Arte-Dokumentation über Emilie Schindler: Mehr als die Frau an Oskars Seite | Vorwärts
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Arte-Dokumentation über Emilie Schindler: Mehr als die Frau an Oskars Seite

Mithilfe seine Fabrik rettete der Industrielle Oskar Schindler 1.200 Jüd*innen während des Holocausts das Leben. Der Film „Schindlers Liste“ machte ihn weltberühmt. Im Schatten stand lange seine Frau Emilie. Zu Unrecht, wie eine Dokumentation jetzt zeigt.

von Julia Korbik · 20. Mai 2024
Mehr als die Frau an seiner Seite: Emilie und Oskar Schindler

Mehr als die Frau an seiner Seite: Emilie und Oskar Schindler

Es war 1993 als Oskar Schindler weltweit berühmt wurde: Damals kam Steven Spielbergs Drama Schindlers Liste in die Kinos, welches die Geschichte des deutschen Unternehmers erzählte, der 1200 Jüd*innen durch Arbeit in seiner Fabrik vor dem Holocaust rettete. Schindler, verkörpert von Liam Neeson, entpuppte sich als idealer Hollywood-Held: ein hedonistischer Lebemann, der aus Opportunismus Mitglied der NSDAP wird und doch selbstlos handelt. Im Film wie im Leben überstrahlte Schindler dabei eine Person, ohne die die berühmte Liste sowie die Rettung der jüdischen Arbeiter*innen gar nicht möglich gewesen wäre – seine Frau.

Ein Versuch,  die Deutungshoheit zurückzugewinnen

Die deutsche Regisseurin Annette Baumeister hat Emilie Schindler deshalb einen Dokumentarfilm gewidmet: Emilie Schindler. Die vergessene Heldin (Arte) lässt unter anderem Historiker*innen und Zeitzeug*innen zu Wort kommen und zeigt, dass Emilie Schindler sehr viel mehr war als nur die gedemütigte und betrogene „Frau an seiner Seite“, als die Schindlers Liste sie präsentiert. Die Historikerin Kirsten Heinsohn konstatiert: „Die Verfilmung von Spielberg hat Emilie Schindler praktisch komplett die Deutungshoheit aus der Hand genommen.“

Wer also war Emilie Schindler? Sie wurde 1907 als Emilie Pelzl im heutigen Tschechien geboren. Die Eltern waren wohlhabend und Emilie wuchs behütet auf, bis ihr Vater im Ersten Weltkrieg eingezogen wurde und Jahre später als körperlich wie geistig gebrochener Mann zurückkehrte. Emilie pflegte ihn – eine brave, verantwortungsvolle Tochter. Mit Anfang 20 verliebte sie sich in den charmanten Sohn eines Landmaschinenhändlers: Oskar Schindler. Die beiden heirateten 1928, nur wenige Monate nach ihrem Kennenlernen. Emilies Eltern waren gegen die Ehe, Schindler hatte einen Ruf als Herzensbrecher. Und tatsächlich: Schindler war seiner Frau untreu und schon bald Vater zweier unehelicher Kinder. 

Emilie Schindler ergreift die Initiative

Trotz allem blieb Emilie – und half Oskar Schindler dabei, hunderte Menschenleben zu retten. In der Dokumentation von Annette Baumeister steht ein Ereignis dabei im Mittelpunkt: Anfang 1945, inmitten des Chaos der letzten Kriegsmonate, nahm Emilie Schindler rund 100 Gefangene aus Auschwitz auf. Emilie kümmerte sich damals in Abwesenheit ihres Mannes um die Fabrik im tschechischen Brünnlitz und behauptete gegenüber den SS-Aufsehern, die Gefangenen würden als Arbeiter*innen benötigt.

Die Gefangenen hatten zu diesem Zeitpunkt mehrere Wochen in eisiger Kälte ohne Lebensmittel in Güterwaggons auf ihren Abtransport gewartet. Emilie besorgte Nahrungsmittel und Medizin, richtete in der Fabrik ein Lazarett ein und pflegte die Kranken und Verwundeten. Der Historiker Mordecai Paldiel fasst zusammen: „Sie hat die Initiative ergriffen und wollte den armen Menschen das Leben so angenehm wie möglich machen, damit sie das Ende des Krieges erleben würden.“

Kein unkomplizierte Heldin

Nach dem Krieg wanderten die Schindlers nach Argentinien aus, wo sie in der Nähe von Buenos Aires eine Farm aufbauten. Oskars Schindler ging 1957 allein nach Deutschland zurück. Seiner Frau hinterließ er hohe Schulden, sie lebte in ärmlichen Verhältnissen. Ihr ehemaliger Pfleger Leandro Cosifato sagt über sie, der Krieg und das Leben hätten sie zugleich hart und zerbrechlich gemacht. Erst in den 1990er Jahren erinnerte man sich wieder an Emilie Schindler, der argentinische Journalist Raúl Kollmann nahm Kontakt zu ihr auf. 1994 dann der große Moment: Emilie Schindler traf „ihre“ Jüd*innen in Israel. Auf einem Foto sieht man eine alte Frau im Rollstuhl, umringt von den Menschen, deren Leben sie gerettet hat. 2001 starb Emilie Schindler in der Nähe von Berlin.

Was bleibt am Ende von dieser Frau, von diesem Film? Zum einen: das Bild einer Frau, die praktisch veranlagt war und über die emotionale Reife und Stärke verfügte, die ihrem Mann offenbar fehlte. Gleichzeitig war Emilie Schindler keine unkomplizierte Heldin. Sie scheint lange Zeit über kein ausgeprägtes politisches oder moralisches Gewissen verfügt zu haben und es gab keinen Aha-Moment, der sie zur überzeugten Widerstandskämpferin machte. Trotzdem handelte sie und brachte sich selbst in Gefahr, um andere Menschen zu retten.

Was von dem Film auch bleibt: Wut. Darüber, dass Oskar Schindler wenige Jahre nach dem Krieg als Held gefeiert wurde, während seine Frau in Argentinien vor den Scherben ihrer Existenz stand. Darüber, dass sie bei seiner Heldengeschichte kaum eine Rolle spielte – und aktiv aus dieser herausgeschrieben wurde. 

Emilie Schindler. Die vergessene Heldin von Annette Baumeister läuft am 20. Mai 2024 um 23 Uhr auf Arte. Auf arte.tv kann die Dokumentation ab Tag der Ausstrahlung bis zum 17. August 2024 abgerufen werden. 

Autor*in
Julia Korbik
Julia Korbik

studierte European Studies, Kommunikationswissenschaften und Journalismus in Deutschland und Frankreich. In Berlin arbeitet sie als freie Autorin und Journalistin.

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1 Kommentar

Gespeichert von Claudia Obst (nicht überprüft) am Di., 21.05.2024 - 20:21

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