Seit Theofilakisʼ Arbeiten aus dem Jahr 2014 über die Situation der deutschen Kriegsgefangenen haben wir konkretere und intimere Kenntnisse über ihr Leben und ihr Schicksal in Frankreich. Die damals verwendete Abkürzung für die deutschen Kriegsgefangenen lautete PGA (Prisonnier de Guerre Allemand); drei Buchstaben, die oft in großen weißen Lettern auf die Kleidung dieser Männer gemalt wurden.

Im Juni 1944 gab es etwa eine Million deutsche Kriegsgefangene in Frankreich und man schätzt, dass zwischen 38.000 bis 40.000 von ihnen nach 1948 in Frankreich geblieben waren. Sie gründeten eine Vereinigung unter dem Vorsitz von Henri (Heinrich) Sturges, einem ehemaligen Wehrmachtssoldaten, der sich später den Rest seines Lebens für den Aufbau Europas und die deutsch-französische Aussöhnung einsetzte. Henri wurde am 12. Dezember 1926 in Kordel bei Trier in Deutschland geboren. Im Alter von 16 Jahren wurde er zur Wehrmacht eingezogen und gehörte der Truppe an, die damals Hitlers letztes Aufgebot genannt wurde. Am 6. Juni 1944 lernte der junge Henri den Krieg in seiner ganzen Brutalität kennen. Er überlebte ihn und wurde zu einem erbitterten Kriegsgegner, der sein ganzes Leben lang für den Frieden kämpfte. Henri Sturges blieb in Frankreich und wurde Vater von vier Kindern. Er war mit einer Französin verheiratet, deren Vater von der Gestapo zum Tode verurteilt worden war aber fliehen konnte. Im Jahr 1984 erhielt Henri Sturges die höchste deutsche Auszeichnung, das BundesverdienstkreuzFootnote 1. Wir werden seiner Biografie später ein Kapitel im zweiten Teil des Buches widmen.

Es gibt auch Geschichten, die der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt sind und die eher gut ausgegangen sind. So die Geschichte von dem deutschen Soldaten Heinz Stahlschmidt, der sich weigerte, die Dynamitladungen zu zünden, die zur Zerstörung des Hafens von Bordeaux vorgesehen waren. Sein Leben wird in dem bewegenden Buch „Der Deutsche, der Bordeaux aus Liebe rettete“ (Schaake 2010) erzählt. In diesem leicht romantisierenden Buch gibt es eine Passage, die das Dilemma der in Frankreich stationierten deutschen Soldaten deutlich macht, die das Ende des Krieges und die Kapitulation der Wehrmacht kommen sehen.

Henriette, seine zukünftige Frau, erkundigt sich bei ihm:

„Aber was wirst du denn machen, wenn der Krieg vorbei ist? Heinz fühlte sich einen Moment lang hilflos. Was würde er tun, wenn Deutschland besiegt würde? Würde er nach Dortmund zurückkehren, wo er geboren worden war? Aber das war jetzt eine tote Stadt, ein Trümmerhaufen, mit sechzigtausend Obdachlosen infolge der englischen Bombenangriffe. Wohin sollte er sonst gehen.“ (Schaake 2010: 106)

Heinz Stahlschmidt heiratete 1949 Henriette und nahm den Namen seiner Frau an. Er blieb und arbeitete den Rest seines Lebens in Bordeaux und kehrte nur ein einziges Mal nach Deutschland zurück, um am Grab seiner Mutter zu trauern. Die Anerkennung Frankreichs für diesen Helden ließ lange auf sich warten. Im Jahr 1995 verlieh ihm Jacques Chaban-Delmas, Bürgermeister von Bordeaux und bedeutender Widerstandskämpfer, die Ehrenmedaille der Stadt Bordeaux und im Jahr 2000 wurde ihm das Kreuz eines Ritters der Ehrenlegion verliehen, die höchste französische Auszeichnung.

„Dennoch macht die Geschichte von Heinz Stahlschmidt den französischen Patrioten und ehemaligen Widerstandskämpfern weiterhin sehr zu schaffen. Das ist ein Beweis dafür, dass die Grande Nation manchmal Schwierigkeiten hat, die dunklen Jahre des Zweiten Weltkriegs aufzuarbeiten, angefangen von der Kollaboration bis zur Verfolgung der Juden mit Hilfe der französischen Polizei.“ (Schaake 2010: 203–204)

Von den fast eine Million deutschen Kriegsgefangenen, die 1944 auf französischem Boden waren, befanden sich 1947 noch etwa 475.000 Männer in Frankreich. Diesen Gefangenen bot der französische Staat durch ein Dekret vom 11. März 1947 einen einjährigen Arbeitsvertrag an, der es ihnen ermöglichte, als freie Arbeiter in Frankreich bleiben zu können. Zu dieser Zeit wurden sie als „Transformierte“ bezeichnet, da sie die gleichen Rechte wie andere ausländische Arbeiter erhielten. Etwa 137.000 Männer – also 29 % – akzeptierten diese Bedingungen. Nach einem ähnlichen Vorschlag im Jahr 1948 verlängerten 755.000 Deutsche ihren Vertrag um ein weiteres Jahr. Als die französischen Behörden im Dezember 1948 erklärten, dass der letzte deutsche Kriegsgefangene das Land verlassen habe, hatte ein Großteil dieser Männer die Entscheidung getroffen, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren und eine Familie in Frankreich zu gründen. Es gibt keine offiziellen Zahlen, aber Schätzungen des Verbands Deutscher Kriegsgefangener gehen von etwa 40.000 Männern aus. In ihren neuen Familien in Frankreich wurden sie häufig als „sales boches“, „chleus“ oder „Fritz“ bezeichnet, was alles Schimpfwörter sind.

Ähnliche Geschichten werden sich in Tausenden von französischen Haushalten abgespielt haben. Es sind genau diese Anekdoten, die den roten Faden dieses Buches bilden.

Warum blieben diese jungen Männer in Frankreich? Drei Hauptgründe kristallisieren sich heraus:

  1. 1.

    Die massiven Zerstörungen in Deutschland;

  2. 2.

    Der Verlust von Familienmitgliedern bei den Bombenangriffen;

  3. 3.

    Gefangene, die aus den von der Roten Armee und später von Polen besetzten Gebieten stammten und die aufgrund des stalinistischen politischen Systems nicht in die russisch besetzte Zone zurückkehren wollten, aus der im Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik (DDR) hervorgehen sollte.

Diese verschiedenen Gründe bilden die Grundlage für die Geschichten über die Migration von Deutschland nach Frankreich. Eine Migration nicht ohne Risiken, denn man stieß schnell an die Sprachbarriere. Ein verhältnismäßig kleines Problem für diejenigen, die als Gefangene bereits ihre eigenen Erfahrungen mit harter Arbeit in Frankreich gemacht hatten. Aber man wurde auch mit der Feindseligkeit eines Teils der französischen Bevölkerung, der latenten Opposition oder einer fehlenden Offenheit gegenüber den Deutschen konfrontiert. Da Deutschland für die Männer jedoch keine Zukunft mehr darstellte, akzeptierten sie diese Lebensbedingungen an der Seite ihrer französischen Frauen, was in einigen Fällen zu persönlichen Problemen wie Verzweiflung und Depressionen, zu Alkoholismus und sogar Selbstmord führte (vgl. Alain: Kap. 5; Annie und Sylvie: Kap. 6; Sandrine: Kap. 7).

Es gibt aber auch glückliche Geschichten. Andere Paare, denen es perfekt gelungen ist, sich in die französische Nachkriegsgesellschaft (Géraldine: Kapitel 4) oder in das neue Deutschland (Arlette und Hubert: Kap. 3) zu integrieren. Und schließlich wie Mauricette (Kap. 1), die ihren ehemaligen Häftling nach Deutschland begleitete, um sich dort endgültig niederzulassen und mit ihm ein glückliches Zuhause zu gründen, in dem zwei Kinder geboren wurden.