterne zu Opfern ohne Handlungsmacht reduziert. Dies stabilisiere unwillkürlich aktuelle Dominanzverhältnisse (Spivak 2004, S. 542). Die Auflösung subalterner Räume, so wird durch die Einnahme einer postkolonialen Perspektive deutlich, macht eine Rekonfigurierung der Beziehung zwischen Staat, Zivilgesellschaft und Subalternen vonnöten, während die klassische Globalisierungsrhetorik stattdessen die Revitalisierung älterer Formen von Nationalismus, Patriotismus und Fundamentalismus gestattet (Gikandi 2005, S. 619).

Tatsächlich kann als einer der Hauptunterschiede zwischen der Globalisierungsforschung und postkolonialer Theorie ausgemacht werden, dass der postkoloniale Nationalstaat für Letztere immer noch einen machtvollen – wenn auch ambivalenten – Apparat darstellt. In Anbetracht der staatlichen Mechanismen umverteilender Gerechtigkeit sowie seiner Möglichkeiten, auf die Bedürfnisse seiner Bürger/-innen zu reagieren, wird innerhalb postkolonialer Theorie eher dazu aufgerufen, die Rolle des Staates grundlegend zu überdenken und die der Souveränität in all ihrer Ambivalenz zu untersuchen (Dhawan 2014). In ehemaligen Kolonien kann sich Widerstand gegen die Globalisierung in Form von kulturellem und ökonomischem Nationalismus ausdrücken. In diesem Kontext eignen sich postkoloniale Studien gut für ein nuanciertes Lesen der reziproken Machtabläufe (auf der ökonomischen, sozialen und kulturellen Ebene) zwischen Nationalstaaten und globalisierten Kapital (Loomba et al. 2005; Krishnaswamy und Hawley 2008; Dhawan und Randeria 2013).

3 Fazit

Ein Studium der internationalen Beziehungen ist ohne die Berücksichtigung der jahrzehntelangen kolonialen Herrschaft, aufgrund derer zu Hochzeiten bis zu 85 Prozent des Weltterritoriums von Europa okkupiert waren, nicht möglich. Ob es die Idee des Globalen ist oder das Modell der internationalen Ordnung, eine Genealogie der Hauptkonzepte der IB führt uns immer wieder zurück zu imperialen Zeiten. Eine Löschung oder auch nur Marginalisierung der Ursprünge der IB hat nur eine lückenhaften Darstellung zur Folge, sondern auch zu einer Perpetuierung der asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen dem Westen und dem was Hall provokativ als den „Rest“ bezeichnet hat (Hall 1992). Neokoloniale Strukturen stellen immer noch machtvolle Parameter im Kontext internationaler Beziehungen, und auch kolonialistische, eurozentrische Imaginationen beherrschen die politischen Praxen Europas, aber auch der europäischen Politikwissenschaften, weiterhin. Das Vertrauen der IB in ihre angebliche Mission beruht dabei auf einem Mythos, der durch eine grundsätzliche Geschichtsvergessenheit – insbesondere in Bezug auf die von Europa ausgegangenen Verbrechen gegen die Menschheit – konstant perpetuiert und über die Wiederholung naturalisiert wird. Eine postkoloniale Perspektive ist mithin für eine kritische IB unverzichtbar – Pflicht, nicht Kür. Ohne ein Verständnis davon, wie der europäische Kolonialismus globale Machtverhältnisse ökonomisch, politisch und kulturell strukturiert hat, können selbst Prozesse der Globalisierung nicht angemessen nachvollzogen werden. Ein historisches Bewusstsein in Bezug auf transkontinentalem Handel, Reisen und Eroberung eröffnet zudem die Möglichkeit, die Zusammenhänge zwischen dem heutigen Neoimperialismus und den ehemaligen Kolonialsystemen besser zu verstehen und eindimensionale Zugänge zu gegenwärtigen Auffassungen des Globalen zu vermeiden (Loomba et al. 2005, S. 4).

Letztendlich gilt es, die geäußerte Kritik in eine postkoloniale Einmischung zu übersetzen, die innerhalb postkolonialer Theorie als notwendig und unmöglich zugleich beschrieben wird und die Chakrabarty pointiert wie angemessen provokant als „Provinzialisierung Europas“ bezeichnet hat (Chakrabarty 2000; auch Seth 2011, S. 167).