5.1 Organisation und Rahmenbedingungen

5.1.1 Kieler Forschungswerkstatt

Die Kieler Forschungswerkstatt ist eine gemeinsame Einrichtung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN). Ihre Angebote richten sich u. a. an Schulklassen, interessierte Schüler*innen und Lehrkräfte. Neben Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte werden auch kostenlose Programmtage und Workshops angeboten. In den derzeit insgesamt 13 Themenlaboren erhalten Kinder und Jugendliche Einblicke in verschiedene natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Themen und Arbeitsweisen. Zumeist nehmen Jugendliche an Tagesprogrammen teil, an denen Forschende und/ oder abgeordnete Lehrkräfte gemeinsam mit Studierenden themenspezifische didaktische Formate durchführen. Seit Herbst 2019 hat die Forschungswerkstatt außerdem den Status eines Schülerforschungszentrums inne, in dem interessierte Jugendliche nachmittags oder in der Ferienzeit eigene wissenschaftliche Projekte durchführen und thematische Angebote verschiedener Labore bearbeiten können. Außerdem werden Lehramtsstudierende in das Lehr-Lern-Labor eingebunden, indem sie an Lernstationen Lehrerfahrung sammeln, eigene Stationen entwickeln oder diese mit wissenschaftlichen Methoden evaluieren.

In der seit 2012 bestehenden Einrichtung bilden Programme aus dem MINT-Bereich einen wichtigen inhaltlichen Schwerpunkt. In diesen Angeboten nehmen Lernende regelmäßig die Rolle von Forschenden ein, die selbst experimentieren, Ergebnisse auswerten und Gegenstände multiperspektivisch, kritisch und ggf. interdisziplinär betrachten. In den vergangenen Jahren erfolgte zudem die Integration verschiedener Angebote aus Geistes- und Gesellschaftswissenschaften in die Forschungswerkstatt. Auch in diesen Fachdisziplinen wird häufig der Ansatz des forschenden bzw. entdeckenden Lernens verfolgt. Lernen findet in diesem Zusammenhang in handlungsorientierten und experimentellen Lernsituationen statt. Meist erfolgt die Realisierung der Programmtage nach derselben Struktur: Zunächst werden die Schulklassen in einem Einführungsvortrag organisatorisch und inhaltlich auf die Abläufe eines Programms vorbereitet. Manchmal wird im einführenden Vortrag auch bereits eine einführende Aktivität, etwa ein kurzes Experiment, realisiert. danach werden per Stationenarbeit verschiedene Aspekte eines Gegenstands erarbeitet, ehe eine Schlusspräsentation Anlass zur Zusammenfassung und Reflexion der Inhalte des Tages bietet. Die erste und die letzte Phase finden mit der gesamten Lerngruppe statt, während die einzelnen Lernstationen mit Kleingruppen durchführt werden. Die zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten sind für dieses Muster insofern geeignet, als dass kleine Räume mit flexiblem Mobiliar gerade für Gruppenarbeiten und -projekte eine produktive Lernatmosphäre erzeugen. Räumlichkeiten, in denen 20- bis 30-köpfige Lerngruppen für längere Zeit gemeinsam arbeiten können, stehen nicht zur Verfügung.

Die Kieler Forschungswerkstatt hat seit ihrer Gründung im Oktober 2012 über 18.000 Lernende im Rahmen von Programmtagen mit Schulklassen betreut (Kieler Forschungswerkstatt, 2023). Dabei haben zwischen 2012 und 2018 die Zahlen der betreuten Schulklassen stetig zugenommen und steigen seit 2020, dem ersten Jahr der COVID-19-Pandemie, ebenfalls wieder an (ebd.). Die meisten Besuchsklassen kommen aus Kiel oder anderen Schleswig-Holsteiner Landkreisen. Insofern stellt die Forschungswerkstatt eine Bildungseinrichtung mit regionaler, teils überregionaler Bedeutung dar.

5.1.2 Demokratie:werk

Das demokratie:werk ist ein gesellschaftswissenschaftliches Lehr-Lern-Labor an der Kieler Forschungswerkstatt. Es wird mit Geldern des Landesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein gefördert und wurde am 07.02.2020 in Anwesenheit der Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein eröffnet (vgl. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 2020a). Die Laborangebote werden an der Kieler Forschungswerkstatt durch eine abgeordnete Lehrkraft, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter sowie Lehramtsstudierende des Fachs Wirtschaft/Politik durchgeführt. Die Programme finden meist in den Räumlichkeiten der Kieler Forschungswerkstatt statt. In Ausnahmefällen können Module auch an teilnehmenden Schulen durchgeführt werden.Footnote 1

Im Rahmen des demokratie:werks wurden bis zur Veröffentlichung dieser Arbeit zwei Programmtage erarbeitet, die von Schulklassen gebucht und absolviert werden können. Das Programm Herausforderung Klimawandel – wie handeln wir in der Demokratie? stellt einen der genannten Programmtage dar und befasst sich insbesondere mit politischer Partizipation auf verschiedenen demokratischen Ebenen. Das zweite Programm mit dem Titel Wie wir leben wollen befasst sich mit Funktionen und Genese politischer Utopien. Beide Programme setzen sich aus einer dreigliedrigen Stationenarbeit in Kleingruppen sowie einen gemeinsamen Einstieg und einem gemeinsamen Abschluss des Tags zusammen.

Darüber hinaus wurden im Rahmen des demokratie:werks drei weitere Module erarbeitet, die sich an bestehende Programme anderer Themenlabore anschließen. Mit der Erarbeitung dieser Module, an denen auch der Autor dieser Arbeit beteiligt war, sollte zum einen eine inhaltliche Vernetzung mit anderen natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Angeboten und zum anderen eine Professionalisierung und Erprobung von Arbeitsverfahren und -methoden erfolgen. Die Durchführung dieser Module, die in der Folge kurz beschrieben werden, begann chronologisch vor den Durchführungen des in dieser Arbeit vertiefend dargestellten Tagesprogramms. Die Erfahrungswerte in der Konzeption und Erprobung dieser Elemente flossen in die Entwicklung des vorliegenden Tagesprogramms mit ein.

Das erste Modul, das vom demokratie:werk angeboten wurde, entstand im Rahmen einer Masterarbeit und befasst sich mit politisch-ökonomischen Implikationen des landwirtschaftlichen Anbaus von Ölpalmen auf der fiktiven Insel Palmeo (vgl. Horstmann et al., 2022). In einem Entscheidungsspiel handeln Lernende zunächst als Leitung von landwirtschaftlichen Familienunternehmen, die für den Anbau neuer Ölpalmen in jedem Zeitabschnitt die Wahl zwischen der Rodung von fruchtbaren Regenwaldgebieten und der Bepflanzung bislang nicht landwirtschaftlich genutzter weniger fruchtbaren Landes wählen können. Die Ausgestaltung in einem ökonomischen Wettstreit, der sich am spieltheoretischen Modell des Gefangenendilemmas orientiert, führt zwangsläufig zu einer Art Scheitern – entweder dem unternehmerischen Bankrott mindestens einer Partei oder zum Verlust ökologisch wertvollen Regenwaldgebiets. Um dieses Scheitern zu überwinden, erarbeiten Lernende in der Folge verschiedene ordnungspolitische Lösungen, um Palmeos wirtschaftlichen Wettstreit mit dem Erhalt seiner Regenwaldgebiete mit hohem ökologischem Wert in Einklang zu bringen.

Das zweite Modul schließt an ein Programm zum Thema ‚Plastikmüll im Ozean‘ an. Es befasst sich mit Möglichkeiten politischer Partizipation zur Verringerung der Menge von Kunststoffabfällen in den Meeren. Lernende skizzieren mögliche gesetzliche Maßnahmen zur Reduktion dieser Abfälle und simulieren in Kleingruppen die Gründung einer europäischen Bürgerinitiative, die das Ziel der Verabschiedung dieser legislativen Maßnahmen verfolgen. Dabei treten verschiedene Bürgerinitiative in einen Wettbewerb um Förderung durch Umweltverbände. In der Folge werden Auswirkungen verschiedener Gesetze sowie deren mutmaßliche Realisierbarkeit reflektiert, um Ablauf und Gegebenheiten des Verfahrens einer europäischen Bürgerinitiative zu ergründen kritisch zu bewerten.

Im dritten Modul diskutieren Lernende innerhalb eines Programms zum Thema ‚Bodennutzung‘ in einer fiktiven Gemeinderatssitzung über die Auswirkungen starker Düngung landwirtschaftlicher Ackerflächen. Anlass für die Diskussion bildet die Eutrophierung des lokalen Badesees, der zu stark durch Phosphate und Nitrate belastet worden ist. Verschiedene Parteien tragen ökonomische, ökologische und soziale Argumente vor. Dabei soll am Ende des Entscheidungsspiels durch Mehrheitsbeschluss ein Kompromiss zwischen den beteiligten Interessengruppen erreicht werden. Auf diese Weise sollen Urteilskompetenz und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme geschult werden.

Ähnlich wie in den genannten natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Programmen wird auch in der Stationsarbeit des vorgestellten Programmtags im demokratie:werk der gleiche Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Hierbei handelt es sich um den Gegenstand politisch-demokratischer Maßnahmen gegen den Klimawandel, der auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen behandelt wird (Abschnitt 5.2). Der Einführungsvortrag beinhaltet eine Aktivität, deren Ergebnisse später in der Auswertung wieder aufgegriffen werden. In der abschließenden Präsentations- und Reflexionsphase wird erneut auf die Einführungsphase und die Arbeitsphasen Bezug genommen, um den Lerngehalt des Programmtags gemeinsam zu erarbeiten. Die Konzeption und Organisation dieses gesellschaftswissenschaftlichen Angebots orientiert sich somit an Konventionen, die in naturwissenschaftlichen Tagesangeboten etabliert sind. Im Gegensatz dazu orientieren sich die didaktisch-methodischen Entscheidungen, die in der Konzeption des Bildungsprogramms getroffen wurden, an den Konventionen politischer und demokratischer Bildung (Kapitel 3).

5.2 Bildungsprogramm: Herausforderung Klimawandel – wie handeln wir in der Demokratie?

In den folgenden Unterkapiteln wird auf die grundsätzliche Ausrichtung des vorgestellten Programms eingegangen. Während zunächst der Ansatz eines politischen Schülerlaborprogramms dargelegt wird, der in der Konzeption dieser Arbeit entwickelt wurde, betrachtet das zweite Unterkapitel die politikdidaktische Herangehensweise an das Bildungsanliegen der Demokratievermittlung. Während die Konzeption eines politischen Schülerlaborprogramms also den Rahmen des Programms bestimmt, gliedert der demokratievernetzte Ansatz den Inhalt desselben.

5.2.1 Der menschengemachte Klimawandel und seine Konsequenzen

Der Klimawandel wirkt sich auf verschiedene Weisen verheerend auf das Leben von Mensch und Natur aus. Zu den Folgen zählen vermehrte Hitzewellen und Dürren, die bereits in der Gegenwart zu Wasserknappheit, Waldbrände und Ernteausfälle führen (vgl. Scheffran, 2017: 288; IPCC 2022: 45–70). Der Schaden dieser Entwicklungen betrifft folglich den Menschen und seinen Lebensraum bereits jetzt mittelbar und unmittelbar. In der Wissenschaft wird von häufigeren und intensiverem Auftreten dieser Phänomene ausgegangen.

Gleichzeitig resultieren aus den veränderten klimatischen Bedingungen auf der Erde allerdings auch stärkere Regenfälle, Sturmfluten sowie Wirbelstürme (vgl. Scheffran, 2017: 288). Auch diese Phänomene bewirken bedeutende wirtschaftliche Schäden auf dem Planeten und treten „als Folge des Klimawandels“ häufiger und intensiver auf als in der vorindustriellen Zeit (ebd.).

Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), in Deutschland gemeinhin auch als ‚Weltklimarat‘ bezeichnet, stellt eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür fest, dass der menschengemachte Klimawandel durch eine höhere globale Durchschnittstemperatur insgesamt zu einem Ansteigen des Meeresspiegels führt (vgl. IPCC, 2012: 9). Dieser steigende Meeresspiegel führe demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vermehrten Schäden durch Überflutungen, die vor allem in Gewässernähe auftreten (vgl. ebd.). Treiber der Erhöhungen des weltweiten Meeresspiegels ist insbesondere das Abschmelzen der Eisschilde an den Polkappen sowie der Gebirgsgletscher. Neben wahrscheinlichen Auswirkungen auf den Lebensraum des Menschen bewirkt das Schmelzen dieser Eismassen außerdem bedeutende Veränderungen der Gewässer als Lebensräume.

Die Gesamtheit dieser negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die Umwelt in Kombination mit schon bestehenden (nicht-ökologischen) Missständen in bestimmten Gebieten der Erde wird laut Ansicht vieler Forschenden dazu führen, dass weltweit viele Millionen Menschen gezwungen sein werden, ihre Heimat zu verlassen. Schätzungen, die versuchen sich dem quantitativen Ausmaß dieser ‚Klima-Migration‘ zu nähern, weisen große Differenzen auf. Sie reichen von ca. 50 Millionen Menschen, die zukünftig durch klimabedingte Stresssituationen zur Flucht gezwungen werden könnten, bis hin zu ca. 1 Milliarde Menschen (vgl. Scheffran, 2017: 291). Zu welchen globalen Konsequenzen solche gigantischen Fluchtbewegungen führen könnten, ist vollkommen unklar. Eine Vielzahl von Menschen wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ihre Heimat verlieren. Etliche betroffene Staaten verfügen nicht über die notwendigen Möglichkeiten, um hinreichend auf die beschriebenen Entwicklungen zu reagieren. In anderen Fällen wird es voraussichtlich unmöglich sein, Lebensräume zu bewahren. Doch auch für Staaten, die weniger stark von der Zuspitzung von Lebensbedingungen betroffen sind, werden die Folgen durch notwendige Migrationsbewegungen massiv sein. Schon jetzt haben einige Regionen der Erde aufgrund klimatischer Veränderungen stark an Lebensqualität eingebüßt. Der IPCC geht davon aus, dass weltweit seit 2008 jährlich über 20 Millionen Menschen aufgrund von Extremwettereignissen ihre Heimat verlassen mussten (2022: 52).

Hinzu kommt, dass Entwicklungsländer in Küstenlage häufig von den beschriebenen negativen Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind. Direkte und indirekte Kosten (z. B. durch Anpassung an neue Gegebenheiten) dieses Prozesses für die Volkswirtschaften einiger Staaten können mehrere Prozentpunkte ihrer Bruttoinlandsprodukte betragen (IPCC, 2022). Diese Tatsache hat nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und ethische Implikationen. Denn Industrieländer waren, anders als gering industrialisierte Staaten des globalen Südens, in der Geschichte die Treiber der Erderwärmung und haben gewissermaßen einen Schuldenstand aufgebaut, der nun in überproportionaler Weise von Entwicklungsländern gezahlt werden muss (vgl. IPCC, 2022: 54). Auf die Gerechtigkeitsaspekte in der Klimadiskussion wurde in den letzten Jahren vermehrt von Ländern des globalen Südens hingewiesen (vgl. Esswein/ Zernack, 2020).Footnote 2 Während die Forderung nach ‚Klimagerechtigkeit‘ auf vielen Demonstrationen präsent ist, zeigt sich indes, dass die inhaltlichen Forderungen stark vom jeweils vertretenen (Klima-) Gerechtigkeitsbegriff abhängen (Kurwan, 2023). Viele Stimmen zielen insbesondere auf die historische Verantwortung industrialisierter Staaten des globalen Nordens in der Bewältigung der Folgen des Klimawandels ab.

Eine weitere thematisierte negative Folge des Klimawandels ist das potenzielle Aussterben vieler Tier- und Pflanzenarten aufgrund sich verändernder Lebensbedingungen des Planeten, das mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits begonnen hat (vgl. IPCC, 2022: 45). Die hohe Dynamik der klimatischen Beeinträchtigung des Lebens in vielen Ökosystemen macht es Tier- und Pflanzenwelt unmöglich, sich mit hinreichender Geschwindigkeit an sich verändernde Bedingungen anzupassen. Dies betrifft sowohl den Lebensraum Meer (vgl. z. B. IPCC, 2022: 416), als auch an Land (vgl. z. B. IPCC, 2022: 221). Verschiedene Tier- und Pflanzenarten werden mit fortschreitender Erderwärmung dauerhaft ihren natürlichen Lebensraum verlieren. Bereits jetzt haben Spezies aller Ökosysteme ihre Lebensräume verändert und ihre saisonalen Handlungsweisen an veränderte klimatische Bedingungen angepasst – Aktuelle Untersuchungen des Klimarats ermitteln, dass solche Anpassungen schon jetzt von mehr als der Hälfte aller Tierspezies durchgeführt werden (IPCC, 2022: 45).

Die Folgen einer solchen Entwicklung für den Menschen sind wegen der immensen Komplexität von Biosystemen (vgl. z. B. IPCC, 2022: 200) und der unklaren Ausprägungen des Klimawandels in verschiedenen Erdregionen noch nicht klar absehbar (IPCC, 2022). Die Bedeutung einer hohen Biodiversität ist in der Wissenschaft unstrittig. Ohne intakte Ökosysteme und eine Vielfalt der Arten wäre „menschliches Leben auf dem Planeten Erde nicht denkbar“, da der Mensch darauf angewiesen ist, seine Umwelt für sich zu nutzen (Baur, 2010: 58). Neben den spirituellen und ästhetischen Vorzügen einer vielfältigen Natur wird auch mit der höheren Funktionalität artenreicher Ökosysteme argumentiert (ebd.). Die Biodiversität des Planeten wird auf vielfältige Weisen durch den Menschen bedroht; der Klimawandel ist eine von ihnen. Forschende nehmen aktuell an, dass die Biodiversität und die Strukturen von Ökosystemen bereits heute durch klimawandelbezogene Anpassungen verschiedener Tier- und Pflanzenarten beeinträchtigt ist. In der Tendenz büßen warme Regionen demnach Biodiversität ein und die gestalten die Natur in diesen Gebieten homogener (vgl. IPCC, 2022: 45). Zudem gehe in Äquatornähe der Bestand vieler Spezies deutlich zurück. Diese Entwicklungen werden von Forschenden schon jetzt mit vorherigen Ereignissen des massenhaften Aussterbens von Tier- und Pflanzenarten auf dem Planeten verglichen (vgl. ebd.).

Um den vielfältigen und gravierenden Problemen der beschriebenen klimatischen Verwerfungen zu begegnen, hat die internationale Staatengemeinschaft auf der UN-Klimakonferenz 2015 ein Klimaabkommen ins Leben gerufen. Dass es zu einem solchen globalen Einigung gekommen ist, kann als großer umweltpolitischer Erfolg gewertet werden:

„Ein solches völkerrechtlich bindendes Abkommen wäre 30 Jahre zuvor – als die Serie an Klimakonferenzen Fahrt aufnahm – von vielen Beobachtern als Illusion abgetan worden. Der Erfolg von Paris macht hingegen deutlich, welche politischen Wirkungen von der Internalisierung des Kampfes gegen den Klimawandel ausgehen können. Denn keine der Vertragsparteien konnte und wollte es sich erlauben, als ‚Klimabremser‘ dazustehen; trotz aller zum Teil erheblichen Differenzen in der Sache – unterschiedlichen Anteilen am THG-Ausstoß, Unterschiede der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit oder des Entwicklungsbedarfs. Auch wenn alle Seiten ihre Verantwortung zum Schutz des Klimas beteuern, so ist klar, dass mit Paris der eigentliche Kampf gegen den Klimawandel erst begonnen hat.“ (Ranke, 2019: Vorwort)

Im Rahmen des Vertrags beschloss die Staatengemeinschaft die Reduktion klimaschädlicher Emissionen zur Begrenzung der globalen Erwärmung. Die Ziele des Abkommens lauten nach Artikel 1, Absatz 1 entsprechend unter anderem:

„(1) Dieses Übereinkommen zielt darauf ab, durch Verbesserung der Durchführung des Rahmenübereinkommens einschließlich seines Zieles die weltweite Reaktion auf die Bedrohung durch Klimaänderungen im Zusammenhang mit nachhaltiger Entwicklung und den Bemühungen zur Beseitigung der Armut zu verstärken, indem unter anderem

a) der Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 °C über dem vorindustriellen Niveau gehalten wird und Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, da erkannt wurde, dass dies die Risiken und Auswirkungen der Klimaänderungen erheblich verringern würde“

Im Rahmen des „Hoffnungsschimmers“ (Bennett et al., 2017: 173) des Pariser Klimaabkommens legen sich teilnehmende Staaten auf das gemeinsame Ziel einer Begrenzung der Erderwärmung auf maximal 1,5 °C festFootnote 3. Erreicht werden soll dieses Ziel laut Pariser Abkommen durch „national festgelegte Beiträge“, die die Vertragsparteien über „innerstaatliche Minderungsmaßnahmen“ anthropogener Emissionen von Treibhausgasen bewirken (Art. 4, Abs. 2). Das Abkommen sieht demnach keine verbindlichen nationalen Ziele der Reduktion klimaschädlicher Ausstöße vor. Die jeweiligen Reduktionsziele sollten sich allerdings an den „gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und jeweiligen Fähigkeiten angesichts der unterschiedlichen nationalen Bedingungen“ (Art. 4, Abs. 3) orientieren (vgl. Kurwan, 2023).

Akteure wie die Bundesrepublik Deutschland oder die Europäische Union haben sich daher eigene Zielvorgaben gesetzt, die in der Öffentlichkeit häufig in Form von Reduktionszielen bei den Treibhausgasemissionen diskutiert werden. Deutschlands hat sich folgende Zielmarken gesetzt: Bis zum Jahr 2020 wollte die Bundesrepublik ihre Emissionen gegenüber 1990 um 40 % reduzieren, bis 2030 um 55 %, bis 2040 um 70 % und bis 2055 um 80–95 % (Bundesregierung, o. J.). 2021 erfolgte im Rahmen eines novellierten Klimaschutzgesetzes eine Verschärfung der Reduktionsziele (Bundesregierung, 2022). Die Reform erfolgte nicht zuletzt in Folge einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge die damals gültige Version des Klimaschutzgesetzes der Bundesregierung in Teilen angepasst werden musste (Bundesverfassungsgericht, 2021). Die Zielsetzung des Jahres 2030 wurde im Zuge der Novelle auf eine Reduktion von mindestens 65 % und von 88 % im Jahr 2040 erfolgen (Umweltbundesamt, 2023). Zusätzlich wird nach der neuen Gesetzesgrundlage ein Reduktionsziel von 77 % im Jahr 2035 angestrebt. Klimaneutralität soll nun bereits 2045 erreicht sein. Es ist umstritten, inwieweit die genannten aktuellen Zielvorgaben in ihrer Ausgestaltung kompatibel mit dem Anliegen des Pariser Klimaabkommens sind. Vor der Reform wurden die Ziele von einer Vielzahl von Forschenden als zu gering und veraltet bezeichnet (vgl. z. B. Höhne et al., 2020; Kumar/ Madlener, 2018). In der Vergangenheit deuteten neue wissenschaftliche Erkenntnisse zumeist an, dass Kippunkte früher erreicht wurden als erwartet.

Obwohl das Reduktionsziel des Jahres 2020 kurzfristig (nicht zuletzt aufgrund der COVID-19-Pandemie) erreicht werden konnte (z. B. Geers, 2021), gilt die Einhaltung der weiteren Zielmarken als ambitioniert (Tagesschau, 2022). Sachverständige erkennen bedeutende Hürden auf Deutschlands Weg zur Erfüllung der Vorgaben des Pariser Klimaabkommens.

5.2.2 Klimawandel als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Bildung

Im nächsten Schritt soll dargelegt werden, aus welchen Gründen der Gegenstand des menschengemachten Klimawandels für die vorliegende Programmentwicklung ausgewählt wurde und inwiefern dieser als Bildungsgegenstand nutzbar gemacht werden kann. Dafür wird zunächst definiert, was unter dem Begriff zu verstehen ist.

Die Vereinten Nationen definieren den Klimawandel als langfristige Verschiebungen von Temperatur- und Wettermustern (vgl. Vereinte Nationen, o. J.). Diese Verschiebungen könnten demnach auf natürliche Weise oder durch menschliche Einflüsse eintreten. Die Veränderungen des weltweiten Klimas wurden in jüngerer Vergangenheit durch vermehrtes Auftreten von Temperaturrekorden, Dürreperioden und Naturkatastrophen wie Wirbelstürmen neben der wissenschaftlichen Gemeinschaft auch einer breiten Öffentlichkeit deutlich (vgl. z. B. Beever/ Belant, 2012; IPCC, 2022).

Im Jahr 2022 lag die Durchschnittstemperatur auf der Erde etwa 1,15 °C höher als im vor-industriellen Zeitalter (vgl. Euronews, 2023). Die Einigkeit über die Ursachen dieser bedenklichen Entwicklung ist innerhalb der Debatte groß. Im Falle der klimatischen Veränderungen, die derzeit auf dem Planeten zu wirken beginnen, herrscht in 99 % der fachlichen Veröffentlichungen der Konsens, dass die Erwärmung der Erde vornehmlich aus menschlichen Handlungen resultiert (vgl. Lynas et al., 2021). Insbesondere klimaschädliche Emissionen wie der Ausstoß von Kohlenstoffdioxid und ähnlichen Stoffen, die beispielsweise als Resultat industrieller Prozesse entstehen, bewirken die rasante Erwärmung des Planeten.

Insofern kann der Gegenstand des Klimas zwar grundsätzlich als aus den Naturwissenschaften stammend betrachtet werden, denn physikalische Prozesse bewirken Veränderungen des Klimas und damit konkrete wetter- und lebensraumbezogene Effekte; dennoch bietet der Gegenstand auch bedeutende Überschneidungen zu sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Volkswirtschaften sind mitverantwortlich für den Ausstoß klimaschädlicher Gase. Denn für viele industrielle Prozesse ist dieser Ausstoß unabdingbar. Als Resultat konnte die Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten einen enormen Zuwachs an wirtschaftlichem Wohlstand erreichen. Noch heute treten zwischen Ökonomie und Ökologie Zielkonflikte auf, die es gesellschaftlich zu verhandeln gilt.

Politik und Gesellschaft sind ebenfalls stark vom Klimawandel beeinträchtigt. Einerseits werden in Zukunft ganze Gesellschaften enorm an den Folgen des menschengemachten Klimawandels leiden; andererseits sind es auch diese Gesellschaften, die durch beherztes Handeln versuchen können, die negativen Folgen des Klimawandels möglichst gering zu halten. Um solche Entscheidungen zu fällen, die meist die gesamte Gesellschaft betreffen, müssen kurzfristig meist ökonomische Entbehrungen akzeptiert werden. Aushandlungsprozesse über die Durchsetzung bestimmter Maßnahmen stellen immense Herausforderungen für politische und gesellschaftliche Akteure dar. Beispiele für solche gesellschaftlichen Aushandlungen sind etwa die Umstellung auf eine klimaschonende Energiegewinnung, den Umstieg von fossilen auf erneuerbare Wärmequellen im Gebäudesektor oder die Ankündigung vegetarischer Speisepläne im Rahmen eines Veggie-Days, die 2013 den Bundestagswahlkampf von Bündnis 90/ Die Grünen belastete (Janssen, 2013). Es ist davon auszugehen, dass die Relevanz solcher Debatten und ihre Auswirkungen auch in absehbarer Zukunft hoch bleiben wird.

Aus den immer konkreter werdenden negativen Folgen der klimatischen Veränderungen ist in den vergangenen Jahren ein großes Interesse der Öffentlichkeit an dem Thema erwachsen. Die mediale Berichterstattung greift Berichte der Wissenschaftsgemeinschaft stärker auf, aber vor allem nimmt die wahrgenommene Relevanz des Themas vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Umweltkatastrophen stetig zu.

Die sich verdichtenden Anzeichen tatsächlicher klimatischer Veränderungen und ihrer teils katastrophaler Folgen motivierten große Teile der internationalen und deutschen Jugend, die wenige Jahre zuvor noch als mehrheitlich unpolitisch bezeichnet wurde, zu politischen Handlungen (z. B. Mittler, 2016). Im Rahmen der Protest- bzw. Streikbewegung FFF demonstrierten in Deutschland zeitweise 1,4 Millionen Menschen vorwiegend jugendlichen Alters für Klimaschutz und entsprechende politische Maßnahmen (Wrba, 2022). Angeführt von jungen Aktivistinnen wie Greta Thunberg und Luisa Neubauer artikulierten Jugendliche Ihre Anliegen, stellen Forderungen und bauten mit ihren Protesten Druck auf politische Akteure auf, dem sich diese nur schwer entziehen können. Manche sprechen von einer so selbstbewussten Jugend, wie es sie bislang selten gegeben habe (Hurrelmann/ Albrecht, 2020: 227). Andere Protestbewegungen wählen statt Schulstreiks und Protestmärschen mittlerweile zunehmend radikalere Mittel. Die ‚Letzte Generation‘ erregt seit 2022 teils erhebliches Aufsehen mit ihrer Form zivilen Ungehorsams. Mit Straßenblockaden protestieren auch sie für mehr Klimaschutz. Dafür kleben sich nicht wenige Protestierende auf Straßen und Kreuzungen fest und müssen zumeist von Polizeibeamten von diesen entfernt werden. Die Methoden, mit denen die Letzte Generation vorgeht, rufen deutlich mehr Kritik hervor als die Aktionen von FFF. Immer häufiger werden Einzelfälle der Protestbewegung auch Gegenstand juristischer Verfahren (vgl. z. B. Spiegel, 2023).

Repräsentative Umfragen stützen den Eindruck, dass in der jüngeren Vergangenheit gerade die Themen Umwelt und Klima für viele Jugendliche von enormer Bedeutung waren. Die Shell Jugendstudie von 2019 ermittelte, dass fast drei Viertel der befragten Jugendlichen die Umweltverschmutzung und 65 % den Klimawandel als Hauptprobleme identifizierten, die ihnen Angst machten (vgl. Albers et al., 2020). Einer Studie des Bundesumweltamtes zufolge, die 2020 veröffentlicht wurde, waren Umwelt- und Klimaschutz für die meisten Jugendlichen gar das Problem, dem sie die größte Bedeutung beimaßen (vgl. BMU, 2020: 16). Auch die Sinus-Jugendstudie ermittelte, dass der Klimawandel eines der „politischen Megathemen“ der befragten Jugendlichen darstellt (Calmbach et al., 2020: 405). Mithin kann der Klimawandel nicht nur als Gegenstand identifiziert werden, den viele Jugendliche als wichtig einstufen, sondern für das ein vergleichsweise hoher Anteil von ihnen sich aktiv engagiert.

Die Relevanz des Gegenstands ergibt sich allerdings aus noch einer weiteren Facette der gesellschaftlichen Behandlung des Klimawandels: einer teils wahrgenommenen Ohnmacht von Jugendlichen. Die SINUS-Jugendstudie kommt vor dem Hintergrund ihrer Befragungen zu folgendem Schluss:

Die Klimakrise, so die verbreitete Einschätzung, wird aber von den Verantwortlichen (Politik, Wirtschaft, ältere Generation insgesamt) nicht ernst genug genommen; mögliche Problemlösungen werden verschleppt oder sogar hintertrieben. Diesem Dilemma steht die Jugend ohnmächtig und zunehmend verdrossen gegenüber. Viele Jugendliche haben das Gefühl von Macht- bzw. Einflusslosigkeit und die Überzeugung, als Minderjährige nichts ausrichten zu können, im Zweifel nicht einmal gehört zu werden. Die massenhafte Teilnahme an Fridays-for-Future-Demonstrationen ist Ausdruck ihrer Ohnmacht und Empörung. (Calmbach et al., 2020: 567)

Der massive Mangel an Selbstwirksamkeitserwartungen und Gehör der Politik vieler Jugendlicher wird auch von anderen Studien ermittelt (vgl. Albers et al., 2020: 567; vgl. Börsch-Supan et al. 2022: 10). Derartige Umstände können zur Entwicklung einer „grundsätzlichen Politikverdrossenheit“ beitragen (vgl. Albers et al., 2020: 19). Mit dieser könnten bedeutende Schwierigkeiten für das Funktionieren und die Stabilität demokratischer Systeme einhergehen.

Das zunehmende Empfinden von Ohnmacht und Verdruss, das von unterschiedlichen Studien unter Jugendlichen identifiziert wurde, stellt somit notwendigerweise eine Handlungsaufgabe für sozialwissenschaftliche Bildung dar. Lernformate, die die Gegenstände Klima und Umwelt adressieren, sollten zur Reflexion von Handlungs- und Wirkmöglichkeiten anregen sowie die Natur politisch-gesellschaftlicher Prozesse untersuchen. Folgende Schwerpunkte könnten Leitfragen für derartige Bildungsprozesse darstellen:

  • Was können Jugendliche mit verschiedenen konventionellen und unkonventionellen Beteiligungsmethoden erreichen?

  • Mit welchen Widerständen ist zu rechnen?

  • Welche inhaltlichen und strukturellen Kontroversen bestimmen den Diskurs?

  • Welchen Schwierigkeiten unterliegen politische Akteure?

  • Inwiefern existieren moralische oder juristische Grenzen von Aktivismus?

Mithilfe dieser und anderer Schwerpunkte in der strukturierten Bearbeitung des Gegenstands ‚Klimawandel‘, die sowohl individuelle als auch systemische Sichtweisen berücksichtigt, könnte möglicherweise ein Beitrag zur Prävention von Frust und Politikverdrossenheit geleistet werden. Insofern könnte ein solches Format eines der drängendsten Themen von Politik und Gesellschaft (insbesondere ihrer jungen Mitglieder) nutzen, um dem Eindruck von Ohnmacht und mangelnder Selbstwirksamkeit zu begegnen und konstruktive Handlungsoptionen und -erwartungen zu reflektieren. Auf diese Weise könnte reales politisches Handeln von Jugendlichen um die Reflexion politisch-gesellschaftlicher Rahmenbedingungen erweitert werden, um demokratisches Lernen zu realisieren (s. Abschnitt 3.2).

Die in diesem Zusammenhang geförderten Sinnbildungs- und Reflexionsprozesse von Jugendlichen können in ihrer Wirkung weit über die Bearbeitung der vorgestellten klimabezogenen Thematik hinausgehen. Etwaige Kompetenzen und Volitionen leisten ggf. einen Beitrag zur Resilienz und demokratischen Verfasstheit einer Gesellschaft, die künftigen Problemstellungen besser gewachsen wäre und auch im Umgang mit anderen Menschen Werte wie Toleranz und Empathie zeigten. Der gesellschaftliche Umgang mit der Herausforderung des Klimawandels steht insofern exemplarisch für den Umgang mit vielen weiteren Krisen, denen Jugendliche im Laufe ihres Lebens ausgesetzt sein werden und die einer gesamtgesellschaftlichen Reaktion bedürfen. Aus diesen Gründen wählte der Autor den Gegenstand des Klimawandels für ein demokratiebildendes Programm im außerschulischen Lehr-Lern-Labor.

5.2.3 Programm im demokratiebildenden Lehr-Lern-Labor

In der Konzeption des Programms wurden zunächst grundlegende konzeptionelle Entscheidungen zum Ansatz eines politischen-demokratischen Schülerlabors getroffen, die sich in Teilen an etablierten Formaten außerschulischen naturwissenschaftlichen Lernens orientieren. Der Autor vertritt die These, dass politisch-demokratische Schülerlabore aus verschiedenen organisatorischen und inhaltlichen Gründen abweichende Ziele und Methoden verfolgen sollten als naturwissenschaftliche Lernformate. In diesem Kapitel wird kurz dargelegt, welche grundsätzlichen Entscheidungen der Autor hinsichtlich der Zielgruppe, des Anliegens und der Verfahren eines demokratiebildenden Lehr-Lern-Labors getroffen hat.

Zielgruppe

Im Rahmen naturwissenschaftlicher Schülerlabore sind zumeist das Wecken von Interesse sowie Aspekte der Berufsorientierung und Wissenschaftsvermittlung wichtige Ziele der Organisationsform. Dies ist insbesondere einem „absehbare[n] Nachwuchsmangel für naturwissenschaftliche und technische Berufe“ begründet, der in Verbindung mit der Sorge um mangelnde Akzeptanz für naturwissenschaftliche Forschung bei Jugendlichen, „den zukünftigen Wohlstand unserer Gesellschaft“ gefährdet (Pawek, 2009: 1). Vor diesem Hintergrund war es ein Hauptziel entsprechender Konzeptionierungen mithilfe von außerschulischen naturwissenschaftlichen Schülerlaboren das Interesse an den Fächern und ihren Inhalten zu fördern (vgl. ebd.). Entsprechende Angebote fokussieren daher Lernformate, in denen Jugendliche Kontakt zu Forschenden der jeweiligen Naturwissenschaft aufnehmen und ihre Arbeitsweisen, beispielsweise das Experimentieren im Labor, selbständig durchführen. Auf diese Weise können etwaige Vorurteile gegenüber Forschenden abgebaut und Jugendliche in Kontakt mit Forschenden und alltäglichen wissenschaftlichen Arbeitsweisen gebracht werden. Beides kann potenziell zur Entscheidung über die Wahl eines naturwissenschaftlichen Studiengangs beitragen.

Ein etwaiger Nachwuchsmangel in der Politikwissenschaft wurde bislang nicht empirisch nachgewiesen. Daher muss das Vorgehen (Methodik, Zielvorgabe) im sozialwissenschaftlichen Schülerlabor dem Vorgehen naturwissenschaftlicher Fachdomänen in dieser Hinsicht nicht notwendigerweise entsprechen. Die Förderung fachlichen Interesses stellt hingegen auch in politischen Kontexten ein legitimes Bildungsziel dar. Interesse wird als Voraussetzung für den Erwerb basalen Wissens angesehen, das für die Mündigkeit von Jugendlichen vorhanden sein muss (vgl. Lange, 2013: 18; Abschnitt 2.2.1). Insofern sollte das Fördern politischen Interesses aller Jugendlicher ein bedeutendes Ziel gesellschaftswissenschaftlicher Bildung darstellen. Wie in Abschnitt 2.2.1 beschrieben, ist politisches Interesse bei einer bedeutenden Anzahl von Jugendlichen durchaus vorhanden (vgl. z. B. Albers et al., 2020: 14; BMU, 2018: 31; Lange et al., 2013: 114). Wenngleich das grundsätzlich bei vielen Jugendlichen vorhandenen Interesse weiterhin von schulischen und außerschulischen Bildungsträgern gefördert werden sollte, deuten vielfältige empirische Evidenzen größeren interessenbezogenen Handlungsbedarf hinsichtlich sozialer und sozioökonomischer Disparitäten an, denn: „Der soziale Hintergrund hat erheblichen Einfluss auf das politische Interesse, die Zukunftsaussichten und das politische Verhalten Jugendlicher“ (Lange et al., 2013: 113). Eine Vielzahl empirischer Studien kommt zu ebendiesem Schluss, dass Politik in den Leben von Jugendlichen aus Haushalten mit hohem Sozialkapital eine größere Rolle spielt (z. B. Albers et al., 2020: 14; Achour/ Wagner, 2019: 181). Schulische (bzw. außerschulische) Bildungsformate können für manche Jugendliche den einzigen Berührungspunkt mit Politik darstellen. Diese Gegebenheiten wurden für die Konzeption einer Ausrichtung des demokratie:werks sowie des vorliegenden Programms mit einbezogen.

Soziale Disparitäten zeigen sich im Schulsystem der Bundesrepublik schon in der Schulart, die Jugendliche besuchen. Die Auswertung von PISA-Studien ergab in der Vergangenheit, dass Kinder aus Haushalten mit geringem sozialem Kapital mit signifikant niedrigerer Wahrscheinlichkeit das Gymnasium besuchen als Kinder mit hohem sozialem Kapital (z. B.: Baumert, 2006; Trautwein et al., 2011: 446). Wenn sich außerschulische politische Bildung also lediglich an Gymnasien richtet, adressiert sie damit statistisch signifikant häufiger Jugendliche aus privilegierten Haushalten. Achour und Wagner haben indes ermittelt, dass schon die schulische politische Bildung häufiger und intensiver diejenigen erreicht, die im Privaten ohnehin mit Politik in Berührung kommen (vgl. 2019). Aus bildungswissenschaftlicher Sicht ist die Bestimmung der Zielgruppe solcher Formate folglich von großer Relevanz. Während sich eine bedeutsame Anzahl von Schülerlabormodulen explizit an Jugendliche richtet, die ein Gymnasium besuchen (vgl. Huwer, 2015; Kapitza, 2020; Langheinrich, 2015, Mierwald, 2020; Scharfenberg, 2005), richten sich die Programme des demokratie:werks daher an Lerngruppen aller Schularten. Die Zielgruppe des vorliegenden Programms wurde also nicht auf bestimmte Schularten beschränkt.

Zudem sollte das Bildungsprogramm Lernende unterschiedlicher Altersstufen ansprechen. Aufgrund der Zielsetzung alle allgemeinbildenden Schularten zu adressieren, sollten Lerngruppen aus Sekundarstufe I und II angesprochen werden. Der Übergang von der ersten in die zweite Sekundarstufe findet in Schleswig-Holstein meist zwischen der zehnten und der elften Klassenstufe statt. Die Klassenstufen nahe der Schnittstelle zwischen den Sekundarstufen I und II stellen auch aufgrund des zumeist in diesen Jahrgängen beginnenden politischen Fachunterrichts eine geeignete Zielgruppe dar.

Auch anhand wissenschaftlicher Untersuchungen lässt sich diese Zielgruppe legitimieren. Studien ermittelten in der Vergangenheit eine relativ hohe Stabilität individueller politischer Einflussgrößen wie dem politischen Interesse ab dem 18. Lebensjahr (vgl. Russo/ Stattin, 2017; s. Abschnitt 2.2.1). Bis zu etwa diesem Alter kann dieses demnach noch stärker beeinflusst werden. Andere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich politisches Interesse noch bis zum etwa 25. Lebensjahr entwickelt, ehe es sich stabilisiert (vgl. Neuendorf et al., 2013). Trotz der nicht eindeutigen Studienlage scheint Einigkeit darin zu bestehen, dass die Förderung politischen Interesses junger Menschen mit zunehmenden Alter weniger erfolgversprechend zu sein scheint. Die Adressierung von Lerngruppen der ersten Sekundarstufe scheint somit auch vor dem Hintergrund der Studienlage sinnvoll.

Anliegen

Das Anliegen der Interessenförderung wurde für die Konzeption des vorliegenden Programms, wie bereits angedeutet, aus dem naturwissenschaftlichen Kontext übernommen. Die Förderung politischen Interesses ist mit den weiteren einschlägigen Zieldimensionen des Programms eng verwoben, auf die in der Folge eingegangen wird. Diese orientieren sich im Wesentlichen an etablierten Konzeptionen zu demokratischem Lernen, auf die in dieser Arbeit bereits eingegangen wurde (Abschnitt 3.2):

  • Politisches Interesse

  • Politische Handlungsbereitschaft

  • Wissen und Sinnbildungsprozesse über Demokratie

  • Demokratische Werte und Tugenden

Mithilfe des entwickelten Programms wurde zudem das Ziel der Förderung politischer Handlungsbereitschaft angestrebt, das mancher als das „Königsziel“ politischer Bildung bezeichnet (Widmaier, 2012: 16; Abschnitt 2.1.4). Etwa mithilfe simulativer Verfahren könnten unterschiedliche Praktiken politischer Mitwirkung erlebt und im Anschluss reflektiert werden. Bedeutende Aspekte hinsichtlich politischer Partizipation, die es zu reflektieren galt, betrafen die Wirksamkeit politischer Handlungen sowie mögliche Hindernisse auf dem Weg zu ebendieser.

Das politische Wissen beschreibt nach Detjen konzeptuelles Deutungswissen, „welches eine Orientierung im unübersichtlichen Feld der Politik erlaubt“ (2007b.: 214). Lange et al. argumentieren, dass die Grundvoraussetzung „für eine gewisse Aufmerksamkeit gegenüber der Politik und einem Mindestmaß an Wissen über eigene Handlungsmöglichkeiten“ das politische Interesse sei, „aus dem sich dann im Zusammenspiel mit den Sinnbildern des Bürgerbewusstseins politische Orientierungen ergeben“ (2013: 28). In diesem Sinne gehen die Förderung politischen Interesses, die Förderung politischer Mündigkeit und die Förderung von Wissen sowie Sinnbildungsprozessen daher Hand in Hand. Aktivitäten können politische Handlungen simulieren, reflektieren und ihre Wirkungen kritisch diskutieren. Neben dem Wissen über Wege der politischen Mitwirkung erfolgt im vorliegenden Programm auch die Reflexion demokratiebezogener Konzepte. Die Vermittlung von Wissen sowie die Förderung von Sinnbildungsprozessen über Demokratie wurden folglich als drittes Anliegen formuliert.

Zuletzt war es ein Anliegen des vorliegenden demokratiebildenden Lehr-Lern-Labors, demokratische Werte und Tugenden wie Toleranz, Inklusion, Kooperation, Partizipation und gewaltfreie Konfliktlösung zu fördern (Abschnitt 3.2.1). Diese beginnen im privaten Bereich und lassen sich auf den gesellschaftlichen Raum übertragen. Das Format sollte eine Berücksichtigung solcher Werte in der Praxis des Miteinanders schulen, die als grundlegende normative Prinzipien der demokratischen Ausgestaltung einer Gesellschaft angesehen werden können. Auf diese Weise sollte politisches Lernen mit sozialem Lernen verbunden werden (ebd.).

Organisation des Lernens

Wie in vielen Schülerlaborprogrammen naturwissenschaftlicher Fachdisziplinen erfolgte das Programm nach einem im Vorhinein festgelegten Ablauf und in unterrichtsähnlichen Settings. Das bedeutet, es gab in jeder Lernphase eine lehrende Person, die ein Lehr-/ Lernvorhaben betreute. Diese Lehrperson war den Lernenden vor der Teilnahme unbekannt, in der Regel studentisch und wies damit auch bedeutend geringere Altersunterschiede zu den Teilnehmenden auf, als dies in allgemeinbildenden Schulen zumeist der Fall ist. Der Verlauf der Lernstationen war offener gestaltet als traditioneller Schulunterricht und der Umgangston war in der Regel lockerer als im Schulkontext.

Hauptsächliche Unterschiede zum Schulunterricht betrafen, erstens, den Unterrichtsort, der im Falle des vorliegenden Projekts normalerweise am universitätsnahen Schülerlabor angesetzt ist. Die Räumlichkeiten, die während der Durchführungen des vorliegenden Programms zur Verfügung standen, waren von geringerer Größe als herkömmliche schulische Räume (s. Abschnitt 5.1.1). Sie waren interdisziplinär ausgestaltet und ließen sich flexibel auf Gruppengröße und Lernformat hin umorganisieren. Während die thematische Authentizität von Räumlichkeiten in Schülerlaboren ein häufig hervorgehobenes Merkmal naturwissenschaftlicher Kontexte darstellt, ist diese in politisch-demokratischen Kontexten weitaus schwerer herzustellen. Sind Labore klassischerweise mit Binokularen oder anderen typisch-naturwissenschaftlichen Gegenständen ausgestattet, lässt sich in sozialwissenschaftlichen Domänen in der Regel kaum ein Kanon charakteristischer Zubehöre identifizieren. Parlamentsgebäude oder sozialwissenschaftliche Bibliotheken kämen dem wohl am nächsten, konnten für die Durchführung des vorgestellten Programms allerdings nicht in der nötigen Regelmäßigkeit zur Verfügung gestellt werden, die für die Durchführung quantitativ ausgerichteter Studien notwendig wären. Die Authentizität der Räumlichkeiten beschränkte sich in der vorliegenden Untersuchung also auf den authentisch-universitären Kontext. Für zukünftige Programme wäre eine solche authentische Lernumgebung für politisch-demokratische Bildungsformate wünschenswert.

Zuletzt war mit der Teilnahme am Schülerlaborprogramm keinerlei Leistungsmessung oder -bewertung verbunden. Insofern handelte es sich bei den entsprechenden Lerngelegenheiten um eine Art Schonraum für Jugendliche, die in Abwesenheit ihrer Lehrkraft keine schulischen Sanktionen erwarten mussten. Etwaige Lernerfolge entfalteten im ersten Schritt somit keine schulische Bedeutung.

Verfahren

Die dritte bedeutende festzulegende Komponente betraf den methodischen Ansatz, den demokratiebildende Schülerlabore verfolgen sollten. In naturwissenschaftlichen Schülerlaboren führen Lernende in der Regel eigenständig Experimente durch (vgl. z. B. Pawek, 2009: 7; Kapitza, 2020: 11). Diese gelten heutzutage als wohl wichtigstes Medium naturwissenschaftlicher Schulfächer (vgl. Pawek, 2009: 12). Lehrkräfte versprechen sich durch den Einsatz von Experimenten im Fachunterricht sechs didaktische Nutzen (Pawek, 2009: 13; nach Tesch, 2005). Diese lauten: Prozesse und Fertigkeiten einüben, physikalische Sachverhalte darstellen, Erkenntnistheoretische Aspekte vermitteln, Bedeutung der Physik in Technik und Alltag zeigen, soziale Fähigkeiten fördern, Interesse wecken/ Erlebnisse ermöglichen.

Anhand der zuvor dargestellten andersartigen Ziele und Prinzipien demokratischen Lernens konnten diese zentralen Aspekte des Experimentierens in Bildungsformaten auf den politisch-demokratischen Lernkontext angewandt und mit einigen Anpassungen übertragen werden, um geeignete methodische Verfahren für demokratiebildende Formate zu identifizieren. Diese Prinzipien könnten lauten:

  1. 1.

    Prozesse und Fertigkeiten einüben

  2. 2.

    Politisch-demokratische Sachverhalte darstellen

  3. 3.

    Bedeutung der Demokratie im Alltag zeigen

  4. 4.

    Soziale Fähigkeiten fördern

  5. 5.

    Interesse wecken, Erlebnisse ermöglichen

Während diese Funktionen in naturwissenschaftlichen Kontexten mithilfe der Durchführung von Experimenten erfüllt werden sollen, bieten sich für den politisch-demokratischen Kontext insbesondere handlungsorientierte Methoden an (s. Kapitel 3). Der Einsatz experimenteller Lehr-/ Lernmethoden im außerschulischen Lernen legitimiert sich dabei insbesondere dadurch, dass eigenständiges Experimentieren in der alltäglichen Unterrichtsrealität kaum genutzt werden (Pawek, 2009: 14). Dies wird u. a. durch mangelnde zeitliche Ressourcen sowie eine mögliche Überforderung der Lehrkräfte begründet (vgl. ebd.). Außerschulisches Lernen, etwa im Schülerlabor, verfügt in dieser Hinsicht über günstigere Ausgangsbedingungen, da in der Regel größere zeitliche Flexibilität gegeben ist und durch mehrmaliges Wiederholen von Abläufen das Personal über wesentlich mehr Erfahrung in der Anleitung eigenständiger Lernprozesse verfügt (vgl. ebd.: 14 f.).

Mit fast identischen Argumenten lässt sich auch der Einsatz handlungsorientierter Lernmethoden im außerschulischen politisch-demokratischen Lernen rechtfertigen. Untersuchungsergebnisse deuten an, dass der Schwerpunkt schulischer Kompetenzvermittlung auf politischer Analysefähigkeit und auf politischer Urteilsfähigkeit liegt (vgl. Achour/ Wagner, 2019: 177). Die Förderung politischer Handlungsfähigkeit komme hingegen häufig zu kurz. Als mögliche Gründe benennen Forschende fehlende Ressourcen wie Unterrichtszeit, reale Gelegenheiten sowie mangelnde „fachwissenschaftliche sowie didaktische Kompetenz der Lehrkräfte“ (ebd.). Besonders der Zeitfaktor wird bei der Durchführung aufwendiger Methoden wie beispielsweise Planspielen als kritisch angesehen. Die empirische Befragung von Achour und Wagner ergab, dass handlungsorientierte Methoden „nur manchmal eingesetzt“ werden und dass dies offenbar an nicht-gymnasialen Schularten seltener geschieht als an Gymnasien. Beide genannten Gründe für den seltenen Einsatz handlungsorientierter Methoden entfallen für den Einsatz am außerschulischen politisch-demokratischen Schülerlabor. Der Wegfall einer möglichen 45-Minuten-Logik sowie das erfahrene Lehrpersonal ermöglichen eine gewinnbringende Durchführung solcher Lernmethoden im Allgemeinen.

Die Wissenschaftsorientierung stellt indes einen bedeutsamen Unterschied zwischen den methodischen Verfahren des Experimentierens und angesprochenen simulativen Methoden der Politikdidaktik dar. Während MINT-Formate es auf diese Weise schaffen Jugendlichen den Arbeitsalltag von Forschenden näherzubringen, fand durch die Implementierung handlungsorientier Methoden im vorliegenden Kontext kein ähnlicher Prozess statt. Der Autor rechtfertigt diesen Umstand mit der Andersartigkeit der didaktisch-pädagogischen Zielsetzung, die im demokratiebildenden Kontext verfolgt wird. Diese zielt weniger auf Wissenschaftskommunikation und Linderung des Nachwuchsmangels in einschlägigen Studienfächern ab, sondern auf die Förderung von Mündigkeit, Interesse, Handlungsbereitschaft und demokratischen Werten.

‚Forschungsfrage‘

Neben dem eigenständigen Experimentieren wird als ein wesentliches Merkmal von MINT-Schülerlaboren die Arbeit an einer „möglichst selbst generierten Fragestellung“ identifiziert (Budke, 2019: 19). Die Fragestellung strukturiert die Inhalte des Tages und liefert in ihrer Reflexion Zugänge zu vertieften fachlichen Erkenntnissen. In verschiedenen Angeboten der Kieler Forschungswerkstatt lauten diese Forschungsfragen beispielsweise (Kieler Forschungswerkstatt, o. J.):

  • Wie greift der Mensch in das Ökosystem Ostsee ein?

  • Unter welchen Bedingungen leben Pflanzen und Tiere am Äquator?

  • Welchen Einfluss hat die Epigenetik auf das Leben?

  • Wo kommen wir im Alltag mit Nanotechnologie in Berührung?

In der Regel werden diese Fragestellungen allerdings nicht durch teilnehmende Jugendliche selbständig formuliert, sondern durch die konzeptionelle Leitung der Thementage vorgegeben.

Ein ähnliches Vorgehen wurde im Rahmen des vorliegenden Vorschlags zur Konzeption eines politisch-demokratischen Schülerlabortags gewählt. Die Formulierung einer übergeordneten Fragestellung lieferte nicht nur einen geeigneten inhaltlichen Diskussionsanlass zu Beginn und am Ende eines Programms, sondern strukturierte zudem die Lernabläufe während der Arbeitsphasen. Denn die Fragestellung legte sowohl für Lernende als auch für Lehrende den inhaltlichen Schwerpunkt des Formats fest. Auf diese Weise bestand für alle Beteiligten stets ein gewisses Mindestmaß an fachlicher Verbindlichkeit und das Risiko unkoordinierter Aktivität ohne didaktisches Resultat wurde gesenkt.

Darüber hinaus konnte mit der Einbindung einer geeigneten Fragestellung ggf. eine Verbindung zwischen handlungsorientierten Verfahren an den Lernstationen und wissenschaftspropädeutischen Ansätzen erfolgen. Während die Aktivitäten, die Lernende an unterschiedlichen Stationen durchführten, keine Überschneidungen mit methodischen Verfahren von Forschenden aufwiesen, stellt die Orientierung an einer (aktuellen) wissenschaftlichen Fragestellung eine Möglichkeit zum Kontakt mit wissenschaftlichen Denkweisen dar. Dafür musste die Forschungsfrage inhaltliche Schnittmengen mit den Aktivitäten aufweisen, die Teilnehmende im Laufe des Programms selbst vollziehen. Durch den jeweiligen Erkenntnisgewinn der Teilnahme an einer Lernstation sollte ein Beitrag zur begründeten Antwort auf die eingangs formulierte Forschungsfrage ermöglicht werden. In einer abschließenden gemeinsamen Vertiefung und Reflexion diskutierten Teilnehmende dann unterschiedliche Aspekte der Beantwortung der Forschungsfrage. An dieser Stelle sollten mögliche Problem und Hürden beim Finden von individuellen Antworten auf Verfahren wissenschaftlicher Diskurse bezogen werden, um sich so dem politik- und demokratiewissenschaftlichen Forschungsprozess anzunähern. Indem sich die Konzeption des Lehr- und Lernarrangements an einer relevanten einschlägigen Forschungsfrage orientiert, wurde somit versucht Jugendlichen wissenschaftliche Denkweisen im Rahmen der Teilnahme an politisch-demokratischer Lehr-Lern-Labore vermitteln.

5.2.3.1 Demokratievernetztes Lernformat

Der Ansatz des demokratievernetzten Lernens wurde in dieser Arbeit bereits beschrieben (s. Abschnitt 3.2.4). Dieses Kapitel widmet sich der Frage, wie der demokratievernetzte Ansatz in ein Tagesformat der außerschulischen Demokratiebildung überführt worden ist.

Eins der wichtigsten didaktischen Ziele demokratievernetzten Lernens stellt die Vermittlung der Verknüpfung unterschiedlicher demokratischer Ebenen dar. Soziales und politisches Lernen bilden verschiedene Aspekte demokratischen Lernens ab, die, sofern nicht explizit miteinander in Verbindung gebracht, Gefahr laufen im Bewusstsein von Lernenden als voneinander unabhängige Elemente betrachtet zu werden. Die Rückbezüge von sozialem Miteinander im demokratischen Nahraum auf politische Prozesse der Makroebene von Demokratie sollen die Vermittlung dieser Verknüpfung gewährleisten.

Da demokratievernetztes Lernen nach Reinhardt (2015) ein längerfristiges Projektlernen meint, kann er nicht ohne Anpassungen in die Form eines eintägigen Lernprogramms überführt werden. Deshalb ist eine Praxis projektbasierten Lernens notwendig, in dem Lernende möglichst selbständig ihrem Anliegen auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen nachgehen. Anstelle eines längerfristigen Projekts, das Aeppli und Reinhardt im Laufe mehrerer Wochen im Form eines „demokratischen Miteinander“ (ebd.: 16) durchführten und das unterschiedliche Anknüpfungspunkte an politisches Lernen auf der Systemebene ermöglichte, erforderte der organisatorische Rahmen eines Tagesprogramms eine klare zeitliche Begrenzung des Formats. Lebens- und Herrschaftsform von Demokratie konnten nicht über einen längeren Zeitraum alternierend, sondern mussten nacheinander behandelt werden. Die Reflexionsprozesse, die im ursprünglichen Konzept im Laufe des Projekts mehrfach angestoßen werden, fanden daher gebündelt am Ende des Programms statt. Demokratisches Agieren auf Mikro- und Makroebene von Demokratie wurde in zwei Lernstationen strukturiert, die nacheinander und mit ähnlicher inhaltlicher Ausrichtung absolviert wurden. Methodisch wurde den verschiedenen Zwängen und Abläufen auf beiden Ebenen demokratischen Handelns Rechnung getragen, indem diese Stationen vollkommen unterschiedliche Schwerpunkte setzen.

Um dennoch die Verbundenheit beider Ebenen vermitteln zu können, wurde eine weitere Lernstation hinzugefügt, die eine Mesoebene von Demokratie abbildet. Auf dieser Mesoebene wurde ähnlich wie auf der Mikroebene gemeinsam mit Menschen aus dem sozialen Umfeld innerhalb eines den Jugendlichen bekannten Kontexts gehandelt, aber die Abläufe an der Station erfolgten ebenfalls nach einigen Zwängen der politischen Makroebene, auf der unterschiedliche Standpunkte aufeinandertrafen, gesellschaftliche Meinungen durch Repräsentanten vertreten wurden und Mehrheiten für Beschlüsse notwendig waren.

Den inhaltlichen roten Faden der Lernstationen bildete die inhaltliche Ausrichtung auf den Klimawandel. In unterschiedlichen Settings setzten sich die Lernenden auf verschiedene Weisen demokratisch für mehr Klimaschutz in der Gesellschaft ein. Die Lernenden verfolgten das gemeinsame Anliegen, die Verhinderung katastrophaler klimatischer Veränderungen auf dem Planeten, entlang unterschiedlicher gesellschaftlicher Ebenen und in verschiedenen Konstellationen. Mit dieser Ausrichtung an einem gemeinsamen Anliegen, das innerhalb einer sozialen Gruppe verfolgt wurde, wies das vorgestellte Tagesformat einige Parallelen zum konventionellen Projektformat auf, das Aeppli und Reinhardt beschrieben (vgl. 2015).

Rückbezüge der verschiedenen Stationen aufeinander und auf die Demokratie als Gesamtkonzept fanden im Anschluss an die Lernstationen in der gemeinsamen Reflexion des Tages im Plenum statt. In der Vertiefung wurde insbesondere auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Lernstationen eingegangen. Auch wurden Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen demokratischen Ebenen werden analysiert, die in ihrer Gesamtheit ein komplettes Bild der Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform ergaben (s. Abschnitt 3.2.3). Insofern fand parallel zur und mithilfe von der Teilnahme an unterschiedlichen Formaten, die sich allesamt am gleichen Anliegen orientierten, soziales und politisches Lernen statt. Auf diese Weise verfolgte das vorliegende Programm die Ideen des demokratievernetzten Ansatzes, die in ihrer konkreten Ausgestaltung allerdings auf die organisatorischen Rahmenbedingungen eines außerschulischen Lehr-Lern-Labors anzupassen waren.

5.2.3.2 Zielgruppe

Vor der Entwicklung eines konkreten Bildungsprogramms mussten verschiedene didaktische Entscheidungen getroffen werden. Eine dieser Entscheidungen betraf die Adressaten des Programms. Wie bereits erarbeitet wurde (Kapitel 2; Abschnitt 5.2.2), haben Studien bedeutende Ungleichheiten in den Bildungserfolgen von Kindern und Jugendlichen ermittelt, deren Elternhäuser unterschiedlich hohe kulturelle und ökonomische Kapitale aufweisen. Dies betrifft im Allgemeinen Bildungserfolge, aber im Speziellen auch den politischen Bildungserfolg. Politische Bildung kann den Autorinnen zufolge gar teilweise als „elitäres Angebot“ angesehen werden (Achour/ Wagner, 2019: 189). Bildungsformate könnten demnach über angleichende oder womöglich gar kompensatorische Potenziale verfügen. Lange, Onken und Korn (2013) formulierten gar, dass partizipationsbereite Jugendliche solche Bildungsformate unter Umständen nicht benötigten, da sie im Privaten bereits entsprechende Informationen suchen. Im Gegensatz dazu stellte politische Bildung demnach für Jugendliche mit geringem Partizipationsinteresse die einzige Gelegenheit zur Gewinnung für politische Beteiligung dar, da „aus ihrem sozialen Umfeld nur wenige Impulse für eine solche kommen“ (ebd.: 59).

Aus diesem Grund erfolgte die Entwicklung des demokratiebildenden Programm nicht ausschließlich für eine gesellschaftliche ‚Elite‘, die das Gymnasium besucht, die allgemeine Hochschulreife anstrebt und in der Tendenz aus privilegierteren Haushalten kommt; stattdessen wurde versucht, ein Bildungsangebot zu entwickeln, das sich an alle allgemeinbildenden weiterführenden Schularten richtet. Dies beinhaltete Jugendliche, die ein Fachabitur oder den ersten sowie den mittleren allgemeinen Bildungsabschluss anstrebten. Diesem Anliegen wurde in der Konzeption auf mehrere Weisen Rechnung getragen, die in der Folge beschrieben werden.

Zunächst sollte das Programm keine bestimmten (politischen) Fachkenntnisse voraussetzen, ohne die das Angebot nicht sinnvoll durchgeführt werden kann. Müssten teilnehmende Lerngruppe vor dem Programm zunächst einleitende Unterrichtseinheiten absolvieren, würde dies ggf. abschreckend auf interessierte Lehrkräfte sowie auf die Jugendlichen wirken. Daher musste das Programm aus sich heraus und ohne vorherige Entlastung etwaiger Hintergründe und relevanter Prozesse funktionieren. Aus diesem Grund sollten zu Beginn des Tages und zum Beginn jeder Lernphase einleitende Bemerkungen erfolgen, die auch Jugendlichen mit wenig Vorwissen die sinnvolle Bearbeitung des Programms und seiner Inhalte ermöglichten.

Ein weiterer relevanter Aspekt war der gewählte Schwierigkeitsgrad der Arbeitsaufträge. Diese sollten möglichst der Heterogenität der teilnehmenden Lerngruppen Rechnung tragen. Damit daraus jedoch keine unübersichtliche Differenzierung der Aufträge resultierte und das Programm mit möglichst vielen Lerngruppen größtenteils identisch durchgeführt werden konnte, wurden vornehmlich Arbeitsaufträge eingesetzt, deren Schwierigkeit sich nicht vornehmlich durch kognitive, sondern verstärkt durch soziale Komponenten bemisst. Das Bearbeiten von Arbeitsbögen konnte somit genauso wenig im Zentrum von Aktivitäten stehen wie die Analyse komplexer theoretischer Zusammenhänge. Stattdessen lag der Fokus auf prozeduralen Fähigkeiten und sozialen Aushandlungsprozessen. Diese Anforderung stimmte außerdem mit dem Anliegen der Handlungsorientierung sowie mit den zu schulenden Fertigkeiten überein (Abschnitt 5.2.2). Lehrpersonen mussten dennoch auf die Heterogenität von Lerngruppen eingehen, indem sie das Maß an Betreuung während der Durchführung handlungsorientierter Methoden variierten oder Diskussionen stärker lenkten.

Zuletzt mussten Gegenstand und Lernziel des Programms so gewählt werden, dass diese für möglichst viele Jugendliche gleichsam relevant und interessant waren. Wenngleich dies selbstverständlich nicht für alle Jugendliche in identischem Maße erreicht werden konnte, sollte versucht werden, möglichst aktuelle und ortsunabhängige Inhalte zu wählen, damit sich nicht nur partikulare Gruppen angesprochen fühlten. Auch aus diesem Grund wurde für das vorliegende Programm der Gegenstand des Klimawandels gewählt, der nicht nur über eine große Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung verfügt; er stellt zudem in den Vorstellungen vieler Jugendliche aus der gesamten Bundesrepublik laut verschiedenen Umfragen einen der aktuell relevantesten politischen Inhalte bzw. Probleme dar (Abschnitt 5.2.1). Das Lernziel des Programms, nach dem die Jugendlichen die Rolle des Individuums in der Demokratie reflektieren und Möglichkeiten zur politischen Partizipation erkunden sollten, wurde so gewählt, dass es potenziell für alle Jugendlichen von hoher Relevanz ist. Partizipation könnte und sollte möglichst von allen sozialen Milieus erfolgen.

Da der erste allgemeine Bildungsabschluss in der Regel nach dem neunten Schuljahr erfolgt, wurde eine Zielgruppe angestrebt, die ab der neunten Klassenstufe beginnt und ab dieser Stufe potenziell für alle Jahrgänge zu besuchen ist. Die Beteiligten der Programmentwicklung entschieden sich daher für eine Ausrichtung des Bildungsprogramms an die Klassenstufen 9–13Footnote 4. Das Bildungsprogramm setzte somit an der Schnittstelle zwischen Sekundarstufe I und II an und konnte ab der neunten Klasse von Lerngruppen aller allgemeinbildender Schulformen besucht werden. Diese Einordnung basierte auf den Inhalten der entsprechenden Fachanforderungen des Landes Schleswig-Holstein, in denen zum einen denen thematische Anknüpfungspunkte mit den Themenbereichen 1 (‚Politik betrifft uns‘) und 3 (‚Wirtschaft betrifft uns‘) der Sekundarstufe I existieren (vgl. Ministerium für Schule, Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein, 2016); zum anderen wies das Programm Überschneidungen mit den Vorgaben hinsichtlich der Sekundarstufe II auf. Diese betrafen etwa den Themenbereich ‚Die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland‘ der Einführungsphase und auch den Themenbereich ‚Ökonomie und Ökologie‘ der Qualifikationsphase (vgl. ebd.).

5.2.3.3 Fragestellung

Die Formulierung der ‚Forschungsfrage‘ erfolgte auf Grundlage inhaltlicher Überlegungen und im Anschluss an die Entwicklung des Lernziels des Programms. Da mit dem Programm die Reflexion eigener Handlungsoptionen und -wirksamkeiten individuellen und gesellschaftlichen Engagements angestrebt werden, sollte eine Forschungsfrage diese Aspekte aufgreifen und Anlass zu vertiefenden Diskussionen geben. Eine Überwältigung der Jugendlichen sollte dem Beutelsbacher Konsens entsprechend vermieden werden. Die Formulierung einer Fragestellung, die nach dem bloßen Wie des politischen Engagements fragt, schied auch aus diesem Grund aus. Da die Frage nach konkreten Handlungsoptionen und den möglicherweise zu erreichenden Ergebnissen außerdem in einem größeren demokratischen Zusammenhang stehen, sollte die Frage den entsprechenden Kontext ebenfalls beinhalten. Zudem sollte die Frage an (politik-)wissenschaftliche Fragestellungen anschlussfähig sein, damit Einblicke in einschlägige Denkweisen gewährt werden konnten (Abschnitt 5.2.2). Diese Aspekte aufgreifend erfolgte schließlich die Formulierung folgender Frage:

„Welche Rolle nimmt das Individuum in der demokratischen Gesellschaft ein?“

Die Fragestellung nach Aufgaben und Rolle der Bürgerschaft wird in der politischen Theorie seit jeher kontrovers diskutiert (Abschnitt 2.1.2) und ist bei der Betrachtung demokratischer Ordnungen von hoher inhaltlicher Relevanz. Wie u. a. Steinbrecher erläuterte, gibt es keine Einigkeit hinsichtlich der Frage nach „Eigenschaften und Merkmalen des ‚guten Staatsbürgers‘“ und auch nicht darüber, wie die „ihm zugedachte Rolle“ innerhalb der Demokratie beschaffen ist (2019: 4).

Die Beantwortung der Frage legte hohe Ansprüche an die Jugendlichen an. Nicht nur dass sie Kenntnisse der Staats- und Gesellschaftsordnung ‚Demokratie‘ besitzen bzw. erwerben mussten, sie benötigten darüber hinaus ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit, da die Frage nach der Stellung des Individuums im System, nach dem Zusammenhang des Subjekts ‚Bürger*in‘ mit dem Objekt ‚demokratische Gesellschaft‘ zwangsläufig auf einer abstrakten Ebene angesiedelt war. Es wurde erwartet, dass die Heterogenität von Lerngruppen sich insbesondere auf die Diskussion anlässlich dieser ‚Forschungsfrage‘ auswirken würde. Daher sollten in die Einstiegs- und Abschlussphase Elemente integriert werden, die zu dieser Fragestellung hinführten und diese methodisch vorentlasteten.

Darüber hinaus bildete die Fragestellung einen Ausgangpunkt zur Reflexion nicht nur die Stellung der gesamten demokratischen Bürgerschaft betreffend, sondern auch zur Reflexion der eigenen Rolle in der Demokratie. Die Frage nach der Stellung der gesamten Zivilgesellschaft im demokratischen Prozess eröffnete den Jugendliche, die zum Zeitpunkt ihrer Teilnahme meist noch nicht wahlberechtigt waren, notwendigerweise einen Raum zur Reflexion der eigenen, ganz persönlichen Stellung in der Gesellschaft. Insofern konnte die Untersuchung der vorliegenden Fragestellung einen Beitrag zur Findung der eigenen politischen Identität leisten. Auch dieser Aspekt sollte während des Programms möglichst vor der abschließenden Diskussion aufgegriffen werden. Wie Wolfgang Berg darstellte, ist die Findung einer eigenen politischen Identität gerade im Präadultstadium von hoher Bedeutung für die politische Sozialisation. Jugendliche seien in einer Phase, „in der sie ihren eigenen Weg suchen und nichts so sehr ablehnen wie Fremdbestimmung“ (Berg, 2010: 313). Das Ausbleiben einer politischen Positionierung und politischer Partizipation führe allerdings zur Akzeptanz politisch vorgegebener Strukturen und Inhalte (vgl. ebd.). Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle und eigenen Prinzipien im Rahmen politischer Sozialisation könnte somit einen Beitrag zur politischen Mündigkeit von Jugendlichen leisten.

Die dargestellte Fragestellung sollte als inhaltliche Klammer des Programms und seiner verschiedenen Phasen fungieren. Im Einstieg wurde daher zunächst ein Voraburteil der Lernenden bezüglich dieser Fragestellung erhoben, bevor am Ende des Tags erneut zur Forschungsfrage Stellung genommen wurde. Zur Beantwortung der Fragestellung werteten die Teilnehmenden jedoch kein Daten- oder Textmaterial aus, sondern sie erlebten demokratische Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen demokratischen Handelns selbst, indem sie handelten. Es handelte sich vor allem um Erfahrungen durch Methoden der Interaktion, der Prozessanalyse und der Simulation. Mit diesem Vorgehen sollte eine Brücke geschlagen werden zwischen der Vermittlung politikwissenschaftlicher Denkweisen und schülernahen handlungsorientierten Bildungsformaten, die Interesse und weitere einschlägige individuelle Einflussfaktoren stärkten.

5.3 Ablauf des Programms

5.3.1 Einstieg

Das vorgestellte Programm begann mit einer gemeinsamen Einstiegsphase, an der die gesamte Lerngruppe teilnahm. Zunächst begrüßte der Projektleiter die Lerngruppe und stellte sich sowie das weitere Lehrpersonal vor, sofern eine Vorstellung nicht bereits im Vorhinein erfolgt war. Die Lernenden beschrifteten selbständig Namensschilder, damit sie während des Programms stets namentlich angesprochen werden konnten. Die Klärung anderer organisatorischer Fragen in Zusammenhang mit dem Besuch am außerschulischen Lernort erfolgte ebenfalls in dieser Phase. Diese betrafen beispielsweise die räumliche Orientierung oder Möglichkeiten zur Verstauung persönlicher Gegenstände während des Programms. Danach bat der Projektleiter die Lerngruppe Platz zu nehmen, ehe er in das Thema des Programmtags einführte und zum inhaltlichen Kern des Tags hinleitete.

Die einführende Phase des Programms entwickelte sich entlang einer Präsentation, die Lernende auf einem Smartboard verfolgen konnten. Das Programm begann mit einer kurzen Aktivität. Die Projektleiter stellte den Lernenden mit einer kurzen Beschreibung eine politikwissenschaftliche Kontroverse dar, die sich mit der Rolle der Bürgerschaft in der Demokratie befasste. Die Lehrperson führte dazu kurz in grundlegende Überlegungen zweier demokratietheoretischer Denkrichtungen ein: elitäre Demokratietheorien und partizipative Demokratietheorien (Abschnitt 2.1.2). Diese wurden auf einer Folie durch die Profile zweier Politikwissenschaftler illustriert, die diesen Strängen zugeordnet werden können.

Exemplarisch für elitäre Demokratietheorien war Joseph Schumpeter abgebildet. Den Lernenden wurden die wichtigsten relevanten Merkmale dieser Theorien hinsichtlich der Rolle der Bevölkerung in Formen von Demokratien, die durch elitäre Denkrichtung charakterisiert sind, vermittelt. Innerhalb dieser Theorien wird davon ausgegangen, dass die Bürgerschaft lediglich bezüglich der Auswahl des Führungspersonals einer Demokratie aktiv am politischen Prozess beteiligt ist (Abschnitt 2.1.2). Begründet wird dies u. a. damit, dass politische Fragestellungen in der Regel zu komplex dafür seien, dass die ‚normale‘ Bürgerschaft informierte Entscheidungen über diese treffen könnten. Ansonsten ist die Bevölkerung diesem Verständnis nach in der Demokratie vorwiegend passiv.

Als zweiter demokratietheoretischer Ansatz wurde den Lernenden die partizipative Demokratietheorie präsentiert. Benjamin Barber gilt als wichtiger Vertreter dieser Denkrichtung. In partizipativen Demokratietheorien nimmt die Bevölkerung eine aktivere Rolle ein. Sie ist nicht nur an der Auswahl von Regierungsfunktionären beteiligt, sondern greift darüber hinaus auch abseits regelmäßiger Wahlen in politische Prozesse ein, indem sie auf verschiedenen Ebenen außerparlamentarisch und auch institutionell Einfluss auf politische Entscheidungen nimmt (Abschnitt 2.1.2). Mit der umfassenden Involvierung der Bevölkerung in demokratische Prozesse korrespondiert außerdem ein optimistischeres Menschenbild. Die Bürgerschaft sei demnach, u. a. bezogen auf verfügbare Ressourcen, kognitive und affektive Fähigkeiten, in der Lage, fundierte Entscheidungen zu treffen und sich selbstbestimmt zu beteiligen. Die Gegenüberstellung der theoretischen Ansätze von Schumpeter und Barber in dieser Phase orientiert sich auch an einer entsprechenden Darstellung des Dissenses zwischen den beiden Forschern, die Toralf Stark darlegt (2019: 11; Abschnitt 2.3.5.).

Abbildung 5.1
figure 1

Einstiegsfolie – Rolle der Bürgerschaft in der Demokratie

Nachdem diese beiden Denkrichtungen durch kurze Zusammenfassungen einander gegenübergestellt wurden, wurden die Lernenden das erste Mal selbst um Mitwirkung gebeten. Sie sollten anhand einer Zahl ihre Wahrnehmung hinsichtlich der Rolle der Bevölkerung in der Demokratie der Bundesrepublik äußern (Abbildung 5.1). Die Skala, auf der sich die Lernenden platzieren sollten, reicht von ‚−5‘ bis ‚+5‘, wobei −5 für ein sehr passive Bevölkerung stand, die sich außer bei Wahlen und Abstimmungen nicht an politischen Verfahren beteiligt, während ‚+5‘ für die Einschätzung einer sehr aktiven Bevölkerung stand, die viel mitentscheidet. Die Lehrperson fragte die Zahlen der Skala, beginnend bei ‚−5‘, nacheinander ab und vermerkte diese per Strichliste für alle sichtbar an der Tafel bzw. dem Whiteboard. Danach wurde die Lerngruppe gebeten, sich zu den Ergebnissen der Abfrage zu äußern. Es konnten sowohl kollektive Tendenzen als auch individuelle Entscheidungen erläutert werden. Der Projektleiter fragte insbesondere nach Begründungen, die für die eigene Entscheidung maßgeblich waren. Diese stellten ggf. geeignete Anknüpfungspunkte für weitergehende Reflexionen während der Einstiegs- und während der Abschlussphase dar. In der Einstiegsphase sollten allerdings aus zeitlichen Gründen keine umfassenden Kontroversen in der Beantwortung der Frage erfolgen. Diese fanden erst in der Abschlussphase statt.

Der Einstieg mithilfe der dargestellten Fragestellung erfüllte verschiedene didaktische Funktionen, die für den Ablauf von Bedeutung waren. Erstens aktivierte er die Lernenden zu einem frühen Zeitpunkt und vermied den Einstieg mittels eines ausführlichen Vortrags, der sich möglicherweise negativ auf die Motivation und das Engagement der Lerngruppe auswirken könnte. Zweitens wurde den Lernenden somit direkt zu Beginn verdeutlicht, dass der vorliegende Tag, obschon er sich mit dem Gegenstand ‚Klimawandel‘ befasste, insbesondere die Ausgestaltung von Demokratie und demokratischen Prozessen behandeln würde. Einer Fehlinterpretation, es handele sich vor allem um naturwissenschaftliche Inhalte, die vermittelt werden sollten (Abschnitt 6.2), wurde so vorgebeugt. Drittens stellte die Aktivität mit der Fragestellung nach der Rolle der Bürgerschaft in der Demokratie den didaktischen Rahmen des vorliegenden Programms dar (Abschnitt 5.2.3.3). Daher begann und endete das Programm mit einer Diskussion über diese zentrale Fragestellung. Sowohl im Einstieg als auch im Abschluss boten die Verortungen auf der genannten Skala eine geeignete Basis für vertiefende Diskussionen, denen insbesondere am Ende des Programms der notwendige Raum gegeben wurde.

Nach der einführenden Aktivität hinsichtlich der leitenden politikwissenschaftlichen Fragestellung des Programms erfolgte ein kurzer Vortrag über grundlegende Daten und Fakten hinsichtlich Ursachen, Ausprägung und Folgen des Klimawandels. Die Erwärmung des Planeten wurde anhand einer Grafik, die die monatlichen Durchschnittstemperaturen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen darstellt, veranschaulicht. Die Tendenz ist dabei eindeutig: Die durchschnittlich gemessenen Temperaturen der Erde steigen mit der fortschreitenden Jahreszahl. Belegt wurde dies anhand von Daten der NASA (s. Abschnitt 5.2.1).

Im nächsten Schritt wurden einige Folgen der Erderwärmung erläutert. Zunächst befragte der Projektleiter die Jugendlichen nach Konsequenzen des Klimawandels für das Leben auf der Erde, von denen sie wussten. Anschließend ergänzte die Lehrperson weitere relevante Folgen, sofern dies notwendig war (s. Abschnitt 5.2.1). Das Ziel dieser Phase war nicht die Aufzählung aller potenziellen und realen negativen Folgen des menschengemachten Klimawandels. Stattdessen sollten einige zentrale Aspekte schädlicher Folgen für die Natur und den Menschen genannt werden, um die Notwendigkeit politischer Maßnahmen zu verdeutlichen. In dieser Phase sollten folgende Umstände zur Sprache kommen, die in Abschnitt 5.2.1 dieser Arbeit bereits vertiefend erläutert wurden:

  • Vermehrte Hitzewellen und Dürren in vielen Regionen des Planeten, die u. a. zu einer erhöhten Gefahr durch Waldbrände und zu geringeren Ernteerträge führen können

  • Steigender Meeresspiegel u. a. durch schmelzende Polkappen und Gletscher

  • Häufigere Wasserschäden durch Starkregen, Sturmfluten und Wirbelstürme sowie den steigenden Meeresspiegel

  • Verlust der Heimat für viele Millionen Menschen in Gegenwart und Zukunft, der voraussichtlich zu massiven Migrationsbewegungen führen wird, aus denen neue Probleme resultieren können

  • Asymmetrische Betroffenheit von den Folgen des Klimawandels zulasten ökonomisch schwacher Länder, die historisch am wenigsten zur Entwicklung beigetragen haben und nur geringe Ausgaben für die Anpassung an klimatische Veränderungen aufwenden können

  • Drohender Verlust an Biodiversität auf dem gesamten Planeten, der insbesondere durch Beeinträchtigungen der Lebensräume von Tier- und Pflanzenwelt auftritt und dessen weitreichende Folgen für den Menschen noch nicht absehbar sind

Nach der kurzen diskursiv erarbeiteten Problemdarstellung führte der Projektleiter in die politische Dimension des Klimawandels ein. Der Projektleiter lenkte das Gespräch auf das Pariser Klimaabkommen, in dem sich die überwiegende Mehrheit der teilnehmenden internationalen Staatengemeinschaft auf gemeinsame Ziele zur Eingrenzung der Schäden klimatischer Veränderungen verständigt hat (s. Abschnitt 5.2.1). Die Staatengemeinschaft strebt an, dass der durchschnittliche Temperaturanstieg auf dem Planeten verglichen mit dem vorindustriellen Zeitalter unter 2 °C betragen solle (z. B. Ranke, 2019).

Zu diesem Zweck haben sich teilnehmende Staaten nationale Ziele für die Reduktion ihrer klimaschädlichen Emissionen gesetzt. Deutschlands Reduktionsziele, die im Laufe der Durchführung des vorliegenden Programms verschärft wurden (s. Abschnitt 5.2.1), wurden dem Plenum präsentiert. Zusätzlich erfolgte eine kurze Beschreibung der Umstände, unter denen das Klimaziel für 2020 erreicht werden konnte (ebd.).

Während der COVID-19-Pandemie kamen zeitweise Stimmen auf, nach denen mit der Viruserkrankung bedeutsame (kurzfristige) Vorteile für die Reduktion klimaschädlicher Emissionen einhergehen könnten (vgl. z. B. Charisius, 2020; Nagels, 2020). Um etwaigen Annahmen zu begegnen, dass die Pandemie in der langen Frist der entscheidende Impuls zum Erreichen der Emissionsziele gewesen sein könnte, verwies die Lehrperson auf ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit, als die Emissionen in Folge einer Wirtschaftskrise schnell wieder anstiegen: die weltweite Finanzkrise Ende der 2000er-Jahre. Nach einem kurzfristigen Rückgang klimaschädlicher Emissionen nahmen schon im ersten Jahr nach dem Ausbruch der Krise in Deutschland die industrielle Produktion und damit die Gesamtemissionen wieder deutlich zu.

Anhand der grafischen Darstellung der deutschen Emissionen seit 1990 wurde veranschaulicht, dass eine Wirtschaftskrise, wie sie im Jahr 2020 durch die Pandemie nicht notwendigerweise zu einem dauerhaften Zurückgehen der klimaschädlichen Ausstöße führen muss. Zudem wurden die Reduktionsziele der Bundesrepublik, die zuvor bereits thematisiert worden sind, im Säulendiagramm dargestellt, um die Relationen der angestrebten Entwicklung sowie die für die Zielerreichung notwendige Entschiedenheit der Handlungen verdeutlicht. Zugleich wurde in diesem Zusammenhang die Frage an das Plenum gerichtet, inwieweit bei den Lernenden der Glaube daran vorhanden war, dass Deutschland seine hoch gesteckten Ziele in der Zukunft erreichen würde. Mit dieser Zuspitzung sollte die Lerngruppe einerseits aktiviert werden, nachdem sie zuvor vor allem passiv Informationen aufgenommen hatte, und zum anderen sollte zur Bedeutung des Individuums in der Gesellschaft hingeleitet werden: „Was kann jede Person tun, um die Gesellschaft zu mehr Klimaschutz zu bewegen?“

Um vor den Aktivitäten des Programms Erkenntnisse über das Vorwissen und Voreinstellungen hinsichtlich politischen Handlungsoptionen zu erlangen, wurde diese Frage mittels der kooperativen Online-Plattform Padlet gemeinsam durch die Lerngruppe beantwortet. Die Lernenden sollten die Frage beantworten, wie Individuen in der Gesellschaft handeln können, um Veränderungen zu bewirken. Hiermit waren explizit nicht eigene Verhaltensänderungen gemeint, mit denen man individuell etwas Positives für den Klimaschutz bewirkt (wie beispielsweise häufiger mit dem Fahrrad fahren statt mit dem Auto), sondern solche Handlungsweisen, mit denen man Einfluss auf sein soziales Umfeld bzw. die Gesellschaft nehmen kann. Um einem möglichen Missverständnis zu begegnen, wurde die ursprüngliche Fragestellung in zwei Schritte aufgeteilt: Erstens die individuelle Perspektive der Handlungsoptionen (z. B. Strom sparen) und zweitens die kollektive, die den Gegenstand der Padlet-Aktivität bildet (s. Abschnitt 6.2). Die Lernenden durften zu diesem Zweck ihre privaten mobilen Endgeräte nutzen, um ihre Antworten mitzuteilen. Außerdem stellte die Projektleitung einige Geräte bereit. Die Lerngruppe konnte die Aktivität zudem am Smartboard in der Raumfront verfolgen (Abbildung 5.2).

Abbildung 5.2
figure 2

Padlet-Folie der Einstiegsphase (leer)

Während der Padlet-Phase moderierte der Projektleiter das Gespräch, das sich auf Grundlage der Antworten der Lernenden entwickelte. Insbesondere während der Durchführung in der Einstiegsphase beschränkte sich die Moderation allerdings auf das Stellen weniger vertiefender inhaltlicher Fragen und Verständnisfragen. In der Abschlussphase fand die Diskussion rund um die Padlet-Phase ausführlicher statt (s. Abschnitt 5.3.5). Im ersten Schritt der Padlet-Aktivität waren Teilnehmende aufgerufen, Handlungsweisen zu benennen, mit denen sie und andere Einfluss auf die demokratische Gesellschaft nehmen können. Dies erfolgte etwa durch Tätigkeiten im privaten Umfeld von Individuen. Es waren allerdings auch Handlungsweisen denkbar, die die politische Ebene der Demokratie adressierten. Diese Tätigkeiten wurden von den Teilnehmenden in kleine Wortfelder eingetragen, die vom Projektleiter autorisiert werden mussten, ehe sie auf dem Smartboard und auf individuellen Geräten von anderen Teilnehmenden eingesehen werden können. Danach wurden die Teilnehmenden gebeten, die Beiträge auf inhaltlicher Grundlage sinnvoll zu ordnen.

Im zweiten Schritt erfolgte die Platzierung einer oder mehrerer Pfeile auf der gemeinsam gestalteten Padlet-Abbildung. Diese sollen die Größe des Einflusses des Individuums mit den genannten Tätigkeiten auf das Handeln der Gesellschaft illustrieren. Wurde der Einfluss des Individuums als eher gering betrachtet, platzieren Lerngruppen den kleinen Pfeil. Wurde der Einfluss als hoch eingeschätzt, entschieden sich Lerngruppen für den großen Pfeil. Ein mittlerer Pfeil liegt in der Bedeutung zwischen den beiden Extremen. Es konnten auch mehrere Pfeile platziert werden (Abbildung 5.3).

Nachdem die Vorstellungen der Teilnehmenden zu den Themen ‚individuelles Handeln‘ und ‚Einflussmöglichkeiten auf gesellschaftliche Zustände‘ erhoben wurden, wurde die Lerngruppe inhaltlich und organisatorisch auf die danach folgenden Lernstationen vorbereitet.

Zunächst wurde kurz dargelegt, dass die drei Lernstationen unterschiedlichen Handlungslogiken von Demokratie folgen, die Jugendliche im Laufe des Tages erkunden würden. Außerdem würden sie verschiedene inhaltliche Schwerpunkte des menschengemachten Klimawandels vertiefen. Um die Themenwahl der Stationen zu begründen und den Aufbau des Tageszeitplans zu erläutern, wurde der Lerngruppe eine Grafik mit den bedeutendsten Sektoren des CO2-Ausstoßes in Deutschlands gezeigt. Wichtige CO2-Emittenten, die als Gegenstände der Lernstationen gewählt wurden, lauteten Energiewirtschaft, der Verkehrssektor sowie die Bereiche Landwirtschaft und Ernährung. Die Auswahl der Gegenstände begründete sich u. a. durch den großen Einfluss jener Sektoren auf den Gesamtumfang klimaschädlicher Emissionen in Deutschland (vgl. BMWK, 2022).

Abbildung 5.3
figure 3

Padlet-Folie der Einstiegsphase (Beispiel aus dem Juni 2021)

Im letzten Schritt präsentierte die Lehrperson zusammen mit den Lernenden den Zeitplan des Programmtags. Die Dauer aller Lernstationen war auf 75 Minuten festgelegt. Zwischen den Stationen fanden Pausen statt. Insgesamt nahm das Programm in etwa fünf Zeitstunden in Anspruch. Daraufhin fanden sich die Lernenden in Gruppen zusammen und folgten den ihrer Gruppennummer entsprechenden Lehrpersonen zu ihren Lernstationen, die in der Zwischenzeit für die erste Stationsphase vorbereitet worden waren.

5.3.2 Station Ernährung

Die Lernstation zum Thema Ernährung begann mit der Konfrontation der Lerngruppe mit folgender Schlagzeile des Spiegels: „Iss nur 43 Gramm Fleisch pro Tag, rette die Welt“ (Spiegel, 2019). Der Online-Artikel bezog sich auf Ernährungsrichtlinien, die im Januar 2019 im Rahmen einer Studie durch die EAT-Lancet Commission formuliert wurden. Diese beinhalteten u. a. einen stark eingeschränkten Konsum von Fisch- und Fleischerzeugnissen sowie von Palmöl (vgl. Eat-Lancet Commission, 2019: 451). Die Lernenden deuteten diese Überschrift und gaben ihr Vorwissen zum Thema gesunde und klimabewusste Ernährung wieder. Die Schlagzeile deutete insbesondere die gesundheits- und klimaschädlichen Effekte übermäßigen Fleischkonsums an. Die Lehrperson vertiefte im folgenden Gespräch insbesondere die klimabezogenen Effekte entsprechender Ernährung. Teilnehmende wurden gefragt, welche weiteren Maßnahmen klimaschonender Ernährung ihnen bekannt waren.

Danach zeigte die Lehrperson der Lerngruppe ein Erklärvideo des aid infodienstesFootnote 5, in dem sieben Wege zu einer CO2-Reduktion im Ernährungssektor aufgezeigt werden. Diese reichen von einer deutlichen Reduktion verzehrter Fleisch- und Tierprodukte bis zur Verwendung von modernen und sparsamen Kühlschränken. Auch auf die Bedeutung saisonaler und regionaler Nahrungsmittel sowie die Reduktion von Lebensmittelverschwendung wird eingegangen. Nach dem Betrachten des Videos wurde in der Gruppe gemeinsam über Inhalte und Kommunikationsweisen des Erklärvideos diskutiert. In dieser Phase wurden zum einen inhaltliche Unklarheiten besprochen und zum anderen zur Aufgabe hingeführt, die die Lernenden an dieser Station bearbeiten sollten: selbst ein Video zu produzieren, indem sie in sozialen Medien zu einer Maßnahme hinsichtlich klimaschonender Ernährung aufrufen.

Bevor die Teilnehmenden mit dieser Aufgabe beginnen konnten, mussten sie sich jedoch zuerst in Gruppenarbeit darauf verständigen, welche Maßnahme am geeignetsten wäre, um die Ernährung in Deutschland klimafreundlicher zu gestalten. Dafür stand den Lernenden eine Liste von elf Wegen zu klimafreundlicher Ernährung zur Verfügung, für die sie sich einsetzen konnten. Die Teilnehmenden setzten zunächst in Einzelarbeit hinter drei Optionen ein Kreuz, die sie für geeignet und wirksam hielten. Danach mussten sie sich gemeinsam in ihrer Gruppe auf eine Maßnahme einigen, für die sie im Video werben würden. Bei der Zusammenstellung der Liste wurde darauf geachtet, dass alle elf Optionen valide Wege zu einer klimafreundlicheren Ernährung in Deutschland darstellten, die verschieden stark oder schwach in den Alltag von Adressierten eingriffen. Alle elf Wege stellten sinnvolle mögliche Maßnahmen da, um im Ernährungssektor klimafreundlicher zu agieren. Sie unterschieden sich allerdings in vielerlei Hinsicht voneinander, beispielsweise darin, wie stark sie in das Leben von Menschen eingriffen oder wie viel CO2-Äquivalente eingespart werden könnten.

Nachdem sich die Lernenden in gruppenweisen Diskussionen auf gemeinsame Wege zur Emissionsreduktion im Ernährungssektor geeinigt hatten, erhielten sie den Auftrag, ein Kurzvideo zu drehen, in dem sie zu ihrer gewählten Maßnahme aufrufen und ihre Adressaten von ihrer Botschaft überzeugen sollten. Ein Erklärvideo legte einige methodische Hinweise dar, die den Lernenden bei der Produktion des Kurzvideos unterstützen sollten. Diese betrafen etwa die Kernaussage des Videos, die Wahl entsprechender Bilder sowie die Entwicklung einer stimmigen Geschichte zur Vermittlung ihrer Botschaft. Die Jugendlichen entschieden selbst, ob sie mit ihrem Video andere Konsumierende, Akteure aus der Wirtschaft und/ oder Personen aus der Politik adressieren wollten. Dazu sollten sie das Publikum über bestimmte Folgen ernährungsbezogener Handlungen informieren und schließlich dazu überzeugen, bestimmte Handlungen durchzuführen.

Für die Videoproduktion standen den Kleingruppen Tablets, Stative, Requisiten zur Verfügung sowie statistisches Material, die sie als Informations- und Argumentationsgrundlage nutzen konnten. Weitere Hintergrundinformationen konnten die Teilnehmenden ebenfalls auf den bereitgestellten digitalen Endgeräten sowie mithilfe privater Hardware recherchieren. Die Lehrperson machte die Lerngruppe dafür vor der Erarbeitungsphase mit dem Tablet und der installierten Videoproduktionssoftware vertraut. Während der Produktionsphase griff sie vor allem aus pädagogischen Gründen dann ein, wenn sie dies für den weiteren erfolgreichen Verlauf der Lernstation für nötig befand. Dies konnte insbesondere die zeitliche Dimension der Aktivität betreffen, die aufgrund ihres hohen Maßes an Kreativität und Autonomie der Lenkung durch die Stationsleitung bedurfte.

Nachdem die Kleingruppen ihre Videos fertig gestellt hatten, überspielte die Lehrperson die produzierten Videos auf einen PC, um sie am Smartboard der gesamten Gruppe an der Station vorzuspielen. Nach der gemeinsamen Betrachtung der Videos erfolgte eine kurze Reflexion und Bewertung der erarbeiteten Produkte im Gruppengespräch. Die Diskussion über die produzierten Videos bildeten außerdem den Einstieg in die Vertiefungsphase am Ende dieser Lernstation (s. Kapitel 6). Lernende sollten die gesellschaftliche Dimension ihrer Handlungen an der Station reflektieren und dazu Stellung nehmen, ob diese Handlungen demokratischen Charakter aufwiesen. Im Folgenden wird kurz auf erwartete Antworten dieser Phase eingegangen.

Zunächst wurden an dieser Station innerhalb einer Kleingruppe ein gemeinsames Ziel und ein gemeinsames Vorgehen verabredet. Normalerweise gelang dies erst nach einer Aushandlung über Vor- und Nachteile verschiedener inhaltlicher und methodischer Ansätze, die diskursiv erfolgte. Meinungsverschiedenheiten innerhalb von Kleingruppen mussten akzeptiert und diskutiert werden. Danach agierten sie aufklärerisch und persuasiv, um das gemeinsame Ziel ihrer kleinen Gemeinschaft zu erreichen. Im nächsten Schritt wurde darüber diskutiert, ob mit diesen individuellen bzw. kollektiven Handlungen gesellschaftliche Veränderungen bewirkt werden konnten, um Potenziale und Grenzen von sozialen Engagements, beispielsweise in Form von Demonstrationen oder Social-Media-Beiträgen zu erarbeiten. Hier galt es die Effektivität der Aktivität hinsichtlich der Schaffung gesellschaftlicher Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Thema, der Überzeugung von Einzelpersonen oder gar die Erwirkung konkreter, auch legislativer, Maßnahmen kritisch zu reflektieren. Als Ankerbeispiel wurde in dieser Phase ein Auszug aus der Einschätzung des Soziologen Schäfer aus dem Jahre 2019 genannt, der sich mit Bezug auf die FFF-Proteste in Deutschland und anderen Ländern gegenüber dem Deutschlandfunk folgendermaßen äußerte:

Was die Fridays-for-Future-Bewegung sicherlich gut macht und was die Wissenschaft möglicherweise nicht immer so gut gemacht hat, ist, dass sie ganz, ganz klar die Politik adressiert und dass sie die Politik adressiert auf eine Weise, die öffentlich und dann auch letztlich über den Umweg über die Öffentlichkeit oder über die mediale Öffentlichkeit auch die Politik erreicht. Man hat das Thema stärker auch emotionalisiert, man hat das an Köpfen aufgehängt – Greta Thunberg ist das bekannteste Beispiel –, aber das Thema emotional auf die Agenda setzen, die individuelle Betroffenheit, die die Jugendlichen auch deutlich machen, das geht uns was an. Das betrifft uns, das ist unser Leben, über das ihr hier entscheidet. Und das haben die gemacht mit einem Atem, der deutlich länger war als viele Beobachter und ich muss zugeben auch ich das für möglich gehalten hatten. Und das ist auch etwas, was dann langsam natürlich mehr und mehr Druck aufbaut, der schwieriger und schwieriger zu ignorieren ist. Und das war tatsächlich sehr, sehr effektiv. (Deutschlandfunk, 2019)

Der Bezug auf die FFF-Bewegung sollte einerseits offensichtliche inhaltliche Schnittmengen des vorliegenden Programms sowie der vorliegenden Lernstation mit den Inhalten der Klimabewegung aufgreifen und andererseits Parallelen zwischen gemeinsamer prosozialer und proökologischer Aktivität in sozialen Netzwerken und in friedlichen Demonstrationen aufzeigen. Auch für die Organisation großer und wirkungsvoller Klimaproteste mussten einzelne Jugendliche sich auf Vorgehen und Forderungen an relevante Akteure einigen und danach selbst tätig werden (, wenngleich offensichtliche Unterschiede hinsichtlich Größe, Methodenwahl und Medienpräsenz der Freitagsdemonstrationen und der Produktion von Videos an der vorliegenden Lernstation bestanden). Darin lag der demokratische Charakter der Handlungen an dieser Station. Anhand dieses Beispiels sollte verdeutlicht werden, dass demokratische Handlungen nicht bloß in institutionellen und parlamentarischen Kontexten stattfinden können, sondern auch im gesellschaftlichen Miteinander (s. Abschnitt 3.2.3).

Der zweite Aspekt, den es an dieser Stelle zu reflektieren galt, ist die Effektivität der Bewegung. Bei vielen Jugendlichen herrscht die Wahrnehmung vor, die Klimaproteste hätten (noch) nicht zu hinreichenden Reformen durch politische Akteure geführt (vgl. Calmbach et al., 2020: 452; ebd.: 567 f.). Schäfer ging auf den Druck ein, den die Politik auf Dauer nur schwierig ignorieren könne. Wirtschaftspolitische Entscheidungen (BMWK, 2020) und nicht zuletzt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Bundesverfassungsgericht, 2021) verdeutlichten indes, dass die Klimainteressen vom politischen System der Bundesrepublik auf immer mehr Ebenen beachtet wurden. Die von vielen Jugendlichen wahrgenommene Machtlosigkeit im Bereich des Klima- und Umweltschutzes (vgl. Calmbach et al., 2020) wurde an dieser Stelle reflektiert, indem die Relevanz zivilgesellschaftlichen Handelns für politische Entscheidungen zumindest als teilweise gegeben herausgestellt wurde.

Zuletzt beantworteten die Lernenden die Frage, ob sie sich vorstellen könnten, Teile der Gesellschaft durch soziales Engagement zu überzeugen oder nicht. Ihre (nicht) vorhandene Bereitschaft sollten sie abschließend begründen. Wie in allen Vertiefungsdiskussionen wurde die Frage nach eigener Handlungsbereitschaft jedoch nicht suggestiv formuliert, sodass ihre Handlungsbereitschaft eingefordert werden würde. Stattdessen wurde betont, dass es an dieser Stelle keine richtige und keine falsche Antworten gebe, sondern lediglich ein Meinungsbild erhoben werden soll, über das kurz gesprochen wird. Teilnehmende sollten auf diese Weise ihre eigene Rolle in der Gesellschaft reflektieren und ggf. darüber nachdenken, ob ein solches prosoziales oder proökologisches Engagement für sie in Frage käme.

Die Lernstation erwirkte somit ein gemeinsames Engagement der Teilnehmenden im gesellschaftlichen Nahraum. Sie mussten sich zunächst auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen, das der Entwicklung und Organisation zivilgesellschaftlicher Initiativen nachempfunden war. Das Ziel des Klimaschutzes war den Teilnehmenden gemein, doch die Methode für das Erreichen dieses Ziels legten die Beteiligten gemeinsam fest. Danach wurde die Umsetzung gemeinschaftlich diskutiert. Es mussten Entscheidungen hinsichtlich des Formats, der Adressaten des Vorgehens und hinsichtlich der konkreten Forderungen getroffen werden. An dieser Stelle konnten Meinungsverschiedenheiten auftreten, die es im Prozess auszuhandeln galt. Nach dem Austragen dieser Meinungsverschiedenheiten betätigten die Lernenden sich gemeinsam im Rahmen gesellschaftlicher Meinungs- und Willensbildung.

5.3.3 Station Verkehr

Eine Meldung über Greta Thunberg bildete den Ausgangspunkt für die Lernstation zum Thema Verkehr. Auf der Grafik der Tagesschau (2019a) ist die Schwedin auf einem Segelboot zu sehen. Das Bild ist mit dem Schriftzug „Greta segelt nach Amerika“ versehen. Die Meldung nahm Bezug auf Thunbergs Reise zur UN-Konferenz, die sie aus Klimaschutzgründen mit dem Segelboot anstatt mit dem Flugzeug realisierte (Süddeutsche Zeitung, 2019).

Im Einstieg wurde erstens das Vorwissen der Lerngruppe zu den Themenbereichen ‚Klimaaktivismus‘ und ‚Fridays for Future‘ aktiviert und für die Lehrperson sichtbar gemacht. Zweitens wurde zu Beginn der Einheit der mögliche Verzicht auf Geschwindigkeit und Komfort auf Flugreisen aus Gründen des Klimaschutzes angesprochen. In der Folge wurde der Bezug von Thunbergs Flugverzicht auf die Situation der Teilnehmenden an der Lernstation hergestellt. Die Stationsleitung äußerte gegenüber der Lerngruppe, dass Anfragen in den Senaten von Hamburg und Berlin ergaben, dass vor Beginn der COVID-19-Pandemie bis zu knapp einem Viertel der Klassenfahrten und Schüleraustausche an weiterführenden Schulen mit dem Flugzeug durchgeführt wurden.Footnote 6 Die Stationsleitung fragt die Teilnehmenden daraufhin, mit welchen Maßnahmen Lernende im Kontext von Klassen- und Schulreisen zum Klimaschutz beitragen könnten. Im anschließenden Gespräch entwickeln die Teilnehmenden die Frage, die an dieser Station diskutiert wird: „Sollten Schulen aus Klimaschutzgründen auf Flugreisen verzichten?“.

Danach leitete die Lehrperson zur folgenden Simulation einer Schulkonferenz über, die die Teilnehmenden durchführen werden. Zur näheren Erläuterung des Szenarios sowie der Aufgabenstellungen für die Lernenden spielte die Lehrperson ein zweiminütiges Erklärvideo ab. Die Schulkonferenz fand an der fiktiven Otto-Lilienthal-Gesamtschule statt, die sich im ländlichen Schleswig-Holstein befindet. Eltern, Lehrkräfte und Schülerschaft seien aufgefordert, darüber zu entscheiden, ob Oberstufenfahrten sowie Austausche weiterhin mit dem Flugzeug realisiert werden dürften oder ob künftig auf andere Verkehrsmittel wie Busse oder Bahn ausgewichen werden sollte.

Die Lernenden wurden im Anschluss an das Video gefragt, wie sie der Leitfrage der Station nach dem Flugverzicht an ihrer Schule gegenüberstanden. Das Meinungsbild, das sich aus dieser kurzen Abfrage ergab, bildete für die Lehrperson eine Hilfestellung in der folgenden Rollenzuteilung sowie eine erste Erkenntnis über möglicherweise vorliegende individuelle Tendenzen innerhalb der Lerngruppe, auf die ggf. reagiert werden konnte. Nachdem die Teilnehmenden sich durch Aufzeigen entweder pro oder contra Flugverbot geäußert hatten, erklärte die Stationsleitung die Mehrheitsmeinung zur Meinung der Schülerschaft in der darauffolgenden Simulation. Die Meinung der Gruppe der Lernstation bestimmte somit über die Ausrichtung der Schülerschaft im Szenario.

Im Zuge der Rollenzuteilung fragte die Lehrperson zunächst, welche Teilnehmenden gern die Diskussionsleitung übernehmen würden. Dann wurden die übrigen Rollen, sofern das Meinungsbild der Lernenden dies zuließ, entsprechend ihrem persönlichen Urteil in eine Pro-Flugverzicht- und eine Contra-Flugverzicht-Gruppe eingeteilt.Footnote 7 Beide Gruppen erhielten Informationsmaterial für ihre Position. Das Material bestand aus Text- und Bildquellen, die in der folgenden Erarbeitungsphase von den Teilnehmenden erschlossen werden sollten. In der darauffolgenden Vorbereitungsphase erarbeiteten die Lernenden Argumente, Belege und Beispiele für ihre jeweilige Position und besprachen in ihrer Gruppe eine gemeinsame Strategie für die folgende Diskussion. Die Konferenzleitung erhielt neben den Informationsmaterialien beider Diskussionsgruppen ein Arbeitsblatt mit Aufgabenstellungen und Hilfen für die erfolgreiche Moderation der Schulkonferenz. Die Lehrperson bereitete währenddessen die Tisch- und Stuhlordnung für die Konferenzsimulation vor und unterstützte die Gruppen bei ihren Vorbereitungen.

Danach diskutierte die Lerngruppe über die Frage, ob an der fiktiven Schule, mit der sie in ihren Rollen assoziiert waren, Flugreisen verboten werden sollten. Die Konferenzleitung sorgte neben einem geregelten Ablauf der Diskussion und dem Einhalten der Rollenvorgaben auch für eine Auflistung von Argumenten und Gegenargumenten der Diskutierenden. Diese diente im Anschluss an die Diskussionsphase als Grundlage für die Entscheidung der Konferenzleitung, die den anderen Teilnehmenden transparent dargelegt wurde. Die Personen der Konferenzleitung konnten entweder als ordentliche Mitglieder der Pro-Seite oder der Contra-Seite zustimmen, damit der Antrag der Schülerschaft angenommen bzw. abgelehnt würde. Die Konferenzleitung konnte im Anschluss an die Diskussion allerdings auch gemeinsam mit den anderen Teilnehmenden eine Kompromisslösung erarbeiten, der alle Beteiligten zustimmen konnten. Die Lehrperson trat in diesem Prozess, wenn überhaupt, im Hintergrund auf und unterstützte die Konferenzleitung bei der Moderation. Grundsätzlich sollte diese Phase allerdings von den Lernenden selbst angeleitet und durchgeführt werden. Da ein eindeutiges Ergebnis benötigt wurde, waren bei der abschließenden Abstimmung Enthaltungen untersagt.

Nach dem Ende der Simulationsphase übernahm erneut die Lehrperson die Moderation des Unterrichtsgesprächs. Zunächst bat sie die Teilnehmenden aus ihren Diskussionsrollen auszutreten und ihre privaten Gedanken zur Fragestellung zu äußern. Nachfragen der Lehrperson konnten sich beispielsweise auf das eigene Abstimmungsverhalten, überraschende Erkenntnisse aus der Diskussion oder Meinungswechsel durch die Diskussion beziehen. Danach wurden die Lernenden nach ihrer emotionalen Verfassung während der Diskussion befragt. Dies zielte insbesondere auf Auswirkungen von Gegenmeinung, Abstimmung und den erlebten Mehrheiten ab.

Zuletzt wurden Verlauf und Ergebnis der simulierten Schulkonferenz gemeinsam im Unterrichtsgespräch reflektiert, sofern dies nicht schon zuvor erfolgt war. Insbesondere die für die Diskussionsgruppen positiv bzw. negativ verlaufenen Abstimmungen mitsamt den Konsequenzen wurden hier betrachtet. Außerdem wurden Lernende befragt, ob sie das Szenario der Schulkonferenz für realistisch hielten. Hiermit sollte nicht nur ein Reflexionsprozess bei den Teilnehmenden ausgelöst werden, sondern es sollten auch Unterschiede und Gemeinsamkeiten der simulierten Diskussion mit realen Schulkonferenzen aufgezeigt werden. Unterschiede betrafen beispielsweise das fiktive Szenario einer zweigeteilten Schulkonferenz, in der die Schülerschaft nach einer Sache verlangte und die ‚Erwachsenen‘ dieser Position gegenüberstanden. Die Lehrperson stellte diesbezüglich klar, dass dieses ‚Jung gegen Alt‘ zwar im vorliegenden Setting gewählt wurde, es dennoch nicht der allgemeinen Realität von Schulkonferenzen entspricht. Andere Gemeinsamkeiten und Unterschiede konnten das Diskussionsverhalten der teilnehmenden Gruppe, die Inhalte der Diskussion, zeitliche Aspekte oder die formale Organisationsform betreffen.

Danach erfolgte eine Reflexion der Handlungsweisen an dieser Lernstation. Während der Schulkonferenz hatten Lernende vor allem diskutiert und argumentiert. Möglicherweise haben sie auch nach Abstimmungen einen Kompromiss erreicht. Im nächsten Schritt sollten sie außerdem begründet Stellung nehmen, inwiefern diese Handlungen aus ihrer Sicht demokratisch oder undemokratisch waren. In der Reflexion sollte besonders darauf eingegangen werden, dass sich demokratisches bzw. politisches Handeln auch in Institutionen des alltäglichen Umfelds der Teilnehmenden vollzog. Nicht nur Schulen sind in Deutschland demokratisch gestaltet, sondern auch Sportvereine oder kommunale Verwaltungen. Die Schulkonferenz, das höchste repräsentative Gremium an Schulen, funktioniert dabei in seinen Grundzügen ähnlich wie politische Institutionen eines engeren Begriffsverständnisses. Auch hier entscheiden repräsentativ gewählte Personen stellvertretend für die Gruppen, die sie in das Gremium entsenden. Es werden Standpunkten und Interessen jener Gruppen ausgetauscht, ehe eine verbindliche Entscheidung per Abstimmung und Mehrheitsprinzip gefällt wird. Initiativen, über die die Schulkonferenz entscheiden, können aus dem unmittelbaren Nahraum der Lernenden hervorgehen und werden möglicherweise von Jugendlichen mitentschieden, die sich aktiv für einen Zweck einsetzen. Mit der Station ‚Verkehr‘ wurde somit ein Übergang zur dritten Station ‚Energie‘ gebildet, die im Folgekapitel beschrieben wird.

Mit einem letzten Impuls rückte die Lehrperson die simulierte Schulkonferenz in den realen lebensweltlichen Kontext, in der sie in dieser Form stattgefunden haben könnte. Es wurde eine Zeitungsmeldung der Kieler Nachrichten gezeigt, aus der hervorgeht, dass die Schulkonferenz des Gymnasiums Kronshagen im Jahr 2019 beschloss, auf Flugreisen im Rahmen von Schulveranstaltungen bis auf weiteres zu verzichten (Sötje, 2019). Im Fall der Schule aus dem Kieler Umland war es die Schülerschaft, die sich für eine klimabewusste Lösung einsetzte und schließlich die anderen Mitglieder der Schulkonferenz von ihrem Anliegen überzeugte. Anhand der gewählten Schlagzeile sollte illustriert werden, dass Lernende in Schuldemokratien, entgegen eventuellen Alltagsvorstellungen, durchaus über Möglichkeiten verfügen, das Schulleben in ihrem Sinne mitzugestalten. Das vorliegende Szenario, in dem die Schülerschaft ebenfalls mit einem Antrag hinsichtlich Flugreisen im Rahmen von Schulveranstaltungen an die Schulkonferenz herantrat, orientierte sich demnach am realen Fall eines Gymnasiums aus dem Kieler Umland. Dass sich diese Schule nur in einigen Kilometern Entfernung zur Kieler Forschungswerkstatt befindet, konnte zudem zum lokalen Bezug der teilnehmenden Schulklasse beitragen.

Es schloss sich die Frage an, inwiefern jugendliche Repräsentant*innen in demokratischen Gremien wie der Schulkonferenz oder einem lokalen bzw. kommunalen Jugendrat eine Möglichkeit dazu haben, ihre Anliegen in der Gesellschaft durchzusetzen. Es sollte auch besprochen werden, welche Widerstände auftreten könnten und wie man diesen begegnen könnte. Am Schluss der Lernstation fragte die Lehrperson die Teilnehmenden, ob sie bereit wären, sich selbst in einer ähnlichen Situation für ein repräsentatives Amt aufstellen zu lassen. Die Lernenden sollten ihre Antwort ggf. mit Rückbezug auf das Erlebte an der Lernstation begründen.

5.3.4 Station Energie

An der Station ‚Energie‘ präsentierte die Lehrperson der Lerngruppe zu Beginn das Symbol der Lernstation, das auf der Eingangsfolie der Präsentation verwendet wurde. Die Abbildung zeigte eine Steckdose, in der ein grüner Stromstecker platziert ist. Die Stationsleitung forderte die Teilnehmenden auf, sich zu dem Bild zu äußern und es ggf. zu interpretieren. Der grüne Stecker könnte aussagen, dass es sich bei beim deutschen Strom um besonders umweltfreundliche Energie handelt. Damit ist gemeint, dass im Prozess der Energieschöpfung wenig oder keine umwelt- und klimaschädlichen Emissionen freigesetzt werden. Die Lehrperson fragte daraufhin, inwieweit der Strom in Deutschland tatsächlich ‚grün‘ ist, also umweltfreundlich produziert wird. Die Teilnehmenden äußerten in der Folge ihre Vorkenntnisse bezüglich der Umweltverträglichkeit in der deutschen Stromerzeugung.

Nachdem die Lernenden über diesen Sachverhalt spekuliert hatten, zeigte die Lehrperson eine Grafik der Nettostromerzeugung in Deutschland des ersten Halbjahrs 2019 (Miebach, 2019). In einem Kreisdiagramm wurden die wichtigsten Quellen der deutschen Stromerzeugung abgebildet: Die Gesamtheit erneuerbarer Energien (vor allem Windkraft, Solarenergie, Biogas und Wasserkraft) machte einen Anteil von 47.3 % aus und hat somit den größten Anteil der Stromerzeugung ausgemacht. Die Stromerzeugung dieser Energieformen kann trotz teils aufwendiger Produktionsprozesse entsprechender Anlagen als ‚grün‘ bezeichnet werden, da der Betrieb in der Regel keine klimaschädlichen Emissionen verursacht. Die zweitgrößte Quelle elektrischen Stroms bildete im ersten Halbjahr 2019 der Kohlestrom mit einem Anteil von insgesamt 29.9 %. Der Prozess der Kohleverstromung ist aufgrund der umfassenden Emissionen, die er verursacht, als sehr klimaschädlich zu betrachten. Darüber hinaus gehen mit dem Abbau von Braun- und Steinkohle enorme Umweltschäden einher, die in jüngerer Vergangenheit teilweise in den Fokus medialer Berichterstattung gerieten. Beispiele hierfür sind die Proteste um den Hambacher Forst 2018 oder die Demonstrationen in Lützerath Anfang des Jahres 2023 (Striewski, 2023). Weitere abgebildete Stromquellen sind die Atomkraft mit 13.1 % und Erdgas mit einem Anteil von 9.3 % an der Gesamtstromerzeugung.

Die Grafik wurde den Lernenden jedoch leicht bearbeitet präsentiert. Der Name der Energieart, die in der Abbildung in schwarz eingefärbt ist und 29.9 % der Nettostromerzeugung auf sich vereint, war verdeckt. Nachdem die Anteile der sonstigen Energiearten im Plenum durchgegangen und ggf. geklärt worden waren, fragte die Lehrperson die Lerngruppe, welche Energieart sich hinter etwas weniger als einem Drittel der deutschen Stromerzeugung von Januar bis Juni 2019 verbergen könnte. Die richtige Antwort lautete: Kohleenergie. Auf diese Weise erfragte die Lehrperson erneut mögliches Vorwissen, das von großer Relevanz für die Durchführung der vorliegenden Lernstation war. In der Durchführung dieser Einstiegsphase war es zentral für das Gelingen der Lernstation, dass die Lerngruppe über die kurz dargestellten basalen Kenntnisse über die Verstromung von Kohle verfügte. War dies nicht der Fall, musste die Stationsleitung diese Informationen bereitstellen. Daher wurden die Lernenden nach ihrem Vorwissen zur Kohleenergie befragt. Es wurde herausgearbeitet, dass die Kohleenergie starke CO2-Emissionen verursacht und somit eine große Belastung für das globale Klima darstellt. Schon Mitte der 2010er-Jahre mehrten sich Stimmen in der Bevölkerung, die sich gegen Kohleabbau und -verstromung aussprachen.Footnote 8

Dieser Umstand bildete den Übergang zur nächsten Folie, die die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung des ZDF-Politbarometers von Anfang 2019 präsentierte. Die Umfrage ergab, dass 73 % der Befragten einen möglichst schnellen Ausstieg aus der Kohleenergie als wichtig oder sehr wichtig erachteten. Neben der Ja/ Nein-Zustimmung bildete die Grafik auch die Zustimmung unter der Anhängerschaft verschiedener Parteien ab. Diese zeigte auf, dass (mit der Ausnahme der AfD) die Mehrheit der Anhängerschaften aller im Bundestag vertretenen Parteien einen möglichst schnellen Ausstieg aus der Kohlekraft für wichtig bzw. sehr wichtig halten.

An dieser Stelle wurde die Lerngruppe erneut nach etwaigen Vorwissen zum Thema befragt. Da während der Durchführung der vorliegenden Studie Gesetzesbeschlüsse zum verbindlichen Ausstieg gefasst wurden, fragte die Lehrperson, ob die Lerngruppe mit der beschlossenen Jahreszahl des Kohleausstiegs vertraut war. Sofern dies der Fall war und jemand aus der Lerngruppe eine korrekte bzw. fast korrekte Jahreszahl nennt, wurde die Lerngruppe gefragt, ob das Jahr 2038 (bzw. möglicherweise 2035) für sie einen ‚möglichst schnellen‘ Ausstieg darstellte, wie dies in der Befragung durch die Bevölkerung gefordert wurde.Footnote 9 Nach meist verneinender Antwort leitete die Lehrperson über, indem sie der Lerngruppe mitteilte, dass sie heute ihren eigenen Kohleausstieg verhandeln würde und sie die Chance hätte, einen schnelleren Ausstieg zu erreichen. Konnten die Teilnehmenden an dieser Stelle nicht die korrekte Jahreszahl benennen, erfolgte die Aufklärung der Lerngruppe über das tatsächlich beschlossene Datum erst in der vertiefenden Diskussion am Ende der Lernstation. Auf diese Weise sollte Neugier auf Seiten der Lerngruppe geschaffen werden.

Daraufhin erläuterte die Lehrperson das fiktive Szenario, in dem die Lernenden an dieser Station agieren würden. Zunächst wurde die Lerngruppe hierfür gefragt, wo in Deutschland Gesetze beschlossen werden. Nachdem die Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat (in manchen Fällen) korrekt benannt worden waren, machte die Lehrperson die Lerngruppe mit den Symbolen vertraut, die fortan die beiden Parlamente versinnbildlichen würden. Diese fanden sich auf den weiteren Lernmaterialien und Namensschildern wieder. Es wurde erläutert, dass alle Teilnehmenden einem der beiden Parlamente angehören und die Rollen von gewählten Politiker*innen einnehmen würden.

Das gewählte Szenario verortete sich folglich in zwei Kammern und gliederte sich weiter in zwei fiktive Parteien, die in einer Regierungskoalition in beiden Parlamenten die Mehrheit stellten. Diese Parteien hießen ÖSP (Ökologisch-Soziale Partei) und PFW (Partei für freies Wirtschaften). Während sich die ÖSP vor allem für den Schutz der Umwelt und des Klimas einsetzte, profilierte sich die PFW vor allem als Partei, die sich für Arbeitsplätze und eine starke Wirtschaft einsetzt. Neben ihrer Regierungsverantwortung im Bund regieren beide auch in den Bundesländern. Im vorliegenden Szenario wurde auf zwei der 16 Bundesländer eingegangen. In Niedersachsen regierte die ÖSP und in Sachsen-Anhalt die PFW. Vertreter*innen beider Parteien nahmen also in Bundestag und Bundesrat an Sitzungen und Abstimmungen teil, bildeten formell zwar unabhängige Fraktionen, gehörten aber denselben Parteien an. In der Auswahl der Bundesländer wurde je ein Land ohne Kohle- und ein Land mit Kohleindustrie eingebunden. Auf diese Weise wurde der Kontroversität der Standpunkte hinsichtlich der Kohlekraft und ihrer Konsequenzen Rechnung getragen.

Bevor den Lernenden ihre Partei- und Parlamentszugehörigkeiten zugelost wurden, erläuterte ein animiertes Erklärvideo ihnen die Aktivität der Station. Ziel der Verhandlungen war es, einen Konsens über ein Gesetz zum Kohleausstieg zu erreichen, dem sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat zugestimmt würde. Wie in der Realität kommt dieses Gesetz, das stark in die Belange der Bundesländer eingreift, nur zu Stande, wenn beide Parlamente zugestimmt haben. Daher mussten Akteure Einigungen hinsichtlich zweier Faktoren finden. Erstens: dem Zeitpunkt für den geplanten Kohleausstieg. Hierfür musste eine ganze Jahreszahl gefunden werden. Monatsangaben innerhalb dieser Jahre waren nicht zulässig. Zweitens: Die Parteien konnten sich auf die Zahlung einer Strukturförderung für Bundesländer einigen, deren Wirtschaft negativ vom Kohleausstieg beeinflusst werden würden. Diese musste in ganzen Milliarden Euro angegeben sein. Auf die Einbindung weiterer möglicher Variablen wie Vorgaben für den Abbau von Braunkohle oder die Angabe einer Höchstmenge von zu verstromender Kohle wurde im Zuge der didaktischen Reduktion verzichtet. Die Ergebnisse der beiden genannten Variablen hatten konkrete Auswirkungen auf die Parteien. Je stärker der Gesetzesbeschluss den Erwartungen und Präferenzen der eigenen Wählerschaft entsprach, desto positiver wirkte sich der Beschluss auf die Umfragewerte der eigenen Partei aus. Sowohl der Zeitpunkt des Ausstiegs als auch die Höhe der Fördergelder beeinflussten den Gesamteffekt des Beschlusses. Die Auswirkungen beider Werte wurden addiert. Daher konnte ein für die Interessen einer Partei ungünstiges Ausstiegsjahr ggf. durch eine günstigere Fördermenge ausgeglichen werden.

Bevor mit den Verhandlungen begonnen werden konnte, wurden der Lerngruppe die Regeln, die während der Simulation zu beachten waren, mithilfe eines animierten Erklärvideos erklärt. Die wichtigsten lauten: Es durften nur die Teilnehmenden der aktuellen Sitzungsphase sprechen. Die Dauer jeder Sitzung wurde von der Stationsleitung vorgegeben. Diese begann und beendete Sitzungen mit einem deutlich hörbaren Gong-Signal. Damit Beschlüsse angenommen werden konnten, mussten alle Vertreter*innen der Regierungskoalition in Bundestag und Bundesrat der Einigung zustimmen. Enthaltungen waren nicht erlaubt. Scheiterten die Verhandlungen, würden allen beteiligten Parteien und Fraktionen 10 Prozentpunkte von ihren Umfragewerten abgezogen. Der Zeitplan der Station ließ eine tiefgreifende inhaltliche Aufklärung über etwaige biologisch-physikalische Aspekte der Kohleverstromung indes nicht zu. Aus diesem Grund fokussierte die Lernstation insbesondere die Gegenüberstellung zwischen wirtschaftlichen Interessen und ökologischen Motiven bezüglich der Stilllegung von Kohlekraftwerken. In diesem Sinne fand in der Konzeption der Lernstation eine didaktische Reduktion statt.

Die Verhandlungen wurden in der Folge durch die Stationsleitung geleitet. Diese erläuterte die Phasenabfolge anhand des vorne präsentierten Ablaufprotokolls, dass sich im Laufe der Lernstation vervollständigte, rief die beteiligten Akteure an den Verhandlungstisch und gewährleistete die Einhaltungen der Zeitvorgaben. In den Verhandlungen agierten die Lernenden selbständig. Die Lehrperson meldete sich lediglich bei Verständnisfragen oder offensichtlichen Fehlern zu Wort. Die Phasierung der folgenden Verhandlungssimulation orientierte sich am formellen Gesetzgebungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat. Hierbei war zu beachten, dass dieser Ablauf deutlich vereinfacht und gekürzt wurde. Die Lernenden nahmen Rollen von Bundesumwelt- und -wirtschaftsminister*innen ein, von Mitgliedern eines Bundestagsfachausschusses, von Ministerpräsident*innen Niedersachsens und Sachsen-Anhalts sowie von Landesumwelt- und Landeswirtschaftsminister*innen dieser Bundesländer.

Nachdem Setting und Ablauf der Verhandlungen erläutert worden waren, erläuterte die Lehrperson die erste Phase, in der sich alle Fraktionen mit ihrem Arbeitsmaterial vertraut machten und eine Herangehensweise für die Verhandlungen erarbeiteten. In der nächsten Phase vereinbarten die Bundesministerien der Umwelt sowie der Wirtschaft einen ersten Gesetzesentwurf, der ein Ausstiegsjahr und eine Menge an Fördergeldern benannte.

Danach präsentierte die Stationsleitung den Teilnehmenden zwei fiktive Stellungnahmen realer Fachverbände, die über den formulierten Kompromiss der Ministerien in Kenntnis gesetzt sind. Greenpeace und der Bundesverband Braunkohle äußerten sich, obgleich aus unterschiedlichen Gründen, kritisch über die Einigung und forderten Änderungen am Gesetz. Danach fand sich der zuständige Fachausschuss des Bundesrats zusammen und beriet über den Vorschlag der Bundesministerien. Der Bundesratsausschuss formulierte keinen eigenen Gesetzesvorschlag, sondern kommentierte lediglich die erste Fassung. Die Abgeordneten im Bundestag diskutierten im Anschluss daran etwaige Änderungen am Beschluss, die aus Äußerungen von Fachverbänden und Interessengruppen bzw. des Fachausschusses des Bundesrats hervorgehen könnten. Der bereits bestehende Beschluss konnte allerdings auch unverändert weiterverfolgt werden (Abbildung 5.4).

Abbildung 5.4
figure 4

Ablaufprotokoll der Station ‚Energie‘

Im nächsten Schritt wurden fiktive Zeitungsmeldungen verlesen. Diese handelten von den Protesten im Land, die sich angesichts des sich abzeichnenden Gesetzesbeschlusses formierten. So demonstrierten zum einen Mitglieder von FFF bundesweit gegen einen zu späten Ausstieg aus der Kohlekraft. Zum anderen gab es Demonstrationen in Magdeburg, der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts, die aus der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung ob eines zu frühen Ausstiegsdatums rührten. Diese Unzufriedenheit manifestierte sich in schwachen Umfragewerten der Landesregierung, die der Regierungspartei in Hinblick auf die kommenden Landtagswahlen mit Sorge erfüllte.

Danach stimmte der Bundestag über den Beschluss ab. Würde der Beschluss abgelehnt, müssten die Bundestagsfraktionen erneut beraten und einen neuen Beschluss erarbeiten. Würde der Beschluss angenommen, stimmte der Bundesrat ebenfalls darüber ab. Zuvor äußerte die Opposition in einem kurzen Statement allerdings Kritik am Beschluss der Regierungskoalition. Bei abgelehntem Beschluss spottete die Opposition über die mangelnde Einigkeit innerhalb des Bündnisses. Nahmen sowohl Bundestag als auch Bundesrat den Beschluss an, so war die wichtigste Hürde des Gesetzgebungsprozesses genommen und das Gesetz trat wenig später in Kraft. In diesem Fall wurde mit der Auswertung der Verhandlungssimulation begonnen.

Nahm der Bundesrat den Gesetzesbeschluss jedoch nicht an, so bildeten die Mitglieder der Fachausschüsse von Bundestag und Bundesrat einen Vermittlungsausschuss, der eine neue Einigung verhandelte. Für die Vorbereitung erhielten die Teilnehmenden eine kurze Vorbereitungsphase, in der sie mit allen Mitgliedern ihrer Partei über das weitere Vorgehen beraten konnten. Dann tagte der Vermittlungsausschuss. Würde innerhalb dieser Sitzung eine Einigung gefunden, stimmten beide Kammern erneut über diesen neuen Beschluss ab. Bei Annahme durch beide Gremien galt das Gesetz als beschlossen und die Verhandlungen hatten ein erfolgreiches Ende genommen. Lehnte mindestens eine der beiden Kammern die Einigung ab, scheiterte das Verfahren und alle Beteiligten verlören in den Umfragen an Zustimmung. Erneut würde schließlich eine positive bzw. negative Pressemeldung über die Verhandlungen verlesen. Diese Meldung bildete den Schlusspunkt der Simulation.

Danach erfolgte die Auswertung der Verhandlungen in einem Gespräch, das durch die Lehrperson geleitet wurde. Diese ließ zunächst die Verhandlungsergebnisse jeder Fraktion berechnen und nutzte dies als Ansatzpunkt für eine Reflexion der Verhandlungen und ihrer Ergebnisse. Es wurde gefragt, wie sich die Teilnehmenden während der Simulation fühlten und was ihnen Schwierigkeiten bereitet hat. Die Lerngruppe reflektierte die eigenen Handlungen an der Station und nahm Stellung dazu, ob diese Handlungen mit dem Begriff ‚demokratisch‘ charakterisiert werden könnten. Gerade an dieser Station könnten Teilnehmende aufgrund der hohen Konflikthaftigkeit und der inhaltlichen Konfrontation Zweifel an diesem Umstand äußern und in diesem Kontext darüber diskutieren, ob ‚verhandeln‘ oder gar ‚streiten‘ demokratische Handlungen darstellten. In diesem Zusammenhang wurden mögliche Handlungszwänge und Legimitation der Vertretung von Interessen reflektiert, die für Lernende möglicherweise auf den ersten Blick ablehnend oder gar als irrational angesehen wurden. Außerdem wurden etwaige Alltagsvorstellungen diskutiert, die über Abgeordnete und ihre Handlungsweisen vorlagen. Zudem wurde reflektiert, inwiefern die Abläufe an der Station Realitätsnähe aufwiesen. Die (stark verkürzte) Abfolge eines Gesetzesvorhabens, die Kontroversität weitreichender Entscheidungen sowie der wahrgenommene Druck, den Akteure während der Verhandlungen empfanden, konnten als realitätsnahe Aspekte benannt werden. Eher unrealistisch waren hingegen die kurze Vorbereitungszeit, nur selten inhaltlich fundiert geführte Verhandlungen sowie die Geschwindigkeit des Verfahrens.

Im Gegensatz zu den beiden vorangehenden Lernstationen agierten die Lernenden an dieser Station im parlamentarischen Kontext von Bundestag bzw. Bundesrat und somit auf der demokratischen Makroebene. Die demokratischen Aktivitäten der Bevölkerung, die wahlweise für oder gegen einen frühen Ausstieg aus der Kohlekraft eintraten, wurden in die Argumentation und ggf. sogar in die Entscheidung der Abgeordneten einbezogen. Damit wurde das Vorgehen der Station an die Station ‚Ernährung‘, die demokratische Prozesse auf gesellschaftlicher Mikroebene beleuchtet hatte, angebunden.

Als letzten Impuls der Lernstation präsentierte die Lehrperson nun zwei widersprüchliche Schlagzeilen, die sich mit der Beschlussfindung des Kohleausstiegs befassten. Während die eine von einem „politisch herausragende[m] Kompromiss“ schreibt (Neumann, 2019), äußert die andere Kritik von Vertreter*innen des Umweltschutzes und kritisiert daher den Beschluss (Grimm, 2020). Die Lerngruppe sollte Stellung zur Frage nehmen, wie viel Abgeordnete im Bundestag und Bundesrat mit ihren Handlungen bewegen können. Außerdem sollte besonders auf zu erwartende Widerstände eingegangen werden. Diese könnten aus den vorgestellten Schlagzeilen oder den Erfahrungen an der Station hervorgehen. Beispielantworten waren abweichende bzw. gegensätzliche Standpunkte, schwierige Kompromissfindung oder geringer individueller Einfluss. An dieser Stelle konnte auch reflektiert werden, inwiefern die Handlungen der Bevölkerung Einfluss auf den Verlauf solcher Verhandlungen zwischen repräsentativen demokratischen Institutionen ausüben könnten. Wurde eine Rückkopplung zwischen dem Willen der Bevölkerung und dem Handeln von Abgeordneten wahrgenommen? Abschließend beantworteten Teilnehmende die Frage, ob sie sich die Kandidatur für ein repräsentatives Amt bzw. ein parteipolitisches Engagement vorstellen können. Sie wurden gebeten, ihre Antwort zu begründen. Wie in den zuvor dargestellten Lernstationen erfolgte an dieser Stelle kein Drängen zu politischem Engagement, sondern lediglich die Aufforderung zur Reflexion der eigenen politischen Handlungsbereitschaft.

5.3.5 Abschluss

In der abschließenden Phase kam die gesamte Lerngruppe erneut im Plenum zusammen und nahm an einer vertiefenden Diskussion zu den Inhalten des Tages und weiterführender Themen teil. Zunächst erbat die Lehrperson von den Lernenden eine kurze Zusammenfassung der Aktivitäten und Abläufe an jeder der drei Lernstationen. Dies diente dazu, der gesamten Lerngruppe die Stationen erneut vor Augen zu rufen, denn seit dem Absolvieren der verschiedenen Stationen waren teilweise bereits drei Stunden vergangen. Außerdem sollten Ergebnisse der Durchführungen an den Stationen Verkehr und Energie genannt werden, um noch konkretere Erinnerungen hervorzurufen.

Nach der Kurzzusammenfassung der Stationsarbeit leitete die Lehrperson ein Gespräch mit den Teilnehmenden bezüglich der Erkenntnisse des Tages. Zunächst wurde in einem Blitzlicht von Teilnehmenden erfragt, was die Teilnehmenden persönlich am Programmtag über ‚Demokratie‘ gelernt haben. Auf diese offene Fragestellung waren selbstverständlich eine Vielzahl verschiedener Antworten möglich; sie diente vor allem dazu, der Lehrperson einen Überblick über die Erfahrungen und affektiven Eindrücke der Lernenden zu offenbaren. Diese konnten beispielsweise die Langwierigkeit demokratischer Prozesse oder die Anstrengung friedlicher Konfliktlösung adressieren. Möglicherweise hatten Teilnehmende Spaß am Diskutieren empfunden, den sie an dieser Stelle äußern konnten. Danach wurde die Lerngruppe aufgefordert, über den Zusammenhang und die Motive der Zusammenstellung der drei Stationen zu spekulieren. Die Komposition der drei Stationen begründet sich in ihrer methodischen und inhaltlichen Ergänzung. Inhaltlich behandelten sie unterschiedliche Facetten der Klimapolitik, während methodisch drei unterschiedliche Ebenen von Demokratie (Mikro-, Meso- und Makroebene) abgebildet wurden, um die Demokratie als Ganzes und die Verbindungen ihrer Ebenen sichtbar zu machen. Ausgehend von den Ausführungen Gerhard Himmelmanns sollte erarbeitet werden, dass Demokratie nicht nur als Herrschaftsform auf parlamentarisch-politischer Ebene existiert, sondern sich ebenso auf gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Ebene vollzieht (vgl. Abschnitt 2.1; Abschnitt 3.2.3). In diesem Sinne bedeutete Demokratie nicht nur, dass die jeweilige Regierung durch den Willen der Bevölkerung legitimiert war, sondern auch, dass Individuen im alltäglichen Miteinander schon bestimmte Werte und Normen vertreten und häufig demokratisch handelten. Daher begegnete man der Demokratie nicht nur in politischen Institutionen wie dem Bundestag, sondern auch im privaten Umfeld und in Institutionen der Alltagswelt wie in Schulen oder Sportvereinen.

Im zweiten Schritt wurde erneut die Padlet-Aktivität aus dem Einstieg durchgeführt. Wieder lautete die Aufgabe, Handlungsweisen zu benennen, mit denen Individuen in der Demokratie gesellschaftliche Veränderungen erwirken könnten. Da an drei unterschiedlichen Lernstationen verschiedene Handlungen kennen gelernt und vollzogen worden waren, wurde davon ausgegangen, dass die Lerngruppe beim zweiten Mal mehr oder differenziertere Begriffe (Handlungen auf unterschiedlichen demokratischen Ebenen; unterschiedlicher Grad an Formalisierung; individuelle bzw. kollektive Handlungsformen etc.) auf die Padlet-Tafel eintragen würde. An dieser Stelle war es nicht nur interessant, welche Begriffe genannt wurden, sondern auch welche nicht genannt wurden. Enthielt das Padlet-Board beispielsweise Begriffe, die der konfrontativ ausgerichteten Station Energie zuzuordnen sind oder wurden diese aktiv abgelehnt, weil sie nicht intuitiv mit Zuschreibungen zur Demokratie korrespondieren. Auch Begriffe, die besonders häufig genannt werden, wurden im Gespräch thematisiert.

Als nächstes wurden die Lernenden aufgefordert, die digitalen Begriffskarten in eine Ordnung zu bringen, die die Gedanken der Lerngruppe strukturieren konnte. Hierfür wurden Vorschläge gesammelt. Der Ordnungsvorschlag, der von der Gruppe am meisten Zustimmung erfuhr, wurde durch die Lernenden selbst umgesetzt. Ein oder mehrere Mitglieder der Lerngruppe erhielten den Auftrag, diese Struktur in die Tat umzusetzen. An dieser Stelle konnten unterschiedliche Sortierungen gewählt werden. Es bot sich beispielsweise an, die Handlungen nach den Lernstationen zu sortieren. Da die Lernstationen unterschiedlichen Ebenen demokratischen Handels auf Mikro-, Meso- und Makroebene nachempfunden waren, ergäbe sich somit eine Ordnung, die sich an der Entfernung von der eigenen Lebenswelt der Lernenden orientierte. Mit zunehmender Entfernung mussten Handlungen zwangsläufig heterogenen Meinungen und Interessen Rechnung tragen. Dies hat zur Folge, dass demokratisches Handeln sich sehr unterschiedlich realisieren kann.

Waren die Handlungsbegriffe in dieser Form durch die Lerngruppe angeordnet worden, mussten nun Pfeile platziert werden, die den Einfluss einer Handlungsgruppe auf die Gesellschaft darstellten. Erneut standen der Gruppe ein kleiner, ein großer und ein mittlerer Pfeil zur Auswahl. Diese entsprachen einem geringen, großen oder mittleren gesellschaftlichem Einfluss, den Individuen auf das Agieren der Gesellschaft nehmen könnten. Auch die Wahl der Pfeile für jede Sinneinheit auf dem Padlet-Board mussten von der Lerngruppe gemeinsam diskutiert werden. Es konnten auch mehrere (verschiedene) Pfeile pro Sinneinheit gewählt werden, sofern sich keine Mehrheitsmeinung durchsetzte oder eine weitere Ausdifferenzierung der drei Einflusslevels angestrebt wurde (Abbildung 5.5).

Abbildung 5.5
figure 5

Padlet-Aktivität der Abschlussphase (Beispiel aus dem Juni 2021)

In dieser Phase konnten Lerngruppen auch andere Sinnstrukturen vorschlagen und einführen. Einteilungen, die sich an der Zahl der beteiligten Personen orientierten und damit an der herrschenden Meinungsvielfalt waren ebenfalls zulässig, sofern die Reflexion der Kontextualität und Erfordernisse durch die Lehrperson angestoßen wurde. Auch die Formalität der Handlungen konnte Anlass zur Sortierung sein. Hier stand die Frage im Mittelpunkt, wie offiziell und konventionell politisch Handlungen sich darstellten. Während ein Aufruf in sozialen Netzwerken eher informell erfolgt, stellen Parlamentsverhandlungen oder rechtlich bindende Abstimmungen in Entscheidungsgremien konventionelle politische Handlungen dar.

Wichtiger als die letztlich erfolgte Formulierung der Ordnungskriterien demokratischer Handlungen waren die Reflexion ihrer Unterschiedlichkeit, der Gründe für ihre Unterschiedlichkeit und das damit einhergehende möglicherweise erweiterte Verständnis der Vielfalt partizipativer Handlungsweisen. Die nachfolgende Platzierung von Pfeilen sollte Lernende nicht indoktrinieren bzw. vom übergroßen Einfluss einer Handlung überzeugen, sondern diese zum Nachdenken über Erwartungen von ggf. selbst getätigten politischen Handlungen anregen. Hiermit wurde versucht, eine realistische Erwartungshaltung bei Lernenden hervorzurufen und eventuell auftretender Frustration ob mangelnder sichtbarer Erfolge politischen Handelns vorzubeugen. Je nach Verschiedenheit und Überlappungen der Abbildungen aus Einstiegs- und Abschlussphase rief die Lehrperson zuletzt erneut die Grafik der Einstiegsphase auf und bat die Lerngruppe, die Änderungen zu interpretieren und zu den Gründen für die Veränderungen Stellung zu nehmen.

Als letzten Schritt der Abschlussstation wurde die Skala zu Vorstellungen über die Rolle der Bürgerschaft in der Demokratie aus dem Einstieg gezeigt (Abschnitt 5.3.1). Da sie bereits zu Beginn des Programms beschrieben und analysiert worden war, erhielten die Teilnehmenden nur eine Minute Zeit, um ihre zuvor geäußerte Meinung zu reflektieren und ggf. kurz mit Nachbarn in Austausch zu treten. Erneut waren die Lernenden aufgerufen, ihre Wahrnehmung der Aktivität bzw. Passivität von Bürger*innen in der Demokratie der Bundesrepublik zu äußern. Sie gaben erneut eine Zahl zwischen ‚−5‘ (sehr passive Bevölkerung, die sich außerhalb von Wahlen nicht an demokratischen und politischen Prozessen beteiligt) und ‚+5‘ (sehr aktive Bevölkerung, die stark an Entscheidungsprozessen beteiligt ist) an. Die Lehrkraft erfragte Meldungen der Lernenden entlang der Skala in aufsteigender Reihenfolge und erfasst die Ergebnisse für alle Beteiligten sichtbar an der Tafel bzw. dem Whiteboard. Nach der Erfassung der Ergebnisse waren die Lernenden aufgerufen, Stellung zu den Resultaten zu nehmen. Dies sollte sowohl kollektive Tendenzen als auch persönliche Überlegungen und ggf. Positionsänderungen umfassen. Aufbauend auf diesen Aussagen diskutierte die Lerngruppe die Rolle der Bürgerschaft in der Demokratie der Bundesrepublik. Die Lehrkraft erläuterte abschließend, dass es sich um eine kontroverse Frage in der politischen Theorie handelt, auf die in der Geschichte viele verschiedene Antworten gefunden wurden. Es gehe dabei weniger um die Korrektheit von Interpretationen, sondern vielmehr um die Ausgestaltung eines Systems und darum, individuelle Lern- und Sozialisationsprozesse zu strukturieren. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rolle der Bevölkerung ist für das Individuum und das System von herausragender Bedeutung und bildet daher seit Jahrtausenden einen Forschungsschwerpunkt vieler fachwissenschaftlicher Untersuchungen. Im Anschluss bedankte sich die Lehrperson für die Aufmerksamkeit und Mitarbeit der Teilnehmenden am Tag, leitete ggf. zur abschließenden Befragung über und verabschiedete die Lernenden.

5.4 Erfahrungen der Programmdurchführungen während des Untersuchungszeitraums

In diesem Abschnitt reflektiert der Autor kurz subjektive Eindrücke der Programmdurchführungen. Neben der Vermittlung grundsätzlicher Impressionen der praktischen Tätigkeit im Projekt erfolgt in diesem Prozess auch die Andeutung einiger möglicher Ansatzpunkte für die Konzeption empirischer Studien, die sich mit der Auswertung des vorliegenden Projekts befassen. Dafür wird zunächst das Feedback beteiligter Akteursgruppen dargestellt, ehe anschließend Eindrücke und häufige Ergebnisse der verschiedenen Phasen des Programms zusammengefasst werden.

Insgesamt wurde das vorgestellte demokratiebildende Programm mit 29 Lerngruppen von 18 unterschiedlichen weiterführenden Schulen durchgeführt. An diesen 29 Terminen erreichte das Programm mehr als 500 Jugendliche verschiedener Altersstufen. Die Teilnehmenden besuchten dabei Gymnasien, Gemeinschaftsschulen ohne Oberstufe, Gemeinschaftsschulen mit Oberstufe und verschiedene Formen beruflicher Gymnasien. Aus der Arbeit mit dieser Vielzahl an Lerngruppen der Klassenstufen 10–13 mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gingen vielfältige Erkenntnisse einher.

Eine wichtige Erkenntnis betrifft affektive Aspekte der Arbeit mit Lerngruppen. An fast allen der 29 Programmdurchführungen wurde sowohl während der Stationsarbeit als auch am Ende des Tags deutlich, dass viele Lernende gerne teilgenommen hatten. Dies mag auf den ersten Blick nicht verwundern; handelt es sich doch um ein verglichen mit Schulunterricht lockeres Format meist handlungsorientierten Lernens, in dem Jugendliche mit teils umfassender Autonomie wirken konnten. Doch vor dem Hintergrund bedeutender kognitiver und prozeduraler Belastungen an den Lernstationen, in Einstieg und Abschluss sowie der mit etwa sechs Stunden relativ hohen Dauer des Programms erscheint dies weniger selbstverständlich. Regelmäßig wurde von Lehrkräften, Stationsleitungen und teils auch von Jugendlichen selbst kommuniziert, dass die Konzentration der Lerngruppe im Laufe des Tags schwand. Dennoch lobten die Teilnehmenden die Interessantheit der unterschiedlichen Lernstationen sowie ihre inhaltliche Vielfalt.

Begleitend zur Programmteilnahme ihrer Klasse nahmen einige Lehrkräfte in Fragebögen vor und nach der Durchführung Stellung zu ihren Erwartungen an den Tag und gaben weitere Rückmeldungen. Die Urteile von Lehrkräften fielen überwiegend positiv aus. Gerade das spezielle Tagesformat, das in der Regel im Schulalltag nicht durchgeführt werden kann, wurde gelobt. Lehrkräfte schätzten die kognitive Belastung ihrer Lerngruppe im Programmverlauf meist als recht hoch ein. Einige Lehrkräfte suchten vor der abschließenden Reflexionsphase das Gespräch und äußerten Bedenken, dass die didaktischen Ziele des Tags mit ihrer Lerngruppe erreicht werden könnten. Diese Skepsis stellte sich jedoch fast immer als unbegründet heraus. Auffällig war, dass das Lehrpersonal die Programmdurchführungen trotz des standardisierten Ablaufs an den Lernstationen eine bedeutende Heterogenität der Lernverläufe wahrnahm. Aufgrund der dargestellten Heterogenität teilnehmender Lerngruppen wiesen Hilfestellungen, pädagogische Maßnahmen, Vertiefungsdiskussionen oder Resultate teils erhebliche Unterschiede auf. In den meisten Fällen wurden allerdings dennoch die Lernziele aller Stationen erreicht. Auf diese soll im Folgenden kurz vertiefend eingegangen werden.

An der Station ‚Ernährung‘ zeigten sich immense Unterschiede hinsichtlich der Qualität produzierter Videos. Dies resultierte u. a. aus unterschiedlichen Niveaus technischer Fähigkeiten von Jugendlichen, ihrer jeweiligen Inspiration oder auch ihrer Motivation. Teilweise mussten Stationsleitungen Teilnehmende stetig unterstützen und zeitliche Vorgaben regelmäßig kommunizieren. In anderen Lerngruppen benötigten Jugendliche weniger Zeit als vorgegeben und produzierten dennoch ansprechende Endresultate. In der Station ‚Verkehr‘ waren Stationsleitungen nach einigen Anpassungen (Abschnitt 6.3.2) vom Handeln der Konferenzleitung abhängig. Dies war in der Folge entscheidend für einen produktiven Verlauf der Diskussion, der fast immer erreicht werden konnte. In den meisten Fällen wurden schließlich Ergebnisse erzielt, mit denen die teilnehmenden Jugendlichen eigenen Angaben zufolge auch in der Realität leben könnten. Die Verhandlung zwischen Bundestag und Bundesrat an der Station ‚Energie‘ stellte sich schnell als wohl anspruchsvollste Lernstation heraus. Der Verhandlungsverläufe und -stile unterschieden sich zwischen unterschiedlichen Lerngruppen stark. Nur in etwa der Hälfte der Fälle wurden an dieser Station nach anstrengenden Verhandlungen Kompromisse erreicht, denen alle Beteiligten zustimmten.

Die Abschlussdiskussion erfolgte stets nach einer kurzen Pause, die den Lerngruppen nach der letzten Stationsphase eingeräumt wurde. Obwohl die Anstrengungen der Tage meist der gesamten Lerngruppe anzumerken waren, gestalteten sich die Verläufe der abschließenden Vertiefungsdiskussion meist positiv. Mithilfe einiger hinführender Fragen erarbeiteten fast alle Lerngruppen selbständig die Gründe für die Zusammenstellung der drei Lernstationen und den erweiterten Demokratiebegriff, der dieser zu Grunde lag. Im nächsten Schritt wurde die Padlet-Aktivität durchgeführt, die schon zu Beginn des Tages stattgefunden hatte. In vielen Fällen äußerten Lerngruppen am Ende des Tags mehr und vielfältigere Wege (individueller) politischer Partizipation. Die Größe der Pfeile, die Teilnehmende wählten, wechselte zuweilen. Auf Grundlage dieser gemeinsamen Aktivität und der Zusammenschau der Padlets von Vor- und Nachmittag formulierten viele Lerngruppen, dass ihnen mehr politische Wege zur Verfügung stünden als gedacht. Die letzte Phase des Tags fokussierte jeweils die Skala politischer Aktivität der Bevölkerung in der Demokratie (Abschnitte 5.3.1 und 5.3.5). Diese sollte einen Überblick darüber verschaffen, wie aktiv oder passiv eine Lerngruppe die demokratische Bürgerschaft vor und nach der Teilnahme am demokratiebildenden Programm wahrnahm. Bei einigen Lerngruppen, die aus unterschiedlichen Gründen (zu geringe Teilnehmendenzahl am Anfang bzw. Ende der Veranstaltung; andere organisatorische Gründe) nicht in die Berechnungen eingeschlossen werden konnten, zeigte sich ein relativ stabiler Trend: Die demokratische Bürgerschaft in Deutschland wurde nach dem Programm etwas aktiver wahrgenommen als vor dem Programm. Für die erste Erhebung ergab sich ein Mittelwert von −0.09 (N = 172). In der zweiten Abfrage wurde ein Mittelwert von 1.1 (N = 172) errechnet. Im Rahmen der Studie stellte diese leichte Verschiebung eine relativ stabile Tendenz über verschiedene Lerngruppen hinweg dar. Meist begründeten Jugendliche ihre veränderten Antworten anhand des Kennenlernens neuer Wege, auf denen die Bevölkerung in der Demokratie mitwirken kann.Footnote 10 Diese Erkenntnisse aus der abschließenden Diskussionsphase können Anlässe für weitergehende Forschungsaktivitäten im Rahmen der vorliegenden Arbeit bilden.

Insgesamt zog die Projektleitung aufgrund der dargestellten positiven Rückmeldungen und zufriedenstellenden Ergebnisse der Programme ein positives Fazit der Durchführungen. Zudem stellte sich schnell ein erfreuliches Maß an Nachfrage des Angebots durch Politiklehrkräfte ein. Gerade zu Beginn der regelmäßigen Durchführungen während der COVID-19-Pandemie erwies sich diese zumeist auf Mundpropaganda zufriedener Lehrkräfte basierende Nachfrage als äußerst hilfreich und essenziell für die Realisierung des Forschungsvorhabens des Projekts.