Frau Wahlmaschine USA
Nicht nur der US-Präsident wird im November gewählt. Es stehen auch unterschiedliche Wirtschaftspolitiken zur Wahl.
Foto: AFP / Jim Watson

Überall auf der Welt ist der populistische Nationalismus auf dem Vormarsch. Dabei sollte die neoliberale Orthodoxie – Verkleinerung der Staatsmacht, Steuersenkungen, Deregulierung –, die sich vor rund 40 Jahren im Westen durchsetzte, die Demokratie stärken und nicht schwächen. Was ist schiefgelaufen?

Ein Teil der Antwort ist wirtschaftlicher Natur: Der Neoliberalismus hat einfach nicht gehalten, was er versprach. In den Vereinigten Staaten und anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften, die ihn übernommen haben, war das inflationsbereinigte Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens zwischen 1980 und der Covid-19-Pandemie um 40 Prozent niedriger als in den 30 Jahren davor. Schlimmer noch, die Einkommen im unteren und mittleren Bereich stagnierten weitgehend, während die Einkommen im oberen Bereich stiegen, und die bewusste Schwächung des Sozialschutzes führte zu größerer finanzieller und wirtschaftlicher Unsicherheit.

"Die Freiheit, die Umwelt zu verschmutzen, führt zu einer Verschlechterung der Gesundheit, zu extremerem Wetter und zu unbewohnbarem Land."

Junge Menschen sind zu Recht besorgt, dass der Klimawandel ihre Zukunft bedroht, und sie sehen, dass die vom Neoliberalismus beherrschten Länder es immer wieder versäumt haben, strenge Vorschriften gegen die Umweltverschmutzung zu erlassen. Leider sind diese Versäumnisse nicht überraschend. Der Neoliberalismus basierte auf der Überzeugung, dass uneingeschränkte Märkte der effizienteste Weg sind, um optimale Ergebnisse zu erzielen. Doch schon in den frühen Tagen des Aufstiegs des Neoliberalismus stellten Ökonominnen und Ökonomen fest, dass unregulierte Märkte weder effizient noch stabil sind, geschweige denn zu einer sozial akzeptablen Einkommensverteilung führen.

Die Befürworterinnen und Befürworter des Neoliberalismus schienen nie zu erkennen, dass die Ausweitung der Freiheit von Unternehmen die Freiheit der übrigen Gesellschaft einschränkt. Die Freiheit, die Umwelt zu verschmutzen, führt zu einer Verschlechterung der Gesundheit, zu extremerem Wetter und zu unbewohnbarem Land. Natürlich gibt es immer Kompromisse, aber jede vernünftige Gesellschaft würde zu dem Schluss kommen, dass das Recht zu leben wichtiger ist als das fadenscheinige Recht, die Umwelt zu verschmutzen.

Rettungsleine vom Staat

Auch die Besteuerung ist dem Neoliberalismus ein Dorn im Auge, weil er darin einen Angriff auf die individuelle Freiheit sieht: Jeder hat das Recht, alles zu behalten, was er verdient, unabhängig davon, wie er es verdient hat. Aber selbst wenn sie ehrlich zu ihrem Einkommen gekommen sind, ignorieren sie, dass es durch staatliche Investitionen in Infrastruktur, Technologie, Bildung und Gesundheitswesen ermöglicht wurde.

Diejenigen, die am meisten beim Staat verschuldet sind, vergessen oft als Erste, was die Regierung für sie getan hat. Wo wären Elon Musk und Tesla ohne die Rettungsleine von fast einer halben Milliarde US-Dollar, die sie 2010 von Präsident Barack Obamas Energieministerium erhielten? "Steuern sind der Preis, den wir für eine zivilisierte Gesellschaft zahlen", hat Oliver Wendell Holmes, Richter am Obersten Gerichtshof der USA, einmal gesagt. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Steuern sind das, was man braucht, um die Rechtsstaatlichkeit zu etablieren oder andere öffentliche Güter bereitzustellen, die eine Gesellschaft im 21. Jahrhundert braucht, um zu funktionieren.

Wir gehen hier über bloße Kompromisse hinaus, weil alle – auch die Reichen – durch eine ausreichende Versorgung mit diesen Gütern bessergestellt werden. Insofern kann Zwang emanzipatorisch sein. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass wir, wenn wir lebenswichtige Güter haben wollen, dafür bezahlen müssen, und das erfordert Steuern.

Besseres Leben

Natürlich werden die Befürworterinnen und Befürworter eines kleineren Staates sagen, dass viele Ausgaben gekürzt werden sollten, einschließlich der staatlich verwalteten Pensionen und der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Aber auch hier gilt: Wenn die meisten Menschen gezwungen sind, die Unsicherheit und die Angst zu ertragen, im Alter keine verlässliche Gesundheitsversorgung oder kein Einkommen zu haben, dann wird die Gesellschaft weniger frei.

In den USA stehen bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen nicht nur Chaos und Ordnung zur Wahl, sondern auch unterschiedliche Wirtschaftsphilosophien und -politiken. Der amtierende Präsident Joe Biden will die Macht der Regierung nutzen, um das Wohlergehen aller Bürgerinnen und Bürger, insbesondere der unteren 99 Prozent, zu verbessern, während Donald Trump eher daran interessiert ist, den Wohlstand des oberen einen Prozents zu maximieren.

"Unser Wirtschaftssystem spiegelt wider und formt, wer wir sind und was wir werden können."

Niemand kann leugnen, dass die beiden Kandidaten sehr unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit und den Voraussetzungen für eine gute Gesellschaft haben. Unser Wirtschaftssystem spiegelt wider und formt, wer wir sind und was wir werden können. Wenn wir öffentlich einen egoistischen, frauenfeindlichen Gauner unterstützen oder diese Eigenschaften als unbedeutende Makel abtun, wird unsere Jugend diese Botschaft aufnehmen, und wir werden am Ende noch mehr Schurken und Opportunisten an der Macht haben. Wir werden zu einer Gesellschaft ohne Vertrauen und damit ohne eine gut funktionierende Wirtschaft.

Jüngste Umfragen zeigen, dass die Öffentlichkeit kaum drei Jahre nach dem Ausscheiden Trumps aus dem Weißen Haus das Chaos, die Inkompetenz und die Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit seiner Regierung selig vergessen hat. Doch ein Blick auf die konkreten Positionen der Kandidaten zu diesen Themen zeigt, dass, wenn wir in einer Gesellschaft leben wollen, die alle Bürgerinnen und Bürger wertschätzt und ihnen ein erfülltes und zufriedenstellendes Leben ermöglichen will, die Entscheidung klar ist. (Joseph E. Stiglitz, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 16.5.2024)

Update: In einer früheren Version fehlte im zweiten Absatz das nicht unwesentliche Wort "Wachstum".