Morgenandacht | 14.05.2024

Das christliche Menschenbild im Grundgesetz

Morgenandacht, 14.05.2024

Reinhard Kardinal Marx, München

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Bei der Erarbeitung des Grundgesetzes, an dessen Inkraftsetzung vor 75 Jahren wir kommende Woche erinnern, wurde vieles intensiv diskutiert. Und der Parlamentarische Rat war sich der hohen Ernsthaftigkeit bewusst, so dass immer wieder der größtmögliche Konsens gesucht wurde. Denn die neue, provisorische Verfassung sollte ein tragfähiger Boden sein, der zugleich Deutschland nie wieder zu einer Gefahr für die Welt werden ließ, Willkürherrschaft verhinderte und die politische Macht begrenzen sollte.

Auch um die genaue Bezeichnung der Verfassung rang der Parlamentarische Rat damals, denn die Verfassung für die Westzone sollte das Gebiet der Ostzone nicht dauerhaft ausschließen. Die Bezeichnung als "Grundgesetz" trug dieser Perspektive des Provisoriums Rechnung. Die Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates ist in gewisser Weise immer ein Provisorium, da der Souverän das Volk ist, und sich damit auch eine Verfassung verändern kann – allerdings geschützt vor Beliebigkeit. Das macht schon die Struktur unseres Grundgesetzes deutlich: Im ersten Teil sind die Grundrechte festgehalten, die dem Menschen Rechte zuordnen und den Staat in die Pflicht nehmen. Im zweiten Teil geht es um die Organisation und um Regeln für das Staatshandeln. Dieser Aufbau unterstreicht zum einen den Ewigkeitscharakter der Grundrechte und zum anderen die Möglichkeit der Veränderung des Grundgesetzes.

Leitend für das Grundgesetz ist die Menschenwürde. In Artikel 1 heißt es: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Dahinter steht die Überzeugung, dass allen Menschen bedingungslos die gleiche Würde zukommt, die von niemandem zuerkannt oder abgesprochen werden kann. Das ist weit mehr als eine Rechtsnorm, es ist im Grunde ein Bekenntnis. Nicht im Sinne einer vorgegebenen Aussage einer bestimmten Religion, Geisteshaltung oder Kultur. Sondern ganz grundsätzlich könnte man es auch so sagen: „Ich glaube an die Würde des Menschen. Ich halte die Menschenwürde für wahr, auch wenn ich sie nicht beweisen kann.“ Das ist eine enorme Voraussetzung einer Verfassung!

Hinter diesem Grundsatz steht auch das biblische Verständnis vom Menschen, das in der Erarbeitung des Grundgesetzes prägend war. Es bedeutet im Kern, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist und ihm deshalb unbedingte Würde zukommt. Auch wenn es unterschiedliche Ansätze gibt, die Menschenwürde zu begründen, so steht doch ihre enorme Bedeutung für das menschliche Zusammenleben außer Frage.

Es fällt schwer, näher zu bestimmen, was die Würde des Menschen ist. Leichter ist es, zu zeigen, wo die Würde des Menschen verletzt wird, wo gegen dieses Grundrecht verstoßen wird. Und das geschieht leider dennoch. Die unbedingte Achtung der Menschenwürde, die die Abkehr von der Erfahrung des totalitären und menschenverachtenden NS-Regimes markiert, scheint nicht mehr immer und unbedingt von allen vertreten zu werden. Das mag auch darin liegen, dass die Menschenwürde ein positives Menschenbild voraussetzt und die Anerkenntnis eines unbedingten Appells. Denn der erste Artikel ist ein Appell! Und deshalb ist es auch zentral, dass unser Grundgesetz und unsere Demokratie nicht nur schöne Worte sind, sondern wehrhaft sind.

Aus der Menschenwürde ergibt sich auch der Leitsatz der Gleichheit, die nicht die Individualität der einzelnen aufhebt. Auch aus christlichem Glauben heraus und aufgrund des biblischen Menschenbildes gilt es, die Gleichheit aller Menschen aufgrund ihrer Würde zu fördern. Dieser Anspruch richtet sich auch an die Kirche selbst – sowohl in ihrer eigenen Verfasstheit als auch in ihrem gesellschaftlichen Engagement!

Über den Autor Reinhard Kardinal Marx

  • geboren 1953 in Geseke/Westfalen
  • 1979 Priesterweihe
  • 1996 Bischofsweihe
  • 2001 – 2008 Bischof von Trier
  • seit 2008 Erzbischof von München/Freising
  • 2010 Ernennung zum Kardinal
  • 2014 – 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

Kardinal Marx ist Vorsitzender der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz.