Ukraine-Krieg einfrieren? Ende des Blutvergießens und Chance zum Kräftesammeln

Eingefrorene Konflikte – Ende des Blutvergießens und Chance zum Kräftesammeln

Die von Rolf Mützenich angestoßene Diskussion um ein Einfrieren des Ukraine-Konflikts baut auf reale Vorbilder. Die Berliner Zeitung stellt einige vor.

Töten im heißen Krieg: Ukrainischer Soldat beim Start einer mit Sprenggranaten beladenen Drohne.
Töten im heißen Krieg: Ukrainischer Soldat beim Start einer mit Sprenggranaten beladenen Drohne.Uncredited/ukrin/dpa

Mit seiner Aussage zum möglichen „Einfrieren“ des Ukrainekriegs hat der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich eine kontroverse Diskussion ausgelöst. Es gibt allerdings Beispiele, in denen durch das Einfrieren eines Konflikts für Jahrzehnte weiteres Blutvergießen verhindert werden konnte. Und in mindestens einem Fall gewann der militärisch Schwächere wertvolle Zeit, um verlorene Gebiete zurückzuerobern. Einige Beispiele:

Zypern

Der Zypernkonflikt ist einer der ältesten eingefrorenen Konflikte (Frozen Conflict) weltweit. Seine Wurzeln reichen bis in die 1960er-Jahre zurück, als es auf der Mittelmeerinsel zu zunehmenden Spannungen zwischen der griechischen Mehrheit und der türkischen Minderheit kam. 1974 putschten zypriotische Nationalisten und erklärten den Anschluss an das griechische „Mutterland“, das zu dieser Zeit von einer Militärdiktatur beherrscht wurde. Daraufhin intervenierte die Türkei; türkische Soldaten besetzten den gesamten Nordteil Zyperns.

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Zwar war der Einmarsch der Türken eine Reaktion auf die Annexionspläne der Militärs in Athen, doch war die Abtrennung des Nordens vom Rest der Insel ein Bruch geltenden Völkerrechts. Im Jahr 1983 rief die türkisch-zypriotische Führung die „Türkische Republik Nordzypern“ aus. Damit war die Teilung besiegelt, wenngleich kein Land der Welt – mit Ausnahme der Türkei – die Republik Nordzypern je anerkannte.

Die schnelle Stationierung von UN-Truppen an der Grenze zwischen der Republik Zypern und dem türkischen Norden hat weitere Kampfhandlungen unterbunden. Seit 1974 wachen UN-Soldaten über den brüchigen Frieden. Durchaus mit Erfolg: Eine ernsthafte militärische Auseinandersetzung auf Zypern gab es seit 1974 nicht mehr.

In den folgenden Jahrzehnten gab es immer wieder politische Gespräche über eine Wiedervereinigung, allerdings blieben sie sämtlich erfolglos. So scheiterte auch eine Volksabstimmung über die Wiedervereinigung der beiden Inselteile 2004 – überraschenderweise im griechischen Süden. Auf Ablehnung stießen vor allem die geplante Präsenz türkischer Truppen im Norden Zyperns und das nur begrenzte Rückkehrrecht der Zyperngriechen in den Norden.

Im Mai 2004 trat die Republik Zypern der EU bei. Dadurch erhielt der griechische Inselteil die Möglichkeit, den Annäherungsprozess der Türkei an die EU zu stoppen. Für den türkischen Präsidenten Erdogan scheint die EU-Mitgliedschaft jedoch ohnehin keine Priorität mehr zu genießen.

Die Abkoppelung des Nordens vom Süden Zyperns wird auch durch den Zuzug von Festlandstürken verstärkt, die konservativer und religiöser sind als die türkischen Zyprioten. Der Präsident Nordzyperns, Ersin Tatar, gilt als Vertrauter Erdogans und verfolgt die weitere Annäherung an die Türkei. Eine Wiedervereinigung der beiden Inselteile wird damit immer unwahrscheinlicher.

Unter UN-Vermittlung kam es 2021 zu einem weiteren Versuch der Annäherung. Anschließend teilte die UN lapidar mit: „Die beteiligten Parteien haben keinen gangbaren Weg zu einer Lösung des Konfliktes finden können.“ Seitdem hat sich nicht viel getan. Zypern ist ein Beispiel für einen Frozen Conflict, mit dem sich beide Seiten stillschweigend arrangiert haben.

Moldau und Transnistrien

Ein weiterer eingefrorener Konflikt findet sich in Moldau an der Südwestgrenze der früheren Sowjetunion. Der gleichnamige Staat löste sich 1990 aus der Konkursmasse der UdSSR. Die bis dahin moskautreuen moldauischen Kommunisten erklärten sich zu Vorkämpfern der nationalen Souveränität.

Bei den russischsprachigen Einwohnern Moldaus, die ein gutes Drittel der Bevölkerung ausmachen, stießen sie damit auf entschiedenen Widerstand. Ein großer Teil lebt im Gebiet Transnistrien – das Gebiet östlich des Dnistr-Flusses – an der Grenze zur Ukraine. Die Gründe liegen in der Geschichte. Bis Ende des Ersten Weltkriegs gehörte ganz Moldawien zum russischen Zarenreich. Danach wurde Transnistrien Teil der jungen Sowjetunion, während der Rest des Landes zu Rumänien kam. Nach Transnistrien zogen damals viele Russen und russischsprachige Ukrainer, während das restliche Moldawien einer „Rumänisierungspolitik“ unterworfen war.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde ganz Moldawien der Sowjetunion zugeschlagen. Dennoch liegen viele Ursachen des heutigen Konflikts in der Zwischenkriegszeit. Zudem kamen auch nach 1945 Russen und Ukrainer bevorzugt nach Transnistrien, das stärker industrialisiert war als das übrige Moldau.

Die 1989 von der moldauischen Führung beschlossene Abschaffung des Russischen als zweite Amtssprache sowie die von manchen Nationalisten erhobene Forderung eines Anschlusses an Rumänien ließen in Transnistrien die Alarmglocken schrillen. Sowjettreue Politiker in Transnistrien erklärten 1990 die Abspaltung von Moldau und riefen das Gebiet als eigene Sowjetrepublik aus.

Nach dem Ende der Sowjetunion versuchte die moldauische Regierung, Transnistrien wieder einzugliedern. Daraufhin kam es 1992 zu Auseinandersetzungen zwischen der moldauischen Armee und militärischen transnistrischen Einheiten. Im Verlauf der Kämpfe griff die in Transnistrien stationierte 14. Armee – einst sowjetisch, inzwischen unter russischem Oberbefehl – zugunsten der Separatisten ein und drängte die moldauische Armee aus Transnistrien hinaus.

Die Niederlage der moldauischen Armee gab den transnistrischen Machthabern die Chance, so etwas wie eigene Staatlichkeit aufzubauen – auf einem Territorium mit der vierfachen Fläche Berlins und 350.000 Einwohnern. International ist Transnistrien nicht anerkannt, auch nicht von Russland. Bis zum Beginn des Ukrainekrieges hatten sich sowohl die Regierung in Moldau als auch die transnistrische Führung mit dem Status quo weitgehend abgefunden. Umstritten blieb allerdings die Präsenz der russischen Armee.

Der Kreml wirft nun der Führung in Moldau vor, die Rechte der russischen Minderheit zu verletzen. Ende Februar wandte sich das transnistrische „Parlament“ an Moskau „mit der Bitte um die Realisierung von Maßnahmen zum Schutze Transnistriens angesichts des zunehmenden Drucks durch Moldau“. Offensichtlich versucht die russische Regierung, Transnistrien als Hebel gegen die Annäherung Moldaus an EU und Nato einzusetzen. Vor dem Hintergrund der angespannten Lage in Südosteuropa ist das ein gefährliches Spiel. Die Gefahr ist daher auch, dass der im beiderseitigen Interesse eingefrorene Konflikt erneut aufbricht.

Korea

Auch die Lage auf der koreanischen Halbinsel wird von manchen Experten als Frozen Conflict bezeichnet. Allerdings weist die Situation dort einige Besonderheiten auf. Der Streit hat im Gegensatz zu den meisten anderen eingefrorenen Konflikten keine ethnische Komponente. Auf beiden Seiten der Demarkationslinie, die die Halbinsel durchschneidet, leben mehrheitlich Koreaner. Der Konflikt hat ursprünglich ideologische Hintergründe: die Auseinandersetzung zwischen Kommunismus (Nordkorea) und Kapitalismus (Südkorea), wobei der nordkoreanische Kommunismus der im Überfluss lebenden Kim-Dynastie in inzwischen dritter Generation als Legitimation ihrer Herrschaft dient. Eine Besonderheit ist, dass mit Nordkorea eine Partei in dem Konflikt besonders irrational und sprunghaft agiert.

Auch die Tatsache, dass Nordkorea Atomwaffen besitzt und mit deren Einsatz droht, sowie die Präsenz der Atommacht USA in Südkorea geben diesem Frozen Conflict besondere Brisanz. Hinzu kommt die geografische Nähe zu China. Eine etwa vier Kilometer breite demilitarisierte Zone zwischen beiden Staaten, an deren Überwachung die UN beteiligt ist, hat bislang dazu beigetragen, ein Wiederaufflammen des Koreakriegs zu vermeiden.

Eingefrorener Konflikt zwischen Nord- und Südkorea: Ein nordkoreanischer Soldat vor der seit 1953 bestehenden Grenze.
Eingefrorener Konflikt zwischen Nord- und Südkorea: Ein nordkoreanischer Soldat vor der seit 1953 bestehenden Grenze.Dita Alangkara/AP/dpa

Aserbaidschan

Dass ein Frozen Conflict durchaus wieder aufbrechen kann, zeigt eine weitere postsowjetische Region. Das auf aserbaidschanischem Territorium gelegene, bis 2023 armenisch besiedelte Bergkarabach dokumentiert zugleich, dass die zuvor militärisch unterlegene Seite einen Waffenstillstand nutzen kann, um das Kräfteverhältnis grundlegend zu ihren Gunsten zu verändern.

Bergkarabach war jahrhundertelang eine armenische Exklave in einer islamisch dominierten Region. Nach der Russischen Revolution wurde es 1921 Teil der Sowjetrepublik Aserbaidschan, erhielt allerdings einen autonomen Status. Schon in sowjetischer Zeit gab es immer wieder Spannungen zwischen christlichen Armeniern und islamischen Aserbaidschanern.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion forderten die Karabach-Armenier den Anschluss der Region an die Republik Armenien. In der Folge kam es zu Konflikten, Kämpfen und gegenseitigen Massakern. Bis zu einem Waffenstillstand 1994 eroberten armenische Kämpfer die Region Bergkarabach und angrenzende, aserbaidschanische Gebiete, insgesamt etwa ein Fünftel der Staatsfläche Aserbaidschans. Seit 1995 überwachte die OSZE den Waffenstillstand. Bis auf eine kurze militärische Auseinandersetzung 2016 blieb es an der Front relativ ruhig.

Im Herbst 2020 kam es dann zu massivem gegenseitigem Beschuss und einem Angriff aserbaidschanischer Truppen auf Bergkarabach. Im sogenannten 44-Tage-Krieg gelang es den Aserbaidschanern (angeblich unterstützt von Söldnern aus Syrien und Libyen), rund ein Drittel der von Armeniern besetzten Gebiete zurückzuerobern. Im September 2023, nach einer mehrmonatigen Blockade, brachte die mittlerweile hochgerüstete aserbaidschanische Armee auch den verbliebenen Gebietsteil binnen eines einzigen Tages unter ihre Kontrolle. In der Folge flohen mehr als 100.000 Armenier aus Bergkarabach nach Armenien.

Letztendlich hat der eingefrorene Konflikt der Region Bergkarabach gut ein Vierteljahrhundert lang relative Ruhe und quasistaatliche Strukturen gesichert. Diplomatische Beziehungen besaß die selbsternannte Republik Arzach zu keiner Zeit. Selbst Armenien erkannte den „Staat“ nicht an, leistete aber militärische Unterstützung.

Nach 1994 gab es immer wieder Ansätze zu einer Vermittlung, aber sowohl die Führung der Karabach-Armenier als auch diejenige in Baku beharrten auf Maximalforderungen. So gesehen bestand keine reale Chance, diesen Frozen Conflict in eine dauerhafte Friedenslösung zu überführen. Aserbaidschan nutzte den jahrzehntelangen Waffenstillstand allerdings dazu, mithilfe seiner Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas massiv aufzurüsten und die in den 90er-Jahren verlorenen Gebiete zurückzuerobern.

Aserbaidschan ist ein Beispiel dafür, inwieweit ein Frozen Conflict einem in die Defensive gedrängten Land die Möglichkeit geben kann, völkerrechtswidrige Zustände zu einem späteren Zeitpunkt zu revidieren, sei es politisch oder militärisch. Es ist dieser Aspekt, der auch mit Blick auf die Ukraine interessant sein könnte – und wohl den Kern des von Rolf Mützenich vorgeschlagenen Einfrierens bildet.