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1 Warum das menschliche Verhalten relevant ist

Das Verhalten von Organismen zu verstehen, dient nicht nur dem reinen Forschungsinteresse, auch für alltägliche Anwendungen ist dieses Wissen von grundlegender Bedeutung. Wo immer Organismen – egal ob Pflanze, Mensch oder Tier – auf ihre Umwelt treffen, wird ihr Verhalten davon beeinflusst, welche Möglichkeiten der Interaktion sich bieten. Als Verhalten eines Organismus bezeichnet man die Gesamtheit seiner Bewegungen, Äußerungen (Geräusche, chemische Ausdünstungen wie Düfte etc.) und Körperhaltungen (Tinbergen 1955). Im Folgenden wird der Begriff Verhalten ausschließlich für jenes Geschehen, das an einem Organismus oder von einem Organismus ausgehend von außen wahrnehmbar ist, eingesetzt. Verhalten beinhaltet hier sowohl reflektiertes als auch unreflektiertes, gewolltes und ungewolltes, geplantes und ungeplantes Tun. Eine Unterscheidung hinsichtlich der Beweggründe ist für die Verhaltensforschung zweitrangig, da sie zunächst – möglichst objektiv – beobachtet und nicht interpretiert, welche Ursachen und Gründe dem Tun zugrunde liegen.

Diese Verzahnung von Verhalten und Umgebung ist sehr eng. Für das menschliche Verhalten prägte Roger Barker hierzu den Begriff der Behavior Settings (Barker 1968). Die Behavior Settings Theorie geht davon aus, dass man Verhalten nicht unabhängig von der Verhaltensumgebung verstehen kann. Dies erklärt auch den Umstand, dass das Verhalten verschiedener Menschen an einem Ort mehr Ähnlichkeiten aufweist als das Verhalten derselben Person an unterschiedlichen Orten.

Nicht nur die Art der Örtlichkeiten – wir verhalten uns im Supermarkt anders als im Büro und dort anders als in einem Restaurant – beeinflussen das Verhalten, deren spezifische Gestaltung führt zu einer weiteren Differenzierung. Aktuell kann besonders bei der Gestaltung von Schnittstellen zwischen gebauten oder digitalen Strukturen und Nutzer:innen, Wissen um menschliche Verhaltenstendenzen die Benutzerfreundlichkeit von Objekten, Applikationen, Fahrzeugen oder Geräten verbessern, sowie ihre ästhetischen Qualitäten und die Funktionalität steigern. Ebenso kann bei der Gestaltung von Innenräumen das Wissen um menschliche Präferenzen genutzt werden: Berücksichtigt man die evolutionär entstandene Präferenz für Orte, die gleichzeitig einen guten Überblick über das Geschehen (Prospekt), Rückzugs- (Refuge) und Flucht- (Escape) -möglichkeiten bieten, entstehen Aufenthaltsorte mit hoher Nutzungsqualität (Appleton 1975; Fisher und Nasar 1992). Der Innenraum von Fahrzeugen des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs kann so derart optimiert werden, dass dieser effektiv nutzbar wird (Oberzaucher und Rueger 2018). Ein Verständnis des menschlichen Territorialverhaltens kann das öffentliche und private Miteinander konfliktarm gestalten, indem Nachbarschaften, Büroräumlichkeiten und anderes baulich so geplant werden, dass die Strukturen das Entstehen von territorialer Identifikation unterstützen (Abb. 1). Auch in digitalen und kognitiven Domänen liefert das Verständnis evolutionär entstandener kognitiver Algorithmen (Kahneman 2011) die Grundlage, um Entscheidungsinfrastrukturen gezielt zu gestalten. So kann Entscheidungsfindung erleichtert werden, oder auch bestimmte Entscheidungen durch sogenanntes Nudging wahrscheinlicher gemacht werden (Thaler und Sunstein 2011). Unter Nudging versteht man einen Eingriff in die Entscheidungsfindung der Menschen, ohne jedoch Wahlmöglichkeiten zu verbieten oder Anreize signifikant zu verändern, in dem das erwünschte Verhalten leichter und kostengünstiger erreichbar gemacht wird (Congiu und Moscati 2022; Thaler und Sunstein 2011). Ein bekanntes Beispiel für wirksames Nudging bietet etwa die Stadt Amsterdam, die ihre unadressierte Postwurfverteilung von einem Abwahl-System (Opt-Out) zu einem Auswahl-System (Opt-In) änderte und somit um die 6000 kg Altpapier im Jahr einsparte. Nudging ist somit eines der wichtigsten Mittel, um Alltagsentscheidungen zugunsten nachhaltigen Verhaltens zu ändern (Schneider et al. 2022).

Abb. 1
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Wenn territoriale Übergänge fehlen (links), und der öffentliche Raum direkt an private Territorien grenzt, erhöht sich das Konfliktpotenzial und private Territorien werden kaum genutzt. Ist jedoch ein stufenweiser Aufbau von Territorien strukturell umgesetzt, und der öffentliche Raum ist durch halböffentliche und halbprivate Bereiche von Privatflächen getrennt, sind Zäune überflüssig (rechts). (Oberzaucher, 2017a)

Unterschiedlichste Facetten menschlichen Verhaltens waren und sind Gegenstand humanethologischer Studien: Mimik und Gestik sind nicht nur in Kommunikationswissenschaften von Bedeutung, Erkenntnisse dazu können z. B. in der Schmerztherapie angewandt werden (Schmehl et al. 2016), Partnervermittlungsagenturen bedienen sich humanethologischer Daten (Grammer et al. 2009) und nicht wenige Technologieunternehmen brüsten sich mit der intuitiven und einfachen Bedienung ihrer Gerätschaften, die mittels rigoroser Usability Tests im Rahmen von Entwicklungsprozessen optimiert wurden (z. B. Mayer et al. 2013).

Die Anwendungsmöglichkeiten von Erkenntnissen der Verhaltenswissenschaften scheinen unbegrenzt. Doch die unterschiedlichen Disziplinen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihres theoretischen Zugangs, sondern auch in ihren Methoden, mit denen sie Daten zum Tun der Menschen erheben (siehe auch Box „Was ist Humanethologie“).

Um das menschliche Verhalten zu erfassen, wird oftmals auf Selbstauskunft mittels Befragung zurückgegriffen. Mit ihnen können komplexe Sachverhalte schnell und unkompliziert abgefragt und große Stichproben innerhalb kurzer Zeit generiert werden. Mit der Option, Fragebögen auch online zugänglich zu machen, eröffnen sich neue Möglichkeiten, unkompliziert – auch international und interkulturell – Daten zu erheben. Aus diesen Gründen könnte man folgern, dass, wo immer die Fragestellung dies zulässt, eine Befragung einer Beobachtung vorzuziehen wäre. Prämisse hierfür ist jedoch, dass beide Zugänge eine vergleichbare Qualität der Ergebnisse liefern. Bisher haben einige Studien die Ergebnisse von Beobachtung und Befragung verglichen. Sie legen nahe, dass Beobachtung und Befragung zu unterschiedlichen Ergebnissen und Interpretationen führen können: Beispielsweise beschreiben Jenner und Kolleg:innen bei einer Studie zur Handhygiene im Gesundheitssektor große Differenzen zwischen berichtetem und beobachtetem Verhalten (Jenner et al. 2006). Die Beobachtung zeigte, dass nur 12 % des befragten Krankenhauspersonals sich ihren vorherigen Angaben entsprechend verhielten. Generell tendierten die Teilnehmer:innen dazu anzugeben, sich häufiger die Hände zu waschen als sie es tatsächlich taten. Auch Corral-Verdugo berichtet, dass Menschen angeben, gewissenhafter zu recyceln und sich nachhaltiger zu verhalten, als sie es tun (Corral-Verdugo 1997). Rundle-Thiele befragte Menschen zu ihrem Alkoholkonsum und beobachtete in Folge ihr Verhalten an öffentlichen Plätzen und fand nur einen sehr geringen Zusammenhang zwischen angegebenem und tatsächlichem Alkoholkonsum (Rundle-Thiele 2009).

Diese Beispiele aus der Literatur legen nahe, dass eine alleinige Verwendung von Fragebögen zur Erhebung von Handeln und Tun von Menschen unter Umständen nicht zu einem wahrheitsgetreuen Abbild des tatsächlichen Verhaltens führen kann, insbesondere wenn es sich um Bereiche handelt, wo bestimmtes Verhalten sozial erwünscht ist. Ob Selbstbetrug oder Impression Management dafür verantwortlich ist, beides führt dazu, dass Angaben in Fragebögen und bei Umfragen verfälscht werden.

Doch auch in Bereichen, wo es keinen sozialen Druck gibt, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten, können Befragungen und Beobachtungen zu widersprüchlichen Ergebnissen gelangen, wie z. B. in unserer Studie zum Verhalten von Passagieren in der Straßenbahn.

In dieser Studie wurden an einer Straßenbahnstation Personen einerseits befragt (N = 120, 61 Frauen, 59 Männer, Durchschnittsalter 48 Jahre) und andererseits beim tatsächlichen Verhalten beobachtet (N = 200, 102 Frauen und 98 Männer). In einem kurzen Interview wurden wartende Personen befragt, wie lange (Minuten bzw. Anzahl der Stationen) sie die Reisezeit im Schienenfahrzeug lieber im Stehen verbringen, und ab welcher Distanz sie lieber einen Sitzplatz in Anspruch nehmen (Engelbogen 2019).

Die Verhaltensbeobachtungen wurden in zwei verschiedenen Straßenbahnlinien durchgeführt. An der Starthaltestelle und somit bei leeren Straßenbahngarnituren wurde von einer trainierten Beobachterin erhoben, wie viele Menschen einen der vorhandenen Sitzplätze in Anspruch nehmen und wie viele trotz vorhandenem Angebot stehen blieben. Bei allen Reisenden wurde im weiteren Verlauf die Ausstiegshaltestelle vermerkt, um die Fahrtlänge berechnen zu können. Menschen mit einer sichtbaren körperlichen Beeinträchtigung, schwerem Gepäck oder in Begleitung von Kindern und/oder Hunden wurden von der Datenerhebung ausgenommen, um etwaige Störvariablen zu minimieren. Auf diese Art und Weise wurde das Verhalten von 200 Personen (102 Frauen und 98 Männern) erhoben. Das Alter der Personen wurde geschätzt, um eine möglichst gleichmäßige Verteilung bei den Altersgruppen zu erlangen.

Bei der Befragung zu ihren Präferenzen, geben 34,2 % der befragten Personen an, sich sofort nach Betreten des Fahrzeugs unabhängig von der zurückzulegenden Strecke, einen Sitzplatz zu suchen (N = 120; MW = 4,8 Stationen; Std.Abw. = 9,34 Stationen). Die restlichen 79 Passagiere geben an, bis zu einer Reiselänge von durchschnittlich 7,3 Stationen lieber stehen zu bleiben (MW = 7,3 Stationen; Std.Abw = 10,7 Stationen). Die Verhaltensbeobachtung führte zu folgenden Ergebnissen: 96 % aller beobachteten Personen nahmen sofort einen der freien Sitzplätze in Anspruch (N = 200; MW = 0,07 Stationen; Std.Abw. = 0,38 Stationen) und das ungeachtet der tatsächlichen Reisedauer (MW = 5,38 Stationen; Std.Abw. = 2,6 Stationen). Von den verbliebenen 4 % der beobachteten Personen, welche keinen Sitzplatz einnahmen, stiegen 4 Personen nach einer, 2 Personen nach zwei und 2 Personen nach drei Stationen aus. Weder die Umfrage- noch die Beobachtungsdaten zeigen einen Unterschied zwischen Frauen und Männern (nBefragung = 120; tBefragung = 1,151; dfBefragung = 118; pBefragung = 0,252; nBeobachtung = 200; tBeobachtung = 0792; dfBeobachtung = 198; pBeobachtung = 0,429). Im direkten Vergleich der beiden Erhebungsmethoden zeigt sich ein Unterschied zwischen den Ergebnissen (N = 320; t = 7,137; df = 318; p < 0,001), also die angegebene Reisezeit im Stehen ist signifikant länger als die beobachtete (Abb. 2).

Abb. 2
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Anzahl der stehend zurückgelegten Stationen laut Beobachtung (links) und Befragung (rechts). In der Befragung geben Personen an, länger im Stehen zu reisen

Die Studie zu Verhaltenspräferenzen in Straßenbahnen findet massive Unterschiede zwischen der Befragung und dem gezeigten Verhalten. Da bei der vorliegenden Fragestellung soziale Erwünschtheit wohl kaum eine Rolle spielt – dass man in der Bahn stehen bleibt, obwohl es genügend Sitzplätze gibt, ist keinen impliziten sozialen Regeln unterworfen – ist der Grund für die falsche Einschätzung des eigenen Verhaltens vermutlich dem Unwissen der Menschen über ihr eigenes Tun geschuldet.

2 Menschen als Zeugen ihres eigenen Handelns

Wenn wir Menschen befragen, um Einblicke in ihr Verhalten zu gewinnen, ist die theoretische Grundvoraussetzung, dass die Befragten wahrheitsgemäß Auskunft über ihr Tun geben. In den meisten Fällen müssen wir aber davon ausgehen, dass die Selbstauskünfte einer gewissen „Verformung“ unterworfen sind – sie sind nicht selten ungenau oder gar falsch. Für diese „Verformung“ können unterschiedliche Ursachen verantwortlich sein:

Unehrlichkeit: Verbale Kommunikation unterliegt sehr stark der kognitiven Kontrolle, deshalb ist es auf dieser Kommunikationsebene möglich, unwahre Signale zu senden (Schmehl und Oberzaucher 2014). Das gezielte Lügen zur Irreführung der Befragenden ist aber wohl in den seltensten Fällen für die Falschangaben verantwortlich.

Soziale Erwünschtheit: Menschen treffen Aussagen, die ihnen dabei helfen sollen, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen bzw. diese zu stärken (Cialdini und Trost 1998). Soziale Normen helfen Individuen, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren und eine Position in der Gesellschaft zu finden. Sich also augenscheinlich nach den kulturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft zu orientieren, wirkt sich immer vorteilhaft auf die betreffende Person aus (Mick 1996). Der wohl bekannteste Verzerrungseffekt bei Selbstauskünften ist die daraus folgende Unterbewertung sozial weniger erwünschter bei gleichzeitiger Überbetonung sozial erwünschter Verhaltensweisen (Van den Mortel 2008; Brenner und DeLamater 2016). Menschen neigen dazu, Dinge zu verdrängen, die weniger geschätzt werden, und die eigenen Errungenschaften zu betonen. Diese Tendenz, erwünschte Antworten zu geben, kann sowohl in der direkten Befragung durch Interviews oder in Gesprächen aber auch in der indirekten Befragung via (online-)Fragebögen beobachtet werden. Während soziale Erwünschtheit auch ohne direkte Interaktion mit anderen eine Rolle spielt, wird dieser Effekt durch die Anwesenheit anderer verstärkt. Zahlreiche Versuchsleitereffekte sind beschrieben – etwa in Bezug auf Angaben zum Wahlverhalten (Bernstein et al. 2001), Ansichten zu Bewegung und Sport (Hadaway et al. 1998) und zu religiösen Gewohnheiten (Shephard 2003). Auch das Geschlecht der befragenden Person beeinflusst Antworten und das Verhalten – bis hin zur Physiologie. So zeigen zum Beispiel männliche Probanden eine höhere Schmerztoleranz, wenn die Versuchsleitung weiblich ist (Alabas et al. 2012).

Vorsätze: Gesellschaftliche Erwartungen und Normen geben einen generellen Rahmen zu erwünschtem Verhalten, aber auch auf individueller Ebene definieren Menschen, wie sie sich verhalten möchten. Wir haben eine bestimmte Vorstellung davon, wie wir unser Leben führen wollen, und wenn wir zu unseren Gewohnheiten befragt werden, neigen wir dazu, unsere Antworten eher gemäß unseren Vorsätzen zu geben, als unserem tatsächlichen Verhalten entsprechend (Bein et al. 2015).

Kognitive (In-)Kongruenz: Kognitive Kongruenz kann als Übereinstimmung des kognitiven Selbstbildes mit dem persönlichen Verhalten verstanden werden. Passt also unser Verhalten nicht zu unserem Selbstbild, wird die Erinnerung an das Verhalten so angepasst, dass es wieder zum Selbstkonzept passt. Dieser Mechanismus dient als Coping Strategie, um Unstimmigkeiten im Selbst zu minimieren (Bein et al 2015).

Ignoranz (Unwissenheit): Ein überwiegender Anteil unseres täglichen Verhaltens besteht nicht aus bewussten Handlungen, sondern wird vielmehr ohne bewusstes Reflektieren ausgeführt. Die Aktionen passieren sozusagen unter unserer Wahrnehmungsschwelle. Wenn wir nun aber in einer Befragung gebeten werden, über unsere Handlungen und deren Beweggründe Auskunft zu geben, geben wir Antworten, um zu kooperieren. Die Rückschau auf etwas, das quasi an unserem bewussten Denken vorbei passiert ist, muss zwangsläufig fehlerbehaftet sein, weil die Wissensgrundlage fehlt, um eine qualifizierte Aussage treffen zu können (Morsella und Poehlmann 2013).

Viele kleine tägliche Handgriffe und Handlungen haben sich durch das Muskelgedächtnis längst automatisiert und laufen ab, ohne dass man sich kognitiv aktiv damit auseinandersetzen muss. Wenn diese Tätigkeiten erfragt werden, bleibt den Proband:innen oftmals nichts anderes übrig als zu raten oder zu schätzen. Sie wissen es einfach nicht.

Diese Quellen von Ungenauigkeiten spielen immer dann eine Rolle, wenn Probanden gebeten werden, über ihr Verhalten, die Motivationen für ihr Verhalten oder ihr beabsichtigtes Verhalten zu berichten. Es gibt zwar Mittel, um die allgemeine Tendenz zu verzerrenden und falschen Antworten in Fragebögen zu beurteilen, diese dienen aber lediglich dazu, die Personen mit den ungenauesten Antworten zu identifizieren, und lösen nicht das grundlegende Problem.

3 Beobachten lernen, um Verhalten zu verstehen

Anstatt in Kauf zu nehmen, Forschungsergebnisse nur eingeschränkt als valide betrachten zu können, liegt es nahe, die Methode der Datenaufnahme zu adaptieren, also zu ändern bzw. zu ergänzen.

Die klassische Ethologie bietet hier eine Reihe an Möglichkeiten, welche sich auf den Menschen anwenden lassen. Da ihre Wurzeln in der Erforschung des Verhaltens von nichtmenschlichen Tieren liegen, war diese Disziplin von Anfang an gezwungen, andere methodische Zugänge als Befragungen zu entwickeln.

Welche Methode genau für eine verhaltensbiologische Studie geeignet ist, hängt in erster Linie von der Fragestellung ab. Für die Studienplanung muss als erstes entschieden werden, ob das zu untersuchende Verhalten in einem natürlichen Setting beobachtbar ist oder ob sich ein experimenteller Versuchsaufbau besser eignet, um die Forschungsfrage zu beantworten. Ersteres bietet den Vorteil größerer ökologischer Validität, während zweiteres eine bessere Kontrolle von Störvariablen ermöglicht. Aber auch in hoch kontrollierten Experimenten können Einflussvariablen nicht völlig konstant gehalten werden – der Zustand, in dem sich die Versuchspersonen befinden, wenn sie in das Experiment eintreten, variiert teilweise hochgradig, und kann nur schwer erfasst oder standardisiert werden.

Die Standardisierung von Experimenten erlaubt eine detaillierte Sicht auf Prozesse, während die ökologische Validität von Feldstudien die Generalisierbarkeit der Erkenntnisse verbessert. Deshalb ist eine Kombination von beiden Zugängen empfehlenswert.

Ob Experiment oder Beobachtungsstudie in natürlichem Setting, die Methode der Verhaltensbeobachtung erfordert eine rigorose Entwicklung. Für eine vertiefende Auseinandersetzung mit ethologischen Methoden empfiehlt sich das „Handbook of Ethological Methods“ (Lehner 1996).

Bei der Auswahl und Definition von Verhaltenskategorien spielen theoretische und praktische Überlegungen zusammen: Das Verhaltensrepertoire des Menschen ist sehr umfangreich. Deshalb ist es notwendig, jene Verhaltensweisen zu identifizieren, welche für die Forschungsfrage von Bedeutung sind. Dabei bezieht man sich üblicherweise auf andere Studien zum Forschungsthema. Dies birgt allerdings die Gefahr, dass forschungsrelevante Verhaltensweisen nicht berücksichtigt werden, weil bisherige Studien diese missachtet haben. Fischer (Fisher 2017) schlägt alternativ vor, mit einer Befragung zu starten und die gewonnenen Ergebnisse dann mittels Verhaltensbeobachtung zu validieren. Diese Herangehensweise inspiriert Forscher:innen zwar vielleicht mit neuen Ideen, sie laufen aber trotzdem weiterhin Gefahr, dass sich potenziell bedeutsame Verhaltensweisen – wie beispielsweise Automanipulation oder Social Grooming (Nelson und Geher 2007) – unserer Aufmerksamkeit entziehen, weil sie nicht reflektiert gesetzt werden.

Um derlei Biases zu minimieren, empfiehlt sich ein empirischer Zugang: Beginnt man mit einer sogenannten ad libitum Beobachtung, bei der objektiv und ohne funktionelle Interpretationen, detailliert alle Verhaltensweisen notiert werden, die auftreten, erhält man als Ergebnis einen ersten, breit gefächerten und dennoch auf das Studiensetting zugeschnittenen Auszug aus dem gesamten menschlichen Verhaltensinventar („Ethogramm“, siehe auch Eibl-Eibesfeldt 1967). Aus dieser unstrukturierten Beschreibung werden in weiterer Folge Verhaltenskategorien entwickelt, die eindeutig definiert und reliabel beobachtbar sind. Diese ersten Beobachtungen können auch gleichzeitig als frühe Vorstudie dienen, um das weitere Vorgehen besser planen zu können.

Hinde (1970) beschreibt zwei Gruppen von Verhaltenskategorien: nach morphologischen Gesichtspunkten definierte (z. B. lachen, zeigen, essen, etc.) oder nach Konsequenzen klassifizierte (z. B. annähern, flüchten, einen Turm bauen, etc.). Morphologische Verhaltenskategorien sind von Vorteil, da sie zunächst interpretationsfrei sind und so den methodischen Bias weiter reduzieren.

Bevor ein Verhaltenskatalog in einer Studie zum Einsatz kommt, muss sichergestellt werden, dass eine hinreichende Einigkeit über die Definition der Verhaltensweisen und eine hohe Reliabilität zwischen den Beobachter:innen herrscht. Sollte keine ausreichende Reliabilität gegeben sein, muss der Verhaltenskatalog in einem iterativen Prozess überarbeitet werden, indem die Verhaltensweisen weiter verfeinert und immer eindeutiger definiert werden. Die Messung der Reliabilität ist nicht nur ein Instrument für die Methodenentwicklung, sondern ist als Angabe der Messgenauigkeit auch unverzichtbares Mittel zur Einschätzung der Aussagekraft einer Studie.

Im Bestreben, das Geschehen möglichst objektiv zu beschreiben, werden metrische Methoden entwickelt, die interpretationsfrei Datengrundlagen schaffen. Durch die Erfassung von räumlicher Nähe können beispielsweise Rückschlüsse auf soziale Beziehungen gezogen werden (Gelardi et al. 2020; Ogolsky et al. 2021). Das Berner System zerlegt Körperhaltungen in Einzelwinkel und bietet somit die Möglichkeit diese objektiv darzustellen (Frey et al. 1981). Die wohl bekannteste Methode, um Verhalten wertfrei und metrisch zu beschreiben, ist das Facial Action Coding System (FACS), das Gesichtsausdrücke nicht mit emotionalen Interpretationen beschreibt, sondern die Veränderungen im Ausdruck auf Kontraktionen der verantwortlichen Muskeln und Muskelgruppen (Action Units) festhält (Hjortsjö 1969; Ekman und Friesen 1978). All diese Methoden haben den großen Vorteil der Interpretationsfreiheit, allerdings ist der Aufwand teilweise beträchtlich, wenngleich heutzutage große Erleichterungen durch Digitalisierung und automatische Bilderkennung zur Unterstützung vorhanden sind.

Neben der Definition der zu beobachtenden Kategorien ist auch die spezifische Vorgangsweise bei der Datenerhebung entscheidend für die zuletzt erreichte Datengüte: Man unterscheidet hier zwischen Sampling Rules und Recording Rules: Sampling Rules entscheiden, WER WANN beobachtet wird. Man unterscheidet hier zwischen ad libitum Sampling, Focal Sampling, Scan Sampling und Behavior Sampling. Wie oben schon beschrieben, handelt es sich bei der ad libitum Beobachtung um eine wertfreie Beschreibung des Geschehens, bei der ohne jegliche Interpretation notiert wird, was beobachtet werden kann. Focal Sampling beschreibt die Aufzeichnung des Verhaltens eines bestimmten Individuums (oder einer Dyade oder sonstigen Beobachtungseinheit) für eine bestimmte Zeitspanne. In dieser vorher genau definierten Zeitspanne werden alle auftretenden Aktionen des Individuums in ihrer Abfolge notiert. Man erhält hierbei nicht nur einen genauen Einblick in das spezielle Verhalten von Individuen, sondern auch über die zeitliche Abfolge und potenziellen Abhängigkeiten der einzelnen Aktionen. Beim Scan Sampling wird alles gerade sichtbare Verhalten unabhängig von den Akteuren in regulären Zeitabständen erfasst. Beobachtet man also etwa eine Schulklasse, wird zum Zeitpunkt X genau notiert, welche Verhaltensweisen von den einzelnen Schüler:innen gezeigt werden, ohne diese in einen Kontext zu setzen und ohne Handlungen, die direkt davor oder danach passieren, zu berücksichtigen. Diese Methode kann besonders geeignet sein, um die einzelnen Mitglieder einer Gruppe und deren Handlungen miteinander in Relation zu setzen. Beim Behavior Sampling wird jedes Auftreten eines bestimmten Verhaltens in der gesamten beobachteten Gruppe aufgenommen, unabhängig davon, welche Einzelperson dieses Verhalten aufweist.

Die Recording Rules entscheiden darüber, WIE das Verhalten aufgenommen wird. Man unterscheidet hier zwischen Continous Recording und Time Sampling. Beim Continuous Recording wird das zu untersuchende Verhalten über einen vorher definierten Zeitraum aufgenommen. Um die Datenerhebung zu vereinfachen, bedient man sich hier oft digitaler Hilfsmittel oder arbeitet mit Videoaufnahmen. Zusätzlich zu den auftretenden Verhaltensweisen werden somit auch Informationen über die Dauer und zeitliche Abfolge unterschiedlicher Ereignisse gewonnen. Dies ist jene Methode, welche den umfassendsten Blick auf das Geschehen wirft. Continuous Recording ist sehr trainingsintensiv und zeitaufwändig, zudem wird oftmals zusätzliches Equipment benötigt, und es kann jeweils nur ein Individuum beobachtet werden. Das Verhalten von Gruppen kann nur durch wiederholtes Beobachten derselben Sequenz erfasst werden, sofern Videomaterial vorliegt.

Etwas einfacher durchzuführen sind die unter Time Sampling geführten Methoden: One-Zero Sampling ist eine 1/0-Aufnahme einer bestimmten Verhaltensweise, das heißt, man notiert jedes Mal, wenn dieses bestimmte Verhalten gezeigt wird. Dies lässt Rückschlüsse auf die reine Häufigkeit eines Verhaltens zu, liefert allerdings keinerlei Informationen zu Abläufen und Kontext. Eine Zwischenstufe zu den zuvor erläuterten Methoden bietet das sogenannte Instantaneous Sampling: hier werden zu genau definierten Zeitpunkten, beispielsweise am Ende eines wiederkehrenden Zeitintervalls – also z. B. alle 30 s, alle vorkommenden Verhaltensweisen an einem Platz oder in einer Gruppe notiert. Dies schafft die Möglichkeit, auftretendes Verhalten in Relation zueinander zu setzen (Abb. 3) (Martin und Bateson 1993).

Abb. 3
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Schritte einer Verhaltensbeobachtungsstudie

Die Entwicklung des Methodensatzes für eine ethologische Studie erfordert eine gründliche Validierung und Abstimmung auf die Fragestellung. Gelingt dies, ist die Grundlage für die Verhaltensstudie geschaffen.

4 Der Weg zu aussagekräftigen Daten

Unabhängig von der gewählten Methode gibt es eine Vielzahl an Techniken, um Verhalten zu erfassen. Besonders digitale Technologien, die bei der Dokumentation von Verhalten unterstützen, eröffnen neue Möglichkeiten. Mithilfe von speziellen Apps auf Mobiltelefonen, Programmen auf hand-held-Computern oder mittels digitaler Ton- und Bildaufnahmen gelingt die Verhaltensbeobachtung deutlich subtiler und weniger invasiv als mit Stift, Papier und Klemmbrettern oder großen Kameras. Um mögliche Beobachtereffekte zu reduzieren, verwendeten u. a. Rudolf Pöch und später Irenäus Eibl-Eibesfeldt ein 90°-Objektiv für ihre Videoaufnahmen, mit dessen Hilfe sie Personen filmen konnten, ohne dass diese sich dessen bewusst waren. Aus wissenschaftsethischer Sicht ist dieser Zugang mehr als fraglich, da Videodokumentationen nur unter informiertem Einverständnis der Beteiligten erfolgen dürfen. Audio- und Videoaufnahmen stellen die Forschenden immer vor das Problem, dass informiertes Einverständnis potenziell das Verhalten der Menschen verändert. Dieses als „Hawthorne Effekt“ bezeichnete Phänomen, also dass sich das Verhalten von Menschen allein dadurch verändert, dass sie wissen, dass sie an einer Studie teilnehmen, wird in der Praxis dadurch umgangen, dass das informierte Einverständnis erst nachträglich eingeholt wird, und sofern dieses nicht erteilt wird, die Aufzeichnungen sofort zerstört werden. Zum Schutz der Personenrechte ist eine direkte Verhaltensbeobachtung der Videoanalyse immer dann vorzuziehen, wenn es die Forschungsfrage zulässt.

Unabhängig davon, ob live beobachtet wird oder Videoaufzeichnungen herangezogen werden, ist zur Qualitätssicherung eine regelmäßige Reliabilitätsüberprüfung unumgänglich. Besonders wichtig wird diese, wenn Daten von mehreren Personen erhoben werden (Inter-Rater-Reliability). Aber auch wenn nur eine/ein Beobachter:in die Datenerhebung durchführt, dient die Reliabilitätsüberprüfung dazu, die Messgenauigkeit festzustellen (Intra-Rater-Reliability). Klassischerweise wird die Reliabilität nach einer kurzen Trainingsphase zu Beginn der Datenerhebung und erneut gegen Ende dieser ermittelt. Sie kann durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden: Einerseits spielen Training und Erfahrung eine Rolle, aber auch die Dauer der Datenerhebung und die damit einhergehende Müdigkeit des/der Beobachter:in. Die Häufigkeit, mit der eine Verhaltensweise auftritt, kann ebenfalls einen Einfluss auf die Reliabilität haben. Wenn beispielsweise ein Verhalten in kurzer Zeit sehr häufig auftritt, kann es möglicherweise schwierig sein, dieses verlässlich zu dokumentieren. Aber auch ein sehr umfangreicher Verhaltenskatalog kann der Grund für eine nicht zufriedenstellende Reliabilität sein. In jedem Fall ist die Reliabilität als Größe der Messunschärfe unverzichtbare Voraussetzung für die Interpretation von Ergebnissen – je ungünstiger das Verhältnis von Messgenauigkeit zu Effektgröße, desto mehr Vorsicht ist bei der Interpretation geboten.

Nicht nur aus pragmagischen Gründen, sondern auch um die Datengüte sicherzustellen, ist es also notwendig, den Verhaltenskatalog bestmöglich auf die Fragestellung abzustimmen.

Die Erfordernisse für eine Verhaltensbeobachtung sind also umfangreich, wenn die Daten aussagekräftig sein sollen. Die Entwicklung des Ethogramms (Verhaltenskatalog), der Beobachtungsmethodik und des Versuchsaufbaus sollten rigoros durchgeführt werden. Trainierte Beobachter:innen sind ebenso erforderlich wie eine angemessene Auswahl und Anzahl an Versuchspersonen. Feldstudien erfordern in der Regel größere Datensätze, da Umgebungsparameter und mögliche Einflussfaktoren schlechter kontrolliert und dokumentiert werden können.

Wiewohl die Voraussetzungen für Verhaltensbeobachtungen umfangreich sind, erlaubt dieser Zugang Einblicke in das Tun, die durch reine Befragungen nicht gewonnen werden können. Die konstruktive Kombination unterschiedlicher Methoden erlaubt es, die gewonnenen Erkenntnisse zu validieren und zu robusten Ergebnissen zu gelangen. Eines der bekanntesten Beispiele in diesem Zusammenhang ist die Studie zu den „Arbeitslosen von Marienthal“ (Jahoda et al. 1933). Sie gilt als Meilenstein in der Entwicklung der empirischen Sozialforschung und als Musterbeispiel der Theoriebildung durch die Anwendung der Kombination von quantitativen, qualitativen, bereits existierender und neu erhobener Daten. Die Marienthal-Studie erforschte die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit in dem Ort Marienthal nachdem 1929 jene Fabrik schloss, welche der Anlass für Gründung der Gemeinde war. Im Weiteren entwickelte sich in Marienthal während der Weltwirtschaftskriese 1931 anwachsende Arbeitslosigkeit und Verelendung. Das Besondere an dieser Untersuchung war nicht nur das Ergebnis, dass Langzeitarbeitslosigkeit weniger zur Revolte als zu Vereinsamung und Resignation führte, sondern auch die Etablierung der Anwendung von Triangulation (z. B. Daten-, Methoden-, Theorientriangulation) zur Erfassung und Abbildung von realem menschlichen Verhalten.

5 Fazit

Zusammenfassend kann nun gesagt werden, dass es gezwungenermaßen zu Ungenauigkeiten kommt, nähert man sich dem menschlichen Verhalten mit nur einer Methode an. Ein Mix aus verschiedenen methodischen Zugängen ist hier unumgänglich um reliable, reproduzierbare und belastbare Aussagen zum Verhalten treffen zu können. Die Verhaltensbiologie und im Speziellen die Humanbiologie bieten hier eine Vielzahl an Möglichkeiten um den proximaten als auch den ultimaten Ursachen des menschlichen Verhaltens auf den Grund zu gehen.

Befragungen werden oft aufgrund ihrer relativen Leichtigkeit bevorzugt, können jedoch möglicherweise weniger zuverlässige Ergebnisse liefern. Beobachtungsstudien sind aufwendig und erfordern ein hohes Maß an Expertise, um zuverlässige Daten zu erzielen. Das Kapitel stellt verschiedene Methoden vor und diskutiert ihre Vor- und Nachteile. Anhand eines Fallbeispiels wird gezeigt, wie Fragebogenstudien und Beobachtungsstudien verwendet werden können, um Vorhersagen über tatsächliches Verhalten zu treffen. Trotz des Aufwands sind strukturierte Verhaltensbeobachtungen von entscheidender Bedeutung für das Verständnis menschlichen Verhaltens.

Die Humanethologie kann für die Erforschung und das Verständnis menschlichen Verhaltens äußerst wertvoll sein, da sie sich mit der Untersuchung des Verhaltens von Menschen im Kontext ihrer natürlichen Umgebung befasst und versucht, Verhaltensmuster und -funktionen zu analysieren. Der Fokus der Humanethologie wird auf die Beobachtung und Analyse des Verhaltens von Menschen in natürlichen Umgebungen gelegt. Durch Kenntnisse über verschiedene Verhaltensweisen, ihre Bedeutung und mögliche Auslöser ist es möglich, detaillierte Beobachtungen durchzuführen und spezielle Verhaltensmuster zu identifizieren. In der Humanethologie wird das menschliche Verhalten in seinem natürlichen Kontext beobachtet. Soziale, kulturelle und Umweltfaktoren, die das Verhalten beeinflussen können werden berücksichtigt und durch diese kontextuelle Betrachtung kann ein umfassenderes Verständnis des Verhaltens und seiner Motivationen gewonnen werden. Es wird eine evolutionäre Perspektive genutzt, um menschliches Verhalten zu analysieren. Es wird untersucht, wie bestimmte Verhaltensweisen zur Anpassung an die Umwelt beitragen und wie sie sich im Laufe der Evolution entwickelt haben. Dieser Ansatz kann wichtige Einblicke in die Ursprünge und die Funktionalität des menschlichen Verhaltens liefern und auf verschiedene praktische Bereiche angewandt werden. Sie kann auch dazu beitragen, Probleme wie Diskriminierung und Vorurteile zu bekämpfen, indem sie unser Verständnis für die biologischen und kulturellen Grundlagen menschlichen Verhaltens erweitert.

Was ist Humanethologie?

Die Humanethologie als Zweig der Verhaltensbiologie beschäftig sich mit der Erforschung menschlicher Verhaltensweisen vor dem Hintergrund, dass jedes Lebewesen durch seine Evolutionsgeschichte geformt wurde. Die Humanethologie ist interdisziplinär und umfasst Aspekte der Anthropologie, Biologie, Psychologie und Soziologie (s. Eggert, F. und Holzhauser, N. in diesem Band).

In der Humanethologie kommt eine Vielzahl von Methoden zum Einsatz, darunter die Beobachtung von Verhalten in natürlichen Umgebungen, die Durchführung von Experimenten und die Analyse historischer Aufzeichnungen.

Populär wurde die Humanethologie unter anderem durch Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Er beschäftigte sich z. B. mit der menschlichen Kommunikation in unterschiedlichen Kulturen und untersuchte die Mechanismen von Gruppenbildung und Aggressionskontrolle (Eibl-Eibesfeldt 1967). Im Laufe der 1960er-Jahre begann Eibl-Eibesfeldt mit dem Aufbau eines kulturenvergleichenden Film- und Ton-Dokumentationsarchives zu den Universalien des menschlichen Verhaltens (Humanethologisches Filmarchiv der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung),Footnote 1 welches damals wie heute für kulturvergleichende Studien des menschlichen Verhaltens dient.

War der Ansatz von Eibl-Eibesfeldt stark von der Suche nach Universalien (Verhalten, dass von allen Menschen gezeigt wird) geprägt, ist in der modernen Humanethologie der Fokus mehr auf die Wechselwirkung von sozio-ökologischen Rahmenbedingungen auf die Ausprägung unterschiedlicher Verhaltensoptionen gerückt.

Jane Goodall, Primatenforscherin, führte bahnbrechende Studien über das Verhalten von Schimpansen vor allem in Feldarbeit durch. Ihre Arbeit hat dazu beigetragen, unser Verständnis für die Verhaltensweisen von Primaten zu vertiefen und liefert Grundlagen für die evolutionäre Einordnung des menschlichen Verhaltens (Lawick-Goodall van 1971).

Richard Dawkins sorgte mit seinem Buch „Das egoistische Gen“ für die Etablierung von evolutionsbiologischen Metatheorien, wie z. B. der Verwandtenselektion (Dawkins 1976; Hamilton 1964). Sarah Blaffer Hrdy, Anthropologin, erforschte elterliches Investment und Sozialbeziehungen bei Menschen und anderen Primaten (Hrdy 1999). William C. Charlesworth setzte sich vor allem mit der ontogenetischer Entwicklung von Verhalten auseinander, mit dem Fokus auf Kooperation und sozialer Kompetenz (Charlesworth 1973).

Laut dem Ethologen und Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen lassen sich für jede Verhaltensweise proximate – also unmittelbare – und ultimate (grundlegende, in der Stammesgeschichte verankerte) Ursachen feststellen (Tinbergen 1963). Er ergänzte Julian Huxleys bereits bekannte drei Fragen (Huxley 1942) um eine weitere, nämlich die Frage nach der Phylogenese zu den „Four Whys“ oder den „vier Grundfragen der biologischen Forschung“:

  1. 1.

    Frage nach Mechanismus und Form des Auftretens: Wie funktioniert Verhalten (auf chemisch-physiologischer, neurologischer, psychischer und sozialer Ebene)?

  2. 2.

    Frage nach den Ursachen in der Ontogenese: Wie entwickelt sich Verhalten im Laufe der Individualentwicklung?

  3. 3.

    Frage nach der biologischen Funktion: Wozu sind die Verhaltensweisen dem einzelnen Individuum nützlich (Anpassungswert)?

  4. 4.

    Frage nach der Stammesgeschichte: Welche Mechanismen haben dazu geführt, dass sich ein Verhalten im Laufe der Stammesgeschichte (Phyologenese) entwickelt hat?

Tinbergen ging davon aus, dass Verhalten nur multikausal und niemals monokausal erklärbar ist. So bezieht die moderne Humanethologie sowohl die Ethologie als auch die Soziobiologie und beispielsweise die Lerntheorie mit ein.

Zu den zentrale Forschungsthemen der Humanethologie gehören die Anpassung des Menschen an die moderne Umwelt, Sozialbeziehungen und Reproduktionsentscheidungen. Die Stadtethologie beispielsweise beschäftigt sich mit der Frage, wie sich der Mensch mit seinen angeborenen Dispositionen in der modernen – evolutionär gesehen neuen – physischen und sozialen Umwelt verhält und wie deren Gestaltung das menschliche Wohlbefinden und Verhalten unterstützt. Projekte zur Wohnzufriedenheit und Studien zum Verhalten auf öffentlichen Plätzen, Wirkung von Wasser und Pflanzengrün auf das Wohlbefinden, die Rolle der öffentlichen Verkehrsmittel und die Klärung von offenen Fragen zu nachhaltigerem Verhalten zählen zu den Aufgaben der Stadtethologie (Oberzaucher, 2017b).