Schlüsselwörter

„One of the most pervasive binaries that is reproduced in International Relations is the West/non-West differentiation. […] What is Non-Western International Relations theory? Is it theory about the non-Western experience? Is it theory from non-Westerners? Is it theory about the non-West from the West or theory written by someone from the West about the non-West?“ (Capan 2017, S. 8)

1 Einführung

Die Suche nach „nichtwestlichen Perspektiven“ in den Internationalen Beziehungen (IB) basiert im Großen und Ganzen auf zwei in Wechselbeziehung zueinanderstehenden Erwägungen. Zunächst wird die Behauptung aufgestellt, dass die Mainstream-IB keinen objektiven und universellen Wissensfundus darstellen, der losgelöst von seinem speziellen gesellschaftlichen, politischen und historischen Hintergrund existiert und von diesem nicht beeinflusst wird (Acharya 2014, S. 647). Insbesondere werden die IB als eingeschränkt und unvollständig betrachtet, weil die Disziplin selbst hauptsächlich von Akademikern mit einem westlichen kulturellen und beruflichen Hintergrund und an Forschungsinstitutionen in westlichen Ländern entwickelt wurde (Wæver 1998; Smith 2002). Vor fast einem halben Jahrhundert bezeichnete Stanley Hoffman (1977) die IB bekanntermaßen als „eine amerikanische Sozialwissenschaft“. Aufgrund dieses Vermächtnisses haben es die IB versäumt, die Erfahrungen und Perspektiven der gelebten und lebendigen Realitäten jenseits des räumlichen und zeitlichen Rahmens des Westens angemessen zu berücksichtigen (Tickner 2003; Acharya und Buzan 2007). Außerdem wird die Behauptung aufgestellt, dass die Art und Weise, wie internationale Beziehungen von Forschern untersucht und gelehrt werden, nicht nur die Wissensproduktion innerhalb der akademischen Welt betrifft, sondern durch die Beeinflussung der Art und Weise, wie internationale Beziehungen unterhalten werden, auch politische Auswirkungen auf die reale Welt hat. Theorie, wie Robert Cox es bekanntlich formulierte, „wird immer für jemanden und für irgendeine Absicht verfasst“ (Cox 1981, S. 128). Indem bestimmte Kenntnisse und Forschungsmethoden als „rational“, „wissenschaftlich“, „maßgebend“ und „universal“ bevorzugt werden, während andere zum Schweigen gebracht und/oder ausgegrenzt werden, machen sich die IB tatsächlich mitschuldig an der Aufrechterhaltung der ungleichen Machtbeziehungen zwischen dem „Westen“ und dem „Rest“, auf denen die aktuelle Weltpolitik aufgebaut ist (Agathangelou und Ling 2004; Tickner 2016).

Durch diese Erwägungen angeregt haben sich viele IB-Forscher dafür eingesetzt, Kenntnisse und Perspektiven bezüglich der Weltpolitik, die über die spezielle soziale und politische Zeit und den speziellen sozialen und politischen Raum der IB (Cox 1981, S. 128) hinausgehen, zu erforschen, sich mit ihnen zu beschäftigen und in die Disziplin selbst einzubeziehen, damit diese ihrem Namen, also „internationale“ Beziehungen, gerecht wird (Bilgin 2008; Acharya 2014; Hellmann und Valbjørn 2017). In den letzten beiden Jahrzehnten war tatsächlich ein wachsendes Forschungsgebiet zu beobachten, das sich der Frage widmet, wie wir mithilfe von Kenntnissen und Perspektiven aus dem Nichtwesten über die Mainstream- bzw. disziplinären IB hinausgehen sollten. Als Antwort auf diese Frage entstanden mehrere Forschungsprojekte, von denen einige in diesem Kapitel besprochen werden. Wie ich im vorliegenden Aufsatz zeigen werde, hat zweifellos ein zunehmend globaler, multiperspektivischer Dialog in der globalen Wissenschaftsgemeinschaft sowohl inner- als auch außerhalb der Disziplin der IB stattgefunden.

Um eine nützliche Einführung in dieses relativ junge, aber wichtige Thema zu geben, wird sich der vorliegende Aufsatz auf die bedeutendsten Forschungsprojekte im Zusammenhang mit der Erforschung „nichtwestlicher IB“ konzentrieren, um das unterschiedliche Verständnis der im Zentrum unserer Diskussion stehenden Fragen zu erläutern: Was sind nichtwestliche internationale Beziehungen und wie untersuchen wir sie? Die Antworten auf diese Fragen werden uns dabei helfen, die voneinander abweichenden theoretischen Annahmen und Schwerpunkte dieser unterschiedlichen Projekte zu verstehen und gleichzeitig unsere Beiträge zur Weiterentwicklung sowohl des speziellen Themas als auch der Disziplin als Ganzes gegenseitig zu würdigen. Insbesondere werde ich mich auf den folgenden Seiten auf die folgenden fünf Themenbereiche des Forschungsgebiets konzentrieren, und zwar auf die nichtwestlichen IB-Theorien, das „Worlding“ jenseits des Westens, die postwestlichen IB, die globalen IB und die neueren „pluriversalen“ IB. Zum Schluss des vorliegenden Aufsatzes werde ich die Diskussion zusammenfassen und einige Bemerkungen zur Entwicklung der Literatur machen.

2 Verschiedene Ansätze bezüglich der nichtwestlichen Perspektiven

2.1 Die Suche nach einer nichtwestlichen IB-Theorie

Das Projekt zur nichtwestlichen IB-Theorie von Amitav Acharya und Barry Buzan stellt einen der frühesten Versuche dar, die unausgewogene Wissensproduktion innerhalb der Disziplin der IB systematisch zu betrachten, insbesondere den Mangel an nichtwestlichen Perspektiven bei der Bildung von IB-Theorien. Ihre leitende Frage, die sie im Titel ihres 2007 erschienenen Aufsatzes stellten, lautet: „Warum gibt es keine nichtwestliche Theorie der Internationalen Beziehungen?“ (Acharya und Buzan 2007). Die Autoren stellten fest, dass die IB-Theorie zwar internationale Beziehungen rund um die Welt erklären soll, die meisten der vorhandenen theoretischen Werkzeuge der Disziplin – z. B. Realismus, Liberalismus, Sozialkonstruktivismus, Marxismus, Feminismus, Postkolonialismus – jedoch aus westlichen Wissenschaftstraditionen entstanden sind. Daher besteht eine Diskrepanz zwischen dem vorgeblich „internationalen“ oder „globalen“ Rahmen der Disziplin und der ungleichen globalen Verteilung ihrer Themen (Acharya und Buzan 2010c, S. 1), d. h. nichtwestliche Akteure generieren keine Theorien, die für sie selbst sprechen, sondern über sie wird in Theorien aus dem Westen gesprochen. Um dieses Problem abzuschwächen, begannen Acharya und Buzan damit, Mittel und Wege zu prüfen, um die Entwicklung von IB-Theorien im Nichtwesten auf denselben Stand wie im Westen zu bringen und damit dazu beizutragen, die Disziplin der IB als Ganzes voranzubringen (Acharya und Buzan 2010a, S. 221–36).

Der erste Schritt besteht darin, sich eine pluralistische Definition von Theorie zu eigen zu machen. In Anerkennung der Tatsache, dass über die eigentliche Bedeutung und Funktion der IB-Theorie sogar in der vorhandenen westlichen Literatur gestritten wurde, insbesondere zwischen dem aus den USA stammenden „strengen positivistischen Verständnis“ und dem aus Europa stammenden „weniger strengen, reflektivistischen Verständnis“ (Acharya und Buzan 2010c, S. 4), entscheiden die Autoren, die Zugangsvoraussetzungen für nichtwestliche IB-Theorien zu lockern in der Hoffnung, möglichst viele der bisher versteckten, trivialisierten oder zum Schweigen gebrachten intellektuellen Ressourcen zu erfassen, die das Potenzial haben, sich auf die Bildung von IB-Theorien auszuwirken. Als Folge davon eröffnet sich von Anfang an ein breites Spektrum an verschiedenen Möglichkeiten, vom positivistischen bis zum postpositivistischen und normativen Theoretisieren. Anders ausgedrückt ist ihr Stichprobenplan so angelegt, dass er sowohl Theorien enthält, die beschreiben und erklären sollen, wie die Welt funktioniert, als auch Theorien, die vorschreiben, wie sie sein sollte – solange sie einige systematische Konzepte der Weltpolitik enthalten, die auf einer Abstraktion der Realität basieren und potenziell auf ein breites Spektrum an Fällen anwendbar sind (ebd.).

Die Autoren lockern die Zugangsvoraussetzungen noch weiter, indem sie keine Theorien aufgrund ihres Anwendbarkeitsgrades ausschließen. Theorien können bezüglich ihres Anwendungsbereichs entweder universell – d. h. auf das gesamte internationale System anwendbar – oder exzeptionell sein – d. h. nur auf eine begrenzte Reihe von Phänomenen unter der systematischen Ebene anwendbar, was von den Autoren auch als „subsystemisches Theoretisieren“ bezeichnet wird (Acharya und Buzan 2010c, S. 4–5). Schließlich führen die Autoren ein Bewertungskriterium ein, das aus drei alternativen Bedingungen besteht, um diejenigen herauszufiltern, die möglicherweise keinen Beitrag zur IB-Theorie leisten können. Hierbei handelt es sich um die folgenden als Referenz dienenden Bedingungen: Eine Theorie wird im Wesentlichen von anderen in der IB-Wissenschaftsgemeinschaft als Theorie anerkannt; sie wird durch ihre Schöpfer selbst als IB-Theorie identifiziert, auch wenn dies innerhalb der Hauptströmung der IB-Wissenschaftsgemeinschaft nicht weithin anerkannt ist; oder ihr Aufbau zeugt von einem systematischen Versuch, das Thema oder die IB zu verallgemeinern, unabhängig von externer Anerkennung (vgl. Acharya und Buzan 2010c, S. 6). Auch wenn die Autoren ausdrücklich auf der „Theorie“-Identität bestehen, machen sie eine Ausnahme für die sogenannte „Vortheorie“; diese bezieht sich auf die Überlegungen von IB-Experten, die als Anfangspunkt für die Theoriebildung dienen könnten.

Auf Grundlage der obigen Definitions- und Auswahlkriterien identifizieren Acharya und Buzan dann vier Quellen, die als weiche nichtwestliche IB-Theorien mit Schwerpunkt auf Asien betrachtet werden könnten. Wie wir im Folgenden sehen werden, sind die ersten beiden mit gesundem Menschenverstand leicht zu verstehen und zu akzeptieren, während die dritte und die vierte Quelle berechtigterweise zu Fragen führen könnten. Insbesondere könnte die Eignung der letzten beiden Quellen in Frage gestellt werden – nicht, weil ihnen die intellektuelle Qualität fehlt, um als (potenzielle) IB-Theorie zu gelten, sondern aufgrund ihrer mehrdeutigen geokulturellen Identität, d. h. der Eigenschaft, „asiatisch“ oder „nichtwestlich“ zu sein. Um zeitlich ganz vorne zu beginnen, handelt es sich bei der ersten von Acharya und Buzan betrachteten Quelle um historische Denker klassischer asiatischer Traditionen. Ebenso wie die gegenwärtige westliche IB-Theorie sich von Persönlichkeiten wie Thukydides, Hobbes, Machiavelli und Kant inspirieren lässt, könnte die nichtwestliche IB-Theorie vermutlich in den Schriften von Sunzi, Konfuzius und Kautilya zu finden sein oder anhand dieser entwickelt werden. Zweitens stellen – entsprechend der vorstehenden Überlegung zur Vortheorie – das strategische Denken und die außenpolitischen Ansätze moderner und zeitgenössischer politischer Führer aus Asien wie Jawaharlal Nehru, Mao Zedong, Aung San, José Rizal und Sukarno eine weitere potenzielle Quelle für eine weiche IB-Theorie dar. Drittens berücksichtigen die Autoren, etwas widerstrebend, auch die Arbeit nichtwestlicher Forscher im Rahmen zeitgenössischer westlicher IB-Literatur. Obwohl sie einräumen, dass es schwierig ist, zu entscheiden, wann eine Theorie „nichtwestlich“ genug ist, beschließen sie dennoch, diese Kategorie als Möglichkeit beizubehalten. Viertens betrachten die Autoren Arbeiten im Bereich der IB-Theorie, die – unabhängig von der Identität der Autoren – auf asiatischen Erfahrungen basieren und in einer Art und Weise durchgeführt wurden, die nicht einfach nur westliche gesellschaftswissenschaftliche Theorien in Bezug auf nichtwestliche Erfahrungen „testet“, sondern charakteristische lokale Muster und Erfahrungen identifiziert, die die Forschung über den geografischen Ursprung ihrer Ergebnisse hinaus beeinflussen können (Acharya und Buzan 2010c, S. 10–14).

Trotz ihres Zögerns hinsichtlich der Auswahlkriterien bleiben Acharya und Buzan schlussendlich jedoch bei einer minimalistischen Definition von „nichtwestlicher IB-Theorie“ und beschließen, die breitere akademische Gemeinschaft über die Vorzüge und Schwächen ihrer Auswahl diskutieren zu lassen. Gleichzeitig schließen sie Postkolonialismus als möglichen Kandidaten explizit aus, trotz der Tatsache, dass indische Forscher maßgeblich an der Entwicklung dieser kritischen theoretischen Tradition beteiligt waren und eine wichtige Rolle im Forschungsgebiet der „subalternen Studien“ spielten. Sie begründen dies damit, dass Postkolonialismus in den kulturellen Diskurs des Westens eingebettet ist und im Nichtwesten, außer in Südasien, nur begrenzte Aufmerksamkeit erhalten hat (Acharya und Buzan 2010c, S. 15–16).

Acharyas und Buzans Projekt wurde von größtenteils aus Asien stammenden Forschern mit Enthusiasmus aufgenommen, wie die 2007 erschienene Sonderausgabe der Zeitschrift International Relations of the Asia-Pacific (Acharya und Buzan 2007) und die drei Jahre später von Routledge als Sammelband veröffentlichte erweiterte Fassung der Originalsammlung mit dem Titel Non-Western International Relations: Perspectives on and beyond Asia (Acharya und Buzan 2010b) zeigen. Das 2010 veröffentlichte Buch enthält sieben Fallstudien zur Entwicklung der IB-Theorie in verschiedenen nationalen, regionalen und/oder kulturellen Kontexten in Asien, einschließlich China, Japan, Korea, Indien, Südostasien, Indonesien und der islamischen Weltanschauung, die sich an die Erkenntnisse und Perspektiven von Wissenschaftlern aus Ost-, Süd- und Südostasien, Westeuropa und Nordamerika anlehnen. Auf der Grundlage ihrer Untersuchung schlussfolgern die Autoren, dass „es nicht viele aktuelle IB-Theorien in Asien gibt“, trotz „einer Vielzahl von vortheoretischen Ressourcen“, die entweder nicht vollständig genutzt, vergessen oder ausgegrenzt wurden (Acharya und Buzan 2010a, S. 222). Als Hauptgrund für dieses Nichtvorhandensein identifizieren sie die hegemoniale Bedeutung der westlichen IB-Theorie, die im Rahmen der Weiterentwicklung und Professionalisierung der IB-Disziplinen in Asien nicht nur fortbestehen, sondern sich auch ausweiten könnte. Den Beobachtungen der Autoren zufolge wäre lediglich in China und Südostasien eine verstärkte Infragestellung der westlichen IB-Paradigmen zu erwarten (Acharya und Buzan 2010a, S. 223). Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie die Entwicklung einer oder mehrerer „nationaler“ oder „regionaler Schulen“ der IB-Theorie in Asien befürworten. Wie sie wiederholt erklärten, war die grundlegende Motivation für dieses Unterfangen die Lokalisierung, Freilegung und Nutzung lokaler, nichtwestlicher Ideen als intellektuelle Ressourcen für die Verbesserung unserer vorhandenen IB-Theorie, damit diese die Diversität menschlicher Erfahrungen besser repräsentiert (Acharya und Buzan 2010a, S. 229). Schlussendlich geht es bei der Eingliederung von nichtwestlichen theoretischen Perspektiven in die westlichen Mainstream-IB darum, zu einem einzigen Wissensfundus beizutragen, für den „Zutaten“ von jedem Ort der Welt erforderlich sind. Um es mit den Worten von Acharya und Buzan selbst zu sagen:

„Western IRT does not […] need to be replaced […] It needs more voices and a wider rooting not just in world history but also in informed representations of both core and peripheral perspectives within the ever-evolving global political economy. […] the likely role of non-Western IRT is to change the balance of power within the debates, and in so doing change the priorities, perspective and interests that those debates embody.“ (Acharya und Buzan 2010a, S. 236)

2.2 Geokulturelle Erkenntnistheorien und „Worlding“ jenseits des Westens

Ungefähr zur selben Zeit, in der Acharya und Buzan an ihrem Projekt arbeiteten, starteten Arlene Tickner und Ole Wæver das Projekt „Geokulturelle Erkenntnistheorien und IB“, in dem sie aus einem soziologischen Blickwinkel untersuchten, wie geokulturelle Faktoren die Wissenspraxis der internationalen Beziehungen rund um die Welt prägten. Als Ausgangspunkt diente ihnen das allgemein mangelnde Verständnis, wenn nicht sogar das mangelnde Bewusstsein, für den Zustand des Forschungsgebiets IB außerhalb des Westens und die Art und Weise, wie verschiedene Forschungsgemeinschaften – die man berechtigterweise als Teil der globalen IB-Gemeinschaft ansehen kann – durch „globale und internationale Beziehungen im Hinblick auf Macht, Wissen und Ressourcen“ geprägt wurden (Wæver und Tickner 2009, S. 1). Anstatt den Schwerpunkt auf die „IB-Theorie“ (bzw. deren Nichtvorhandensein) in der „Peripherie“ zu legen, konzentrieren sich Tickner und Wæver auf die akademische IB-Praxis in verschiedenen „peripheren“ Zusammenhängen sowohl als eigenständige, d. h. lokale Disziplin als auch aus der Perspektive einer globalen Wissensgemeinschaft.

Die Autoren stützen sich auf Literatur über Themen wie Postkolonialismus und Wissenschaftssoziologie und versuchen so, eine Brücke zu schlagen zwischen der Lehre von der Selbstbefragung der IB hinsichtlich der ontologischen, epistemologischen und methodischen Annahmen einerseits und der Untersuchung von verschiedenen „Dritte Welt“-Zusammenhängen andererseits, die die Disjunktion zwischen IB-Kernkonzepten und Realitäten der Dritten Welt enthüllen. Dadurch erhoffen sie sich kein besseres Verständnis dafür, warum es bisher keine nichtwestliche IB-Theorie gibt (Acharya und Buzan 2007), sondern dafür, wie der „Zentrum-Peripherie“-Aufbau internationaler Beziehungen als eine Disziplin durch tatsächliche IB-Praktiken, insbesondere durch die in der Peripherie, (nach)gebildet wird (Wæver und Tickner 2009, S. 1–2). Diesem Gedankengang folgend zeigen die Autoren ein besonderes Interesse bzw. eine besondere Sensibilität für die intellektuelle und die soziale Dimension internationaler Beziehungen. Insbesondere umfasst der soziale Aspekt „das politische und soziale Umfeld, das das Forschungsgebiet, die unter IB-Wissenschaftler geltenden Regeln und Bestimmungen und die zwischen ihnen herrschenden Rivalitäten sowie ihre Arbeitsbedingungen und Kriterien für individuellen Erfolg und berufliches Überleben prägt“ (Wæver und Tickner 2009, S. 2). Zusammen bilden diese beiden Dimensionen die „besondere geografisch-epistemologische Perspektive“ einer lokalen IB-Theorie (Wæver und Tickner 2009, S. 2).

Tickner und Wæver erkennen den Wert des Beitrags von Acharya und Buzan an, behaupten aber, dass deren Projekt die Untersuchungsweise für IB in peripheren Bereichen nicht erschöpfend nutzt. Vor allem hinterfragen sie die Annahme, dass eine solche Untersuchung sich ausschließlich auf angemessene IB-Studien im globalen Süden konzentrieren sollte. Sie argumentieren vielmehr, dass – wenn man die sehr unterschiedlichen sozialen, politischen und historischen Bedingungen der Entwicklung der Wissenschaftsgemeinschaft in verschiedenen Ländern betrachtet – man sich nicht durch die Schablone disziplinärer Konfigurationen im Westen einschränken lassen sollte, wenn man nach IB in anderen Zusammenhängen sucht. Insbesondere sollte man gegenüber anderen Forschungsgebieten in der breiteren Kategorie der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften wie Literatur- und Kulturwissenschaften, Völkerrecht, Wirtschaftswissenschaften und Soziologie aufgeschlossen sein, die „Aussagen enthalten könnten, die anderswo als Internationale Beziehungen eingestuft werden, einschließlich in Teilen (der Opposition innerhalb) des Zentrums“ (Wæver und Tickner 2009, S. 16). In der Praxis bedeutet dies, dass man nicht nur untersuchen sollte, wie das „formale“ Gebiet der IB in einem spezifischen peripheren Kontext begründet wurde (oder nicht). Vielmehr sollte man auch untersuchen, welche anderen Gebiete oder Disziplinen außer den IB Untersuchungen zu wichtigen Elementen der internationalen Beziehungen einbezogen haben. Einfach gesagt, „was ist lokal international?“ (Wæver und Tickner 2009, S. 17). Während Acharya und Buzan außerdem von Anfang an ihr Interesse an nichtwestlicher IB-Theorie insbesondere in den asiatischen Ländern eingestehen – auf der Grundlage der Cox’schen Perspektive auf die Verbindung zwischen Theorie und (nationalen) Interessen (Acharya und Buzan 2010c, S. 3) –, distanzieren sich Tickner und Wæver von einer derartigen Billigung des Nationalstaates als Grundeinheit der Analyse. Stattdessen führen sie für ihre Fallauswahl pragmatische Gründe an (d. h., welche Bereiche können in einem einzigen Aufsatz sinnvoll abgehandelt werden), während sie ihre Leser eindringlich darauf hinweisen, dass die endgültige Darstellung von empirischem Inhalt „keine tiefe ontologische Aussage à la Huntington über Naturlandschaften oder Zivilisationen sein soll“ (Wæver und Tickner 2009, S. 4).

Die daraus entstandene Untersuchung der globalen IB-Forschung, die im Sammelband International Relations Scholarship Around the World (Tickner und Wæver 2009b) vorgestellt wird, enthält 16 Fallstudien, die einen viel größeren geografischen Raum als Non-Western International Relations (Acharya und Buzan 2010b) abdecken, einschließlich Afrika (Afrika im Allgemeinen, Südafrika), Amerika (die USA), Asien (arabischer Naher Osten, China, Japan, Korea, Iran, Israel, Südasien, Südostasien, Taiwan, Türkei) und Europa (Mittel- und Osteuropa, Russland). Den Beobachtungen der Autoren zufolge gibt es eine sehr komplexe und differenzierte globale IB-Struktur mit verschiedenen wissenschaftlichen Normen und Organisationsformen, aus denen unterschiedliche Arten von IB-Disziplinen entstehen. Zu den sowohl internen als auch externen Faktoren, die IB-Praktiken in der „Peripherie“ prägen, gehören: 1) positive und negative Anreize vom nationalen Politik- und Wirtschaftssystem, 2) lokale Stiftungen und Forschungsräte, 3) die Rolle der Thinktank-Industrie, 4) die Rolle der außenpolitischen Agenda, 5) die Bedeutung globaler Kriterien, d. h. Anerkennung in den USA und in US-amerikanischen Zeitschriften, 6) der finanzielle Einfluss aus dem globalen Norden, insbesondere aus den USA und Europa und 7) das Machtgefüge der lokalen Disziplin (Tickner und Wæver 2009a, S. 329–32).

Allerdings zeigen diese unterschiedlichen IB-Gemeinschaften auch etliche Gemeinsamkeiten. Ein wichtiger Aspekt ist die „staatszentrierte Ontologie“, die sich in der „Internalisierung realitätsbezogener Vorstellungen über Konzepte wie Macht, Sicherheit und nationales Interesse“ (Tickner und Wæver 2009a, S. 334) manifestiert, die wiederum auf die problematische „in der Idee des Westfälischen Staatensystems verankerte“ epistemologische Basis der IB hinweisen (Tickner und Wæver 2009a, S. 335). Außerdem bestätigen die Autoren die allgemeine Wahrnehmung einer „Zentrum-Peripherie“-Struktur in der globalen intellektuellen Arbeitsteilung, wobei das Zentrum/der globale Norden als „Hauptproduzent wissenschaftlicher Theorien“ und die Peripherie/der globale Süden, da er „nicht zu theoretischem Denken fähig“ ist, als „Quelle von ‚Daten‘ oder […] lokaler Expertise“ für das Zentrum angesehen wurde (Tickner und Wæver 2009a, S. 335). Ein wesentliches Element, das zu diesem Resultat beiträgt, ist der hegemoniale Status der IB im Zentrum (ein weiterer Punkt, der mit den Erkenntnissen aus dem Projekt „Nichtwestliche IB-Theorien“ übereinstimmt), was daran erkannt werden kann, dass Forschungsgemeinschaften aus dem globalen Süden die Vorstellung, dass im Zentrum produziertes Wissen „maßgebender und wissenschaftlicher“ ist als „lokale Varianten“, verinnerlichen und selbst wiedergeben (Tickner und Wæver 2009a, S. 335). Dabei warnen Tickner und Wæver vor einer allzu starken Vereinfachung dieser Erkenntnisse, die ihrerseits als Ergebnis der „westlichen Denkweise, […] auf der Suche nach Verschiedenheit und Neuheit über den Westen hinauszublicken“, kritisiert werden können. Dieser Argumentation folgend diskutieren sie auch den potenziellen Wert einer Untersuchung dessen, was der postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha als „fast dasselbe, aber nicht ganz“ bezeichnete, d. h. die innen- und weltpolitische Sozialisierung der Forschungsgemeinschaften des Südens in Produkte der IB im globalen Norden, wie es von Pinar Bilgin empfohlen wird (2008, S. 19–20). In der abschließenden Bewertung rechtfertigen die Autoren ihre Bestrebungen, indem sie die Notwendigkeit betonen, herauszufinden, was IB in der Peripherie tatsächlich sind, anstatt sie mit IB im Zentrum zu vergleichen und die peripheren IB darüber zu definieren, was sie nicht sind (Tickner und Wæver 2009a, S. 339).

Das Hauptergebnis des Projekts „Geokulturelle Erkenntnistheorien und IB“ ist die bei Routledge erschienene Buchreihe Worlding Beyond the West, die im Laufe der Jahre stetig angewachsen ist, und unter diesem Titel ist das Projekt eigentlich auch besser bekannt, z. B. als „Worlding“-Projekt. Die ersten drei Bücher sind die von den beiden Autoren geplante Originaltrilogie, die aus dem oben genannten International Relations Scholarship Around the World, gefolgt von Thinking International Relations Differently (Tickner und Blaney 2012) und Claiming the International (Tickner und Blaney 2013) besteht. Die Reihe wurde seitdem auf 30 Titel erweitert, wozu auch Monografien und Sammelbände gehören, die den Schwerpunkt entweder auf ein bestimmtes Land oder regionales Umfeld (Visoka und Musliu 2019; Alejandro 2019; Delgado 2021) oder eine besondere theoretische oder konzeptionelle Fragestellung (Aydinli und Biltekin 2018) legen. Außer der Buchreihe gibt es auch ein wachsendes Forschungsgebiet, das für die Untersuchung von IB im globalen Süden/in der Peripherie einen soziologischen Ansatz übernimmt, um die vom Projekt „Geokulturelle Erkenntnistheorien und IB“ gestellte Frage, nämlich „Was ist lokal international?“, zu beantworten. Beispiele hierfür sind Fallstudien über China (Shambaugh 2011; Kristensen und Nielsen 2013; Lu 2014), Brasilien (Kristensen 2020; Milani 2021), Indien (Kristensen 2019) und Russland (Tsygankov und Tsygankov 2007).

2.3 Die postwestliche IB-Kritik

Postwestliche IB kamen auf als Reaktion auf die ersten Untersuchungen zu IB-Praktiken und theoretischen Ressourcen jenseits des westlichen Kontexts, insbesondere das von Acharya und Buzan geleitete Projekt „Nichtwestliche IB-Theorie“. Das Forschungsgebiet der postwestlichen IB stellt die ontologischen Annahmen früherer Arbeiten über Kategorien wie Westen und Nichtwesten in Frage sowie ihre epistemologische Einstellung, den Nichtwesten hauptsächlich durch Vergleiche mit dem Westen zu untersuchen und zu interpretieren, um damit die „Verschiedenheit“ oder „Abweichung“ des Nichtwestens vom Westen aufzuzeigen.

So stellt zum Beispiel Pinar Bilgin die Annahme westlicher Wissenschaftler, dass es „radikale Unterschiede“ in den sogenannten „nichtwestlichen“ Denkweisen über die Weltpolitik und deren Ausübung gibt, infrage. Indem sie die historische Entwicklung disziplinärer Sozialwissenschaften in den USA (wozu unter anderem auch IB und Politikwissenschaft gehören) zusammen mit der Weiterentwicklung der US-Außenpolitik während der Nachkriegszeit nachverfolgt, zeigt Bilgin auf, wie akademische Wissensproduktion nicht nur die Praxis prägte, sondern dass sie auch durch politische Zusammenhänge geprägt wurde (vgl. Bilgin 2008, S. 10). Viele dieser „nichtwestlichen“ Realitäten, die einer wissenschaftlichen Erklärung bedürfen, was Acharya und Buzan als Hauptgrund für das intellektuelle Streben nach „nichtwestlichen“ Theorien oder Perspektiven nennen, sind teilweise selbst das Produkt von Konzepten und Maßnahmen des „Westens“, wie etwa „nationale Sicherheit“, „Souveränität“ und „Entwicklung“. Neben den lokalen (nichtwestlichen) Akteuren, die den innenpolitischen Prozess vor Ort prägten, waren es in vielen Fällen amerikanische politische Entscheidungsträger und die wissenschaftliche Gemeinschaft, „die logistische und konzeptionelle Unterstützung leisteten“ (Bilgin 2008, S. 9). Dementsprechend ist es nicht nur unmöglich zu unterscheiden, was „westlich“ oder „nichtwestlich“ ist, sondern auch höchst problematisch, an dem selbstbetrügerischen Bild von der „Insularität“ der IB als ausschließliches Produkt des „Westens“ festzuhalten, während man sich der historischen Verbindungen zwischen dem „Westen“ und dem „Nichtwesten“ nicht bewusst ist (Bilgin 2008, S. 7–8). Darüber hinaus bedeutet dies, dass die Suche nach „radikalen Unterschieden“ im „Nichtwesten“ ein aussichtsloses und intellektuell frustrierendes Unterfangen sein könnte. Stattdessen argumentiert die Autorin, dass es wichtiger ist, die „Auswirkungen der historischen Beziehungen zwischen dem ‚Westen‘ und dem ‚Nichtwesten‘ auf die Entstehung von Sicht- und Handlungsweisen, die ‚fast dasselbe, aber nicht ganz‘ sind“, zu untersuchen (Bilgin 2008, S. 6).

Indem Giorgio Shani den Schwerpunkt auf die Erkenntnistheorie setzt, kritisiert er Acharyas und Buzans „Reduzierung der asiatischen nichtwestlichen IB auf die ‚vortheoretische‘ Ebene“ und „ihre anscheinend unkritische Akzeptanz des territorialisierten Nationalstaats als Grundeinheit jeder IB-Theorie“ als ein Vorgehen, das praktisch den Orientalismus der westlichen IB verstärkte (Shani 2008, S. 723). Obwohl Acharya und Buzan anerkennen, dass „die westliche IB-Theorie nicht nur die Bühne bereitet und das Drehbuch geschrieben, sondern auch das Publikum für IB und IB-Theorie bestimmt und institutionalisiert hat“ (Acharya und Buzan 2010b, S. 235), schreibt Shani, dass es den beiden Autoren nicht gelungen ist, ihre eigene Untersuchungsmethode, welche die Dichotomie Westen/Nichtwesten reproduziert, kritisch zu hinterfragen, da sie ausschließlich die westlichen IB durch neue Stimmen aus dem sogenannten „Nichtwesten“ bereichern möchten.

Was laut Shani erforderlich ist, ist keine Erweiterung der Sammlung von IB-Theorien, indem man einem größeren Pool potenzieller Kandidaten den Zugang ermöglicht, sondern eine „neue Analysemethode“ jenseits der vorhandenen westlichen kritischen IB-Theorien. Diese kritischen Perspektiven, von denen Shani den Neogramscianismus und die Frankfurter Schule als die wichtigsten theoretischen Grundlagen betrachtet, stellen zwar die positivistischen Annahmen des neorealistischen Anspruchs auf Objektivität in Frage, sind aber dennoch von eurozentrischem Historismus geprägt (Shani 2008, S. 725–26). Die weitere Nutzung dieser theoretischen Werkzeuge zur Kritik der IB, wenn auch aufgrund ihrer beruflich bedingten kritischen Haltungen zum Westen nur auf „sanftere“ Weise, birgt das Risiko einer Reproduzierung des Orientalismus (Shani 2008, S. 727). Um dieses Problem zu beheben, sollten kritische Diskurse innerhalb der nichtwestlichen Traditionen, die die „vermeintliche Einheit“ des Westens als einen Mythos auf globaler Ebene und ein Schlüsselelement der kolonialen Moderne destabilisieren, identifiziert werden, indem „man über die Sozialwissenschaften hinausblickt und die Welt der gelebten, verkörperten Erfahrungen und ritualisierten, kulturellen Praktiken betritt, aus denen „indigene“ (also nichtwestliche) kosmopolitische Traditionen bestehen“ (Shani 2008, S. 724). Um zu zeigen, dass dies möglich ist, erörtert Shani zwei „universalistische Gemeinschaften“ in den nichtwestlichen Traditionen: die islamische Umma und die Khalsa Panth des Sikhismus. Er argumentiert, dass beide über das Potenzial verfügen, „rudimentäre ‚postwestfälische‘ Gemeinschaften zu bilden“ (Shani 2008, S. 727). Wichtiger ist jedoch, dass dies zeigt, dass kritische IB-Wissenschaftler nicht nur überdenken müssen, wer in den IB fehlt, sondern wie sie mit denjenigen einen Dialog führen sollten, die von den IB aufgrund der Bedingungen des Dialogs, die Shani als „eine ‚trübe‘ säkulare, rationalistische historistische Methodik“ bezeichnet, weiterhin zum Schweigen gebracht oder ausgegrenzt werden (Shani 2008, S. 731).

Die von Bilgin und Shani geäußerte Kritik wurde von vielen Wissenschaftlern geteilt, die die ontologischen und epistemologischen Annahmen hinter dem jüngsten Interesse der Disziplin, nach dem zum Schweigen gebrachten, ausgegrenzten, versteckten oder unterdrückten Wissen jenseits des Westens zu suchen, gleichermaßen problematisch finden. Dieses Interesse wird tatsächlich nicht nur in den bereits genannten Sammelbänden durch das Projekt „Nichtwestliche IB-Theorie“ (Acharya und Buzan 2010b), sondern auch in Form einer Reihe von Veröffentlichungen widergespiegelt, die vorgeblich im Namen bestimmter nationaler oder regionaler „nichtwestlicher IB-Perspektiven“ auf die Forderung der Disziplin nach mehr Inklusivität und Diversität reagieren (Aydınlı und Biltekin 2017). Die Wissenschaftsgemeinschaft in der Volksrepublik China war hier besonders aktiv und hat ihre Arbeit als einen direkten Beitrag zu der Forderung nach nichtwestlichen IB-Theorien präsentiert. Angesichts des langjährigen innenpolitischen Interesses, eine „IB-Theorie mit chinesischen Charakteristiken“ zu entwickeln (Song 2001), begannen sich einige chinesische Wissenschaftler für die Entwicklung von indigenen IB-Theorien mit „deutlich chinesischer Perspektive“ einzusetzen, sowohl als Gegengewicht als auch als Alternative zur westlichen IB-Theorie (Qin 2009). Zu den beachtenswerten Arbeiten dieser Forschung gehören Qin Yaqings „relationale Theorie“ (Qin 2016, 2018), Yan Xuetongs „moralischer Realismus“ (Yan 2008, 2011) und Zhao Tingyangs „Tianxia-System“ (Zhao 2006, 2009, 2019). Diese und weitere ähnlich ausgerichtete Arbeiten haben für intensive Debatten unter IB-Wissenschaftlern gesorgt, sowohl als Reaktion auf die konkrete These als auch über die Komplexität des Dialogs mit Forschungsgemeinschaften und wissenschaftlichen Traditionen jenseits des Westens.

Ching-Chang Chen argumentiert zum Beispiel, dass die Art und Weise, in der nichtwestliche IB in der Disziplin gefördert werden, zu Nativismus verleiten könnte, der unkritisch dem „vom Westen vorgegebenen historistischen Kurs“ folgt (Chen 2011, S. 16). Gleichermaßen warnt Rosa Vasilaki, dass „IB […] nicht postwestlich geprägt oder dekolonisiert und in dieser Hinsicht weniger hierarchisch werden, indem einfach ein intellektueller Raum geschaffen wird, in dem mehr nichtwestliche Ansichten geäußert werden können (Pluralismus) oder weil verschiedene Arten des Partikularismus (lokale oder kulturelle IB) zu Universalismen erhöht werden“ (Vasilaki 2012, S. 7). Ihre Bedenken, dass regionale IB-Schulen schließlich „ihre eigenen Versionen von Hegemonie und Imperialismus“ (ebd.) entwickeln könnten, werden durch Auswertungen der zeitgenössischen chinesischen und russischen IB-Gebiete gestützt, in denen die Verfechter des indigenen Theoretisierens eine starke Tendenz zeigen, eine epistemologische, relativistische Haltung einzunehmen, die kategorisch die nationale Sichtweise (häufig unter dem Vorwand einer besonderen „zivilisatorischen Identität“) gegenüber allen externen und insbesondere westlichen Perspektiven bevorzugt (Callahan 2008; Makarychev und Morozov 2013; Noesselt 2015; Lu 2019).

Vasilaki geht mit ihrer Kritik noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass der Postkolonialismus eine bessere theoretische Grundlage für die Beschäftigung mit postwestlichen IB bieten sollte als das, was sie als „pluralistische“ und „partikularistische“ Ansätze bezeichnet. Diese letzten beiden Ansätze werden durch das oben besprochene Projekt „Nichtwestliche IB-Theorie“ von Acharya und Buzan bzw. die verschiedenen Initiativen für nationale oder regionale Schulen repräsentiert. Der Vorteil des Postkolonialismus liegt in seiner kritischen Fähigkeit, „die Beziehung zwischen Wissen und Macht zu problematisieren und den politischen und ideologischen Charakter der positivistischen westlichen IB aufzudecken“ (Vasilaki 2012, S. 8). Vasilaki erkennt dennoch eine problematische, wenn nicht gar gefährliche Tendenz, die in der postsäkularen Orientierung ihrer Epistemologie eingebettet ist und die zu einer „Logik der radikalen Singularität“ führen könnte, die schlussendlich sowohl die Fähigkeit postwestlicher IB, als sozialwissenschaftliches Vorhaben Erklärungen zu liefern, als auch ihre Fähigkeit, das „Andere“ ernsthaft zu berücksichtigen und sich darauf einzulassen, untergraben könnte (Vasilaki 2012, S. 11). Vasilaki führt Dipesh Chakrabartys Werk Provincializing Europe (Chakrabarty 2008) als Beispiel an und fordert postwestliche IB-Wissenschaftler auf, zu untersuchen, „wie auf eine neue Art von authentischem Universalismus hingearbeitet werden kann, der die bestehenden ungleichen Machtbeziehungen jenseits des von den westlichen Eliten bevorzugten Rahmens des liberalen Kapitalismus, aber auch jenseits der Rückkehr zu den religiösen oder traditionellen Hierarchien angehen kann“ (Vasilaki 2012, S. 20).

Auf diesen kritischen Überlegungen aufbauend setzen sich Chih-yu Shih und Yih-Jye Hwang dafür ein, dass IB-Wissenschaftler ein „Re-Worlding“ subalterner Orte durchführen sollten, indem sie untersuchen, wie westliches Wissen über IB an jedem einzelnen Ort ausgelegt und angeeignet wurde“ (Shih und Hwang 2018, S. 423). „Worlding“ wird definiert als das „Ausüben der gegebenen internationalen Beziehungen und der globalen Ordnung in einer mitwirkenden Identität (z. B. Rasse, Geschlecht, Klasse und Ort)“, wohingegen „Re-Worlding“ verstanden wird als das „Entdecken der in den unbeachteten vorherigen Beziehungen eingebetteten Handlungsmacht und der unbeabsichtigten Folgen dieser Handlungsmacht in den Worlding-Prozessen“ (Shih und Hwang 2018, S. 426). Einfach ausgedrückt kann beides als Wissensproduktion über die Weltpolitik von einem bestimmten epistemologischen Standpunkt aus verstanden werden. In ihre Definition ist jedoch ein sequenzieller Zusammenhang integriert: Während „Worlding“ die Schritte beschreibt, die durch den initiierenden Westen unternommen werden, um den Nichtwesten zu verstehen, geht es beim „Re-Worlding“ um die Antwort des Nichtwestens auf den initiierenden Westen (ebd.). Darüber hinaus orientiert sich das „Re-Worlding“ oder – wie die Autoren es bezeichnen – das „postwestliche Worlding“ an nichtwestlichen Orten, wo „eine gemischte und hybride Art der postkolonialen Moderne“ durch „Anpassung, Rückkopplung und Wiederherstellung des angetroffenen westlichen Einflusses“ verbessert werden könnte, im Gegensatz zum „westlichen Worlding“, das dazu neigt, nichtwestliche Ressourcen auf Grund ihres Nutzens für die „imperiale oder kapitalistische Regierungsführung“ zu beurteilen (Shih und Hwang 2018, S. 423). Die Autoren sind der Meinung, dass ein derartiger analytischer Schwerpunkt nicht nur die Handlungsmacht des Subalternen gegenüber dem anhaltenden Eurozentrismus in gegenwärtigen internationalen Beziehungen hervorheben würde, sondern auch „die ‚provinziellen‘ Charakteristiken des Westens, der sich fälschlicherweise als universal dargestellt hat“, offenlegen würde (ebd.).

Die Autoren versuchen ebenfalls, die epistemologische Hypokrisie in den bestehenden postwestlichen Untersuchungen zu überwinden. Ein Kernpunkt ist das immer wieder kritisierte, aber sich hartnäckig haltende Konzept der Binarität „Westen versus Nichtwesten“ (Bilgin 2008; Alejandro 2017; Katzenstein 2018). Um sich von der Sicht auf den Nichtwesten als eine „Kombination von Identitäten hinsichtlich der Hautfarbe, des Geschlechts, der Klasse und des Ortes, die sich (i) außerhalb des Westens, (ii) widerstandsfähig gegenüber dem Westen, (iii) dekonstruktiv gegenüber dem Westen, (iv) als Hybridform mit dem Westen oder (v) über den Westen triumphierend entwickelt hat“, wegzubewegen, definieren die Autoren das Postwestliche als „einen Zustand und eine Praxis des Re-Worlding, das Binaritäten zwischen verschiedenen Welten im Allgemeinen und zwischen dem Westen und dem Nichtwesten im Besonderen in Einklang bringt“ (Shih und Hwang 2018, S. 428). Außerdem argumentieren die Autoren, dass man vermeiden sollte, auch den Westen zu essenzialisieren, indem der Untersuchung, wie der Nichtwesten auf den Westen reagiert hat, zu große Bedeutung beigemessen wird, als ob der Westen selbst epistemologisch gegeben und auf ihn kein nichtwestlicher Einfluss ausgeübt worden wäre. Indem sie das Projekt „Worlding jenseits des Westens“ von Tickner und Wæver mit einer Fördermaßnahme vergleichen, argumentieren Shih und Hwang, dass mittels einer umfassenden postwestlichen Untersuchung wieder entdeckt werden muss, „wie der provinzielle Westen mit nichtwestlichen intellektuellen Ressourcen in Berührung gekommen ist“ (Shih und Hwang 2018, S. 429). Der Grund dafür ist folgender:

By treating the West as just another post-Western site this way, we will be able to deconstruct Eurocentrism and Orientalism not by denying their discursive imperialism or involvement in the historical expansion of the West, but by demonstrating how differently Orientalist the West can be at different Western geo-cultural sites (ebd.).

Verglichen mit den in den vorangehenden zwei Abschnitten erörterten Forschungsgebieten, insbesondere dem zuerst genannten Projekt „Nichtwestliche IB-Theorie“, weisen postwestliche IB eine erheblich stärkere kritische Haltung und Reflexivität gegenüber den epistemologischen und ontologischen Annahmen auf, die in der Forschungsagenda über die Überwindung des Eurozentrismus in der IB-Wissensproduktion eingebettet sind. Wie der folgende Abschnitt zeigt, haben Wissenschaftler wie Acharya und andere versucht, auf die Kritik der postwestlichen IB einzugehen und diese in ein neuformuliertes und ehrgeizigeres Projekt zur Überarbeitung der Disziplin der IB miteinfließen zu lassen. Aus den Reaktionen auf dieses neue Projekt ist zu erkennen, dass die postwestlichen IB in der breiteren Debatte darüber, wie wir uns nichtwestlichen Perspektiven annähern und Eurozentrismus in den IB überwinden sollten, weiterhin ein wichtiger Gesprächspartner bleiben.

2.4 Die Debatte über globale IB

Im Jahr 2014 kündigte Acharya eine neue Forschungsagenda namens „Globale IB“ an. Mit dieser versucht er, auf die Kritik – insbesondere die aus dem Forschungsgebiet der postwestlichen IB – einzugehen, die gegenüber dem Projekt „Nichtwestliche IB-Theorie“ geäußert wurde (Acharya 2011). Unter Berücksichtigung der verschiedenen Ansätze und Perspektiven in der Debatte zwischen nichtwestlicher und postwestlicher IB versucht Acharya, beide Diskurse im Rahmen dessen, was er „eine weitergehende Herausforderung für die Überarbeitung der IB als globale Disziplin“ nennt und was als „Gobale Internationale Beziehungen“ bezeichnet werden soll, zusammenzufassen (Acharya 2014, S. 694). Ein zentrales Anliegen oder Ziel dieses Projekts ist die Überwindung der Westen/Nichtwesten-Binarität sowie „aller ähnlichen binären und sich gegenseitig ausschließenden Kategorien“ (ebd.), die, wie wir bereits gesehen haben, bei vielen Wissenschaftlern, die dem umfassenderen Ziel der Überwindung des Eurozentrismus in den IB wohlgesonnen oder sogar gleichermaßen verpflichtet sind, zu Besorgnis führten (Bilgin 2008; Hutchings 2011; Vasilaki 2012). Das Konzept der globalen IB soll sich auf sechs Dimensionen beziehen: 1) Es basiert auf pluralistischem Universalismus, der die Diversität jeder Person anerkennt und respektiert; 2) es ist in der Weltgeschichte verwurzelt, die eher globale als regionale oder nationale Perspektiven hervorbringt; 3) es fasst bestehende IB-Theorien und -Methoden zusammen, anstatt sie zu verdrängen; 4) es bindet die Untersuchung von Regionen, Regionalismen und Regionalwissenschaften ein; 5) es verzichtet auf jede Art von Exzeptionalismus und 6) es erkennt mehrere Arten der Handlungsmacht jenseits materieller Macht an (Acharya 2014, S. 649). Die Erarbeitung globaler IB spiegelt eine ernsthafte Beschäftigung mit den Kritikern der früheren Debatte und ein systematisches Überdenken der epistemologischen und methodischen Fragen wider. Wichtig ist, dass Acharya auf die vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der verschiedenen nationalen und regionalen Schulen antwortet, indem er die Notwendigkeit betont, sich vor kulturellem Exzeptionalismus sowie Provinzialismus im Allgemeinen und nicht nur der eurozentrischen Art zu schützen (Acharya 2014, S. 651).

Bei der Jahrestagung 2015 der International Studies Association (ISA) lud Acharya Wissenschaftler aus aller Welt dazu ein, über das Projekt der globalen IB zu diskutieren. Das Resultat dieses Austauschs wurde ein Jahr später in der International Studies Review (Band 18, Ausgabe 1) als Sonderausgabe (Presidential Issue)Footnote 1 veröffentlicht und besteht aus neun umfassenden analytischen Aufsätzen, einer Sammlung von zehn kurzen Kommentaren mit dem Titel „A Global Discipline of IR?“ und seinem eigenen Aufsatz „Advancing Global IR: Challenges, Contentions, and Contributions“ als Einleitung. Ungeachtet einiger Meinungsverschiedenheiten waren die Reaktionen darauf insgesamt wohlwollend. Die Wissenschaftler stimmten im Allgemeinen den Ambitionen der globalen IB und ihrer Ausrichtung zu. Gleichzeitig wurden im Rahmen des Austauschs auch eine Reihe von Problemen aufgezeigt, begleitet von verschiedenen Vorschlägen, wie Forscher sich mit diesen befassen oder sie bewältigen könnten, um die Praxis der globalen IB zu verbessern.

Sowohl Barry Buzan als auch Andrew Hurrell schließen sich der postwestlichen IB-Kritik an und warnen vor der Tendenz nationaler und regionaler Schulen, ein Nach-Innen-Gerichtet-Sein, Ethnozentrismus und Wissensproduktion im Dienste nationaler Interessen zu fördern (Buzan 2016, S. 157; Hurrell 2016, S. 150). Hurrell fragt außerdem, was „jenseits der Kritik“ noch zu tun ist. Er beklagt „eine zu starke Foucaultsche Besorgnis bezüglich der Wissensproduktion sowie der Repräsentations- und Diskurspolitik“ (Hurrell 2016, S. 150) in den bestehenden Forschungsgebieten und fordert die auf dem Gebiet der globalen IB forschenden Wissenschaftler dringend dazu auf, ihre Bemühungen zu verstärken, Gespräche jenseits des westlichen Kenntnisrahmens zu eröffnen, um zu erforschen, „wie aus verschiedenen historischen, entwicklungspolitischen und kulturellen Zusammenhängen entstehende Ideen allgemeinere, gar globale Relevanz und Anwendung finden können“ (Hurrell 2016, S. 151). Demgegenüber schaffen Eric Blanchard und Shuang Lin Aufmerksamkeit für das Fehlen einer Frauen- und Geschlechterperspektive in den chinesischen IB und veranschaulichen die Komplexität und Schwierigkeit, „diverse, nichthegemoniale, untergeordnete Stimmen“ in peripheren, nichtwestlichen Umgebungen wirklich anzuerkennen (Blanchard und Lin 2016). Tatsächlich wurde in Qin Yaqings Aufsatz, der in derselben Ausgabe enthalten ist, nichts über Geschlechter (oder auch Rassen oder Ethnien) erwähnt und er führt darin ein Exposé seiner „Relationalen Theorie der Weltpolitik“ an, die auf der konfuzianischen Konzeptualisierung von Relationalität basiert (Qin 2016). Die mangelnden, wenn nicht sogar komplett fehlenden Diskussionen über Rasse und Geschlecht in den globalen IB unterstreichen laut Tickner die Notwendigkeit, die vorherrschenden Annahmen darüber, welche Art von Wissen von der Hauptströmung der Disziplin als legitim angesehen werden kann, infrage zu stellen. Sie argumentiert außerdem, dass es zur Förderung tatsächlich globaler IB gegenüber einem am eurozentrischen westfälischen System mitschuldigen Wissensregime notwendig ist, die methodischen Einschränkungen der disziplinären IB zu bekämpfen, die sich feministischen, poststrukturalistischen und postkolonialistischen Ansätzen widersetzen (Tickner 2016). Diese Aufgabe wurde teilweise durch Bilgin aufgenommen, die auf Edward Saids Ansatz der „kontrapunktischen Lektüre“ zurückgreift, um „eine Methode, ein Ethos und eine Metapher“ für globale IB auszuarbeiten (Bilgin 2016).

Die Debatte wurde 2017 in der International Studies Review (Band 19, Ausgabe 2) weitergeführt und konzentrierte sich auf die Frage, wie auf dem Gebiet der globalen IB forschende Wissenschaftler die Diskussion sinnvoll über das bloße Abbilden von IB an verschiedenen Orten rund um die Welt hinaus fortführen und den Wortteil ‚inter‘ in der IB-Theorie „nachfokussieren und nachkalibrieren“ könnten (Hellmann und Valbjørn 2017, S. 279). Auf vorherigen Austauschrunden aufbauend stellten Gunther Hellmann und Morten Valbjørn in ihrem Eröffnungsaufsatz fest, dass es an der Zeit sei, die globalen IB vom internationalen zum internationalen Aspekt der Frage zu führen. Sie erkennen die durch vielfältige Anstrengungen erreichten Erfolge an, den eurozentrischen Monolog in den IB durch das zu überwinden, was die Autoren als globales „Abbilden“ der IB bezeichnen (Hellmann und Valbjørn 2017, S. 280); hierzu zählen die Suche nach einer nichtwestlichen IB-Theorie (Acharya und Buzan 2007), die Untersuchung der IB-Forschungsgebiete rund um die Welt (Tickner und Wæver 2009b) sowie ein wachsender Korpus theoretischer Literatur, der ausdrücklich und ausführlich auf nichtwestliche klassische Traditionen, insbesondere aus Asien, zurückgreift (Shani 2008; Yan 2011; Ling 2013; Qin 2016; Shahi 2019). Gleichzeitig hinterfragen die Autoren eine besorgniserregende Tendenz zur „Renationalisierung“ anstatt zur „Internationalisierung“ der Disziplin, die entstanden ist durch das unverhältnismäßig größere Interesse der IB-Wissenschaftler daran, das aufzudecken, was im Nichtwesten versteckt war, als an der Untersuchung, wie Wissenschaftler diese unterschiedlichen Kenntnisse und Perspektiven einsetzen können, um unser Verständnis der „internationalen“ Beziehungen sinnvoll zu erweitern. Eine solche Tendenz mit ihrer „Fixierung auf exotische Unterschiede“ könnte zu einer noch weiter fragmentierten Disziplin führen, „in der wir vermutlich alle schließlich in voneinander getrennten Universen leben werden“ (Hellmann und Valbjørn 2017, S. 281), ohne jede Möglichkeit, miteinander in einen Dialog zu treten, gemeinsame Probleme zu diskutieren und gemeinsame Anliegen der Menschheit insgesamt in Angriff zu nehmen.

Wie leicht zu erkennen ist, hat das Forum weiterhin dieselben von Wissenschaftlern der postwestlichen IB geäußerten Bedenken, die im vorherigen Abschnitt erörtert wurden. Insbesondere wiederholt es Rosa Vasilakis Aufforderung zur Beantwortung der tatsächlichen Frage, wie die globale Gemeinschaft eine neue Art von „echtem Universalismus“ schaffen kann, nachdem Europa provinzialisiert wurde, nachdem erkannt wurde, dass Macht und Wissen sich einander bedingen, und nachdem nachgewiesen wurde, dass ‚Objektivität‘ sowohl falsch als auch unerwünscht ist (Vasilaki 2012, S. 20). Diesem Gedankengang folgend legen die Teilnehmer an der Debatte verschiedene Überlegungen dazu vor, wie globale IB gefördert werden könnten bzw. sollten.

Zum Beispiel untersucht Morten Valbjørn vier verschiedene Idealtypen des Dialogs – d. h. hierarchisch, reflexiv, transformativ und eristisch – im Hinblick auf deren Zweck, Verfahren und Ergebnis und zeigt, dass ein Dialog „über Dialoge“ notwendig ist, um den Wortteil „inter“ in der Theorie der internationalen Beziehungen neu zu kalibrieren (Valbjørn 2017). In eine ähnliche Richtung geht Gunther Hellmann, der die Bedeutung der Interpretation und des „Sprachenlernens“ betont, um das Problem der Unvergleichbarkeit verschiedener „Paradigmen“ im Forschungsgebiet der globalen IB zu bewältigen (Hellmann 2017). Indem Alejandro die Reflexivität gegenüber Sprache und Kommunikation einen Schritt weiterführt, richtet sie die Aufmerksamkeit auf das sogenannte „Dominanznarrativ“ unter IB-Wissenschaftlern aus dem Süden (Brasilien und Indien), das sich auf „den gemeinsamen Diskurs“ bezieht, der „darauf beharrt, die Beziehung zwischen den zwei Gruppen von Wissenschaftlern durch eine Linse der Dominanz zu betrachten“ und der dieselben politischen und sozialen Beziehungen (d. h. neokoloniale Beziehungen) unterhalten kann, die er beschreibt (Alejandro 2017). Felix Rösch wiederum betrachtet den Nutzen der Wiederherstellung des „inter“ als „liminale Räume“, die sich starren Charakterisierungen widersetzen, um den Dialog und den Wissensaustausch zwischen verschiedenen Wissenstraditionen jenseits der disziplinären Einschränkungen der IB zu unterstützen (Rösch 2017). Schließlich führt Knud Erik Jørgensens Vorschlag die Diskussion in die ontologische Dimension. Jørgensen löst sich von der Beschäftigung der anderen Beitragenden mit der epistemologischen Verbesserung im Hinblick auf Dialoge und Narrative und schlägt ein konzeptionelles Triptychon aus „Staat/Reich/Zivilisation“ vor, um die ontologische Inkongruenz zwischen „Parallelwelten“, die aus verschiedenen, aber miteinander verflochtenen Arten von Einheiten (Staaten, Reiche oder Zivilisationen) bestehen, in Angriff zu nehmen (Jørgensen 2017).

Aus den vorstehend besprochenen Debatten entsteht der Eindruck, dass eine breite Akzeptanz des grundlegenden Ziels der Agenda globaler IB, nämlich mehr Inklusion und Diversität zu erlangen, sich in der Disziplin durchgesetzt hat. Dabei könnten die verschiedenen Reaktionen auf und Vorschläge für globale IB als Spiegelung der unterschiedlichen, manchmal entgegengesetzten philosophischen und theoretischen Traditionen innerhalb der Disziplin selbst verstanden werden (Jackson 2011). Jüngere Beiträge haben über diese abweichenden Standpunkte Bilanz gezogen, um den bisherigen Fortschritt bei der Öffnung der IB für verschiedene Stimmen zu beurteilen (Aydınlı und Biltekin 2017) und einen möglichen Plan dafür vorzuschlagen, wie Wissenschaftler die globalen IB vorantreiben können (Gelardi 2020). Im folgenden Abschnitt werde ich jedoch kurz auf ein anderes, neueres Projekt eingehen, mit dem versucht wird, das Projekt der globalen IB infrage zu stellen und über dieses hinauszugehen.

2.5 Ontologischer Pluralismus und pluriversale IB

Im Diskurs über globale IB wurde die Frage der Ontologie vergleichsweise weniger erörtert als die der Epistemologie. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Politik der Ontologie sich der Aufmerksamkeit der Wissenschaftler entzogen hat. Stattdessen hängt sie mit der Gestaltung des Projekts der globalen IB als ausschließlich „epistemische Wende, die die ontologische Wende vermeidet“, zusammen (Fonseca 2019, S. 55). Während Acharya behauptet, dass globale IB auf einem „pluralistischen Universalismus“ gegründet sind, der Diversität anerkennt und respektiert, legen gemäß David Blaney und Arlene Tickner das implizite Beharren auf einer einzigen Weltgeschichte und das Versprechen einer Zusammenfassung anstatt einer Verdrängung bestehenden IB-Wissens nahe, dass dieser „Universalismus“ sich mit einer Eine-Welt-Ontologie, die mehrere Wissensformen zulässt (epistemologischer Pluralismus), leichter tut als damit, die Existenz mehrerer Welten (ontologischer Pluralismus) zu akzeptieren (Blaney und Tickner 2017, S. 301–3). Die Eine-Welt-Haltung wird offensichtlich von Hellmann und Valbjørn (2017, S. 281) geteilt, wenn sie ihre Aufforderung zur Neukalibrierung des Wortteils „inter“ in der IB-Theorie definieren als „auf der Überzeugung basierend, dass die Tatsache, dass wir nicht alle gleich sind, nicht bedeutet, dass wir in voneinander getrennten Universen leben“. Im Gegensatz dazu argumentiert Querejazu, dass ein wesentliches Problem der IB genau darin liegt, dass ihnen der ontologische Pluralismus fehlt, was daran zu erkennen ist, dass sie auf „einer Eine-Welt-Realität als natürliche und universelle Tatsache“ beharren, anstatt anzuerkennen, dass „Realität aus […] vielen Arten von Welten, vielen Ontologien, vielen Arten, in der Welt zu sein, gebildet wird“ (Querejazu 2016, S. 3). Die Lösung ist daher, das Pluriversum als ontologischen Startpunkt anzunehmen. Eine pluriversale Perspektive geht über das hinaus, was IB-Wissenschaftler als „theoretischen Pluralismus“ verstanden haben, der mehrere Perspektiven einer Welt impliziert, und trägt dazu bei, zu überlegen, wie mehrere verschiedene Welten nebeneinander existieren, „die nicht einer Realität, sondern der Unvergleichbarkeit unterworfen sind“ (Querejazu 2016, S. 3).

Die Bedeutung eines pluriversalen Ansatzes in den IB liegt in der Notwendigkeit, den eigentlichen ontologischen Rahmen infrage zu stellen, der laut einigen Wissenschaftlern die Kolonialität der IB als ein eurozentrisches Vorhaben aufrechterhält. Laut Zeynep Gulsah Capan (2017, S. 3) ist Eurozentrismus „eine Art von Wissen und ein Paradigma für ‚die Interpretation einer (vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen) Realität, die unkritisch die Vorstellung des europäischen und westlichen historischen Fortschritts/Erfolgs und seiner politischen und ethischen Überlegenheit‘ begründet“. Durch die daraus folgende „Festlegung von ‚Unterscheidungen‘ innerhalb der geopolitischen und geokulturellen Struktur der Weltpolitik“, wie etwa „zivilisiert/unzivilisiert“, „modern/traditionell“, „fortschrittlich/rückständig“ und „Westen/Nichtwesten“, wurde das als IB bekannte Wissenssystem aufrechterhalten (ebd.). Um den Eurozentrismus in den IB zu überwinden, muss die Reproduktion dieser Binaritäten unbedingt unterbrochen werden. Während Projekte wie nichtwestliche/postwestliche IB und globale IB nutzbringend die Unterschiede zwischen Wissenstraditionen aus aller Welt hervorgehoben haben, liegt das Problem nicht, wie Blaney und Tickner (2017, S. 303) es ausdrückten, darin, dass Menschen jenseits des Westens andere Ansichten über dieselbe Realität als die Menschen im Westen haben und dass man weiterhin IB praktizieren kann, solange andersartige, nichtwestliche Darstellungen in unserem disziplinären Vokabular aufgenommen werden. Eine derartige Eine-Welt-Annahme ist das Markenzeichen der Kolonialität moderner Sozialwissenschaften, und damit auch der IB. Man muss vielmehr verstehen, dass es unterschiedliche Realitäten gibt, die durch unterschiedliche Praktiken dargestellt werden (ebd.).

Der pluriversale Ansatz ist eine besonders wichtige Ressource für Wissenschaftler, die sich für die Dekolonialisierung der Disziplin der IB interessieren. Hutchings (2019, S. 124) argumentiert beispielsweise, dass die Vorstellung von Pluriversalität einen eindeutigen Weg zur Dekolonialisierung der globalen Ethik darstellt, indem „epistemische und technokratische Modelle der Ethik infrage gestellt werden“ und „wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was es bedeutet, mit anderen zu leben, ohne sie in die eine oder andere Welt einzuordnen“. Dies steht gut mit neueren Arbeiten über Relationalität in den IB im Einklang, da die relationale Perspektive die Entwicklung von konzeptionellen Instrumenten unterstützt, mit denen „verschiedene Wege der Erfahrung und der Existenz erforscht und gewürdigt werden können“ (Kurki 2021). Ein gutes Beispiel ist in dieser Hinsicht Querejazus Einsatz relationaler Methoden, um pluriversale IB durch ein Worlding-Verfahren namens „Cosmopraxis“ zu gestalten (Querejazu 2021).

3 Schlussbetrachtung

Auf den vorhergehenden Seiten habe ich einige der wichtigsten Debatten in den letzten zwei Jahrzehnte untersucht, in denen es darum geht, wie wir die Disziplin über ihre gegenwärtige Art der Wissensproduktion hinaus entwickeln sollten, die gemeinhin als „westliche IB“, „Mainstream-IB“ oder „disziplinäre IB“ bezeichnet wird. Wie meine Erörterungen zeigen, hat das unterschiedliche, wenn nicht gar widersprüchliche Verständnis von Problemen zu sehr unterschiedlichen Vorschlägen für deren Lösung geführt. Während sich die in diesem Aufsatz besprochenen Forschungsgebiete größtenteils einig sind über die Beschränkungen der bestehenden IB und die Notwendigkeit, unser Wissen über die Weltpolitik und deren Ausübung zu überarbeiten, zu aktualisieren oder umzuwandeln, unterscheiden sie sich erheblich in ihrer Ansicht darüber, was das Problem ist (z. B. fehlende nichtwestliche IB-Theorien, die privilegierte westliche Art der IB-Ausübung oder des „Worlding“ oder die „Eine-Welt“-Annahme), wie es entstanden ist (z. B. durch die Hegemonie der westlichen IB, durch die Ausgrenzung nichtwestlicher Erfahrungen und Reaktionen auf den Westen, durch die Kolonialität der IB als ein eurozentrisches Vorhaben) und was getan werden sollte, um es zu lösen (z. B. Förderung nichtwestlicher IB-Theorien, Provinzialisierung des Westens durch Wiederentdeckung nichtwestlicher Handlungsmacht, Dekolonialisierung der IB durch Einsatz ontologischer Politik). Wenn diese verschiedenen Forschungsprojekte miteinander verglichen werden, offenbaren sich bedeutende methodische, epistemologische und ontologische Meinungsverschiedenheiten innerhalb der globalen IB-Gemeinschaft. Gleichwohl zeigt dieses Unterfangen auch, dass es verschiedene potenzielle Wege gibt, die die Wissenschaftler wählen könnten, um sich am breiten Bestreben der Disziplin, sich über den eurozentrischen Monolog hinauszubewegen, zu beteiligen. In diesem Sinne kann man Gelardis (2020) dreistufigen Plan – der jeden Forscher dazu auffordert, darüber nachzudenken, „wer sprechen kann“, „wie man lokal Präsenz zeigt“ und „wie man das Lokale global macht“ – als mehr als nur einen Leitfaden für die vielen parallel existierenden Forschungsansätze zu den globalen IB betrachten. Wie die Diskussion hier zeigt, ist dies auch eine Anerkennung der zunehmenden Inklusivität der Disziplin gegenüber verschiedenen Forschungsverfahren zur Untersuchung der IB.