„Grimmige Hingabe“ – Pistorius verspricht deutsche Führungsstärke
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„Mit grimmiger Hingabe“: Pistorius auf Promotion-Tour für eine führungsstarke Bundeswehr

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In seinen Ankündigungen kämpft Deutschland an vorderster Front; jedenfalls demnächst. In den USA bat Verteidigungsminister Pistorius erneut um Geduld.

Washington D.C. – „Er ist der letzte Sozialdemokrat, der noch beliebt ist im Land“, schreibt Peter Carstensen. Der Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung spricht von Boris Pistorius (SPD), dem aktuellen Verteidigungsminister; dem siebten der Sozialdemokraten und gleichzeitig dem ersten überhaupt, der als Reaktion auf den Ukraine-Krieg die Bundeswehr wieder für einen drohenden Krieg flottzumachen hat. Pistorius muss einem möglichen Aggressor Russland und einem potentiellen Nato-Kritiker Donald Trump die Stirn bieten. Aktuell hat er in den USA wieder markige Worte aufgefahren.

Boris Pistorius ist rhetorisch ein strammer Marschierer: Kaum ein deutscher Verteidigungsminister nach dem CSU-Mann Franz-Josef Strauß hat rhetorisch so herumgeballert wie er: „Kriegstüchtig“ solle die Bundeswehr werden, hat er gesagt, und manchen politischen Leisetreten haben die Ohren geschlackert – das hatte sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch keiner getraut, schon gar kein Spitzenpolitiker. Dann der nächste verbale Husarenritt: „Historisch“ nannte er die bisher geleisteten und noch zu leistenden Anstrengungen, um die Ukraine verteidigungsfähig zu halten. Jetzt zitiert die Bild mit „Wir sind bereit, die Führung zu übernehmen“ die nächste Vollmundigkeit eines deutschen Verteidigungsministers.

Entfremdung der Nato-Partner: Pistorius will alte Positionen zurückerobern

Russlands Krieg gegen die Ukraine habe die Europäer enger zusammenrücken lassen und Erwartungen an Deutschland als Führungsmacht geweckt, schrieben Angela Mehrer und Jana Puglierin vor rund einem Jahr für die Bundeszentrale für politische Bildung – „Berlin konnte diese bisher oft nicht erfüllen und hat sich stattdessen von einigen seiner engsten europäischen Partner entfremdet.“ Mit dem Führungsanspruch in seiner Rede vor Studierenden und Lehrenden der Johns-Hopkins-Universität in Washington D.C. will Boris Pistorius offenbar alte Positionen zurückerobern.

„Es wäre natürlich schöner, wenn Olaf Scholz auch so eine Rede halten würde. Es wäre auch schöner, in Washington zu wissen, ob das Geld reichen würde.“

US-Journalist Erik Kirschbaum in der Welt

„Ich sage den Leuten immer: Ihr glaubt, der Krieg in der Ukraine würde vorübergehen wie ein böser Traum; und dann kann man sich wieder anderen Dingen zuwenden. Aber das wird nicht passieren“, sagte der Militär-Historiker Sönke Neitzel am Anfang der bewaffneten Konfrontation. Er forderte damit gerade die Politik auf, ehrlich zu makeln. Mit seiner Forderung nach echter „Kriegstüchtigkeit“ der Bundeswehr hat sich Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius neben Neitzel viele Freunde gemacht; er wird sogar als mögliche Ablösung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gehandelt. Und sein Nimbus hält. Trotz weiterer Pannen, die er nicht angeschoben hatte, aber für die er jetzt strammstehen muss.

Boris Pistorius nachdenklich zerknirscht während einer Sitzung des Verteidigungsausschusses des Bundestags
„Mit grimmiger Hingabe“: Verteidigungsminister Boris Pistorius hat der USA versprochen, dass Deutschland seiner Führungsrolle in Europa militärisch jetzt stärker nachkommen will. (Symbolfoto) © IMAGO / Funke Foto Services / Maurizio Gambarini

„Zeitenwende-Rede“ von Olaf Scholz: Außer Phrasen wenig gewesen

Fünf bis acht Jahre werde ein von Wladimir Putin geführtes Russland der Nato bis zu einem Angriff Zeit geben – das ist die aktuelle Nato-Doktrin und Boris Pistorius machte in den USA klar, dass Deutschland das Entwicklungstempo der Nato bis dahin bestimmen wolle. In seiner als „Zeitenwende-Rede“ bekannt gewordenen Regierungserklärung Ende Februar 2022 hatte Bundeskanzler Olaf Scholz bereits angekündigt, die Bundeswehr zu ertüchtigen und alles zu veranlassen, was Europas Sicherheit erfordere. Allerdings lassen die Taten noch auf sich warten. Zuletzt hatte der Verteidigungsminister noch Front machen müssen gegen den FDP-Haushälter Christian Lindner, der am Verteidigungsetat knapsen will.

Sozialdemokratische Verteidigungsminister vor Pistorius

2021–2023: Christine Lambrecht;
2002–2005: Peter Struck;
1998–2002: Rudolf Scharping;
1978–1982: Hans Apel;
1972–1978: Georg Leber;
1969–1972: Helmut Schmidt.

Quelle: Bundesministerium der Verteidigung

In den USA pochte Pistorius nochmals auf die Notwendigkeit der Neuauflage der Wehrpflicht – wozu ihm mittlerweile auch die Opposition sekundiert. „Vor dem Nato-Gipfel im Juli im Washington will er damit einen in früheren Jahren entstandenen kritischen Blick auf Deutschland zurechtrücken“, hält ihm der Tagesspiegel zugute. Das Deutschland unter Bundeskanzler Olaf Scholz hatte es sich mit einigen Nachbarn verscherzt: beispielsweise mit Frankreich, das den Deutschen übel nimmt, in der European Sky Shield Initiative auf us-amerikanische Patriots und deutsche Iris-T SML zu setzen und die französisch-italienischen Luftabwehr-Raketen links liegenzulassen.

Angela Mehrer und Jana Puglierin zitieren den Franzosen Camille Grand und sein in der Internationalen Politik geäußerten Lamento: „Aus Pariser Sicht deutet das Bestreben Berlins, stets nur gemeinsam mit den USA zu handeln (wie beim Marder, den Patriots und den Leopard-Panzern) auf eine Ausrichtung, die für deutsch-französisch-europäische Initiativen wenig Raum lässt.“ Wie als demonstrativer Beweis besuchte Pistorius auch die Boing-Werke in Philadelphia, um sich zu erkundigen nach dem Werden des Transporthubschraubers CH-47 „Chinook“, den die Bundeswehr vor zwei Jahren bestellt hatte. „Ich freue mich darauf, auch der Truppe sagen zu können, dass wir mit den ersten Modellen in 2027 rechnen können“, so der Minister laut Pressemitteilung seines Ministeriums.

„Von den Resten des Tagtraums befreien“: Pistorius kündigt „grimmige Hingabe“ an

Fast acht Milliarden Euro werden die 60 gelieferten Helikopter kosten, rechnet der Tagesspiegel vor; und kolportiert die Kritik eines Offiziers über die seit zwei Jahrzehnten überfällige Erneuerung des Materials. Pistorius ist also seit seinem Amtsantritt Mitte Januar 2023 gezwungenermaßen der Motor der deutschen Aufrüstung. „Er will Deutschland, vor allem aber seine Partei, auch von den Resten des alten weltpolitischen Tagtraums befreien: vom Glauben, man könne sich als Wirtschaftsmacht einfach militärisch heraushalten“ ist eine für die Bild typische Zuspitzung, die allerdings den Kern trifft. „Von Deutschland als mächtigstem und reichstem Land der EU wird mehr proaktive Führung erwartet, um die europäische Handlungsfähigkeit nach innen und außen zu stärken“, hatten auch Mehrer und Puglierin schon vor einem Jahr gefordert.

„Mit grimmiger Hingabe“ will Pistorius jetzt voranschreiten – dieser Satz allein ist Zeit Online ein Post auf X (vormals Twitter) wert. Und lobt ihn dafür auszusprechen, „was Scholz schon seit Langem nicht mehr sagt“, wie die Zeit kritisiert. Seine „zupackende Art“, wie der Tagesspiegel schreibt, lasse ihm die Herzen zufliegen. Indes ist von der Zeitenwende wenig Substantielles in der Truppe zu spüren. Nach rund einem Jahr Amtszeit vielleicht auch kaum verwunderlich. Gleichwohl sieht der Militärhistoriker Sönke Neitzel Europa insgesamt als „Zwerg, der Russland und vor allem China im militärischen Bereich ohnmächtig gegenübersteht“ – veröffentlicht 2020. Damals hatte der Wissenschaftler den sicherheitspolitischen Druck für zu gering gehalten für effiziente Veränderungen.

Moderne „deutsche Krieger“: Gepeinigt von Eingewöhnungsläufen über 2,5 Kilometer

Neitzel verwies in seinem 2020 erschienen Buch „Deutsche Krieger“ beispielsweise auf die Einführung der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie in den Streitkräften, damit die Bundeswehr sich als attraktiver Arbeitgeber darstellen konnte; er verwies auch auf die gesenkten sportlichen Anforderungen an die Truppe: „Heute nennt der Wehrbeauftragte des Bundestags in seinem Jahresbericht 2020 einen Eingewöhnungslauf von 2,5 Kilometern bei 28 Grad Sommerwärme ernsthaft eine ,Tortur‘ und einen Fall ,überzogener Härte‘. Neitzel hielt als eines seiner Forschungsergebnisse fest, die Bundesrepublik wäre der Welt ehrlicher gegenübergetreten, wenn sie sich „mit aller Konsequenz zur Rolle als Zivilmacht bekennen würde“, wie er schrieb.

Boris Pistorius ist nun derjenige, der geradebiegen soll, was über die Jahrzehnte verschlampt worden ist. Er warb in den USA jetzt für den Aufbauprozess des deutschen Militärs und die Abkehr von der „lange gepflegten Zurückhaltung“, wie ihn der Tagesspiegel wiedergibt. Letztendlich hat er in den USA um schön Wetter gebeten und die Bitte um Geduld mit Deutschland mit Einkäufen versüßt. Neben den bestellten Chinooks will Deutschland weitere Patriot-Raketen kaufen.

Seine Ankündigungen sollen in den USA auf Wohlwollen gestoßen sein, allerdings mit begrenzter Durchschlagskraft, wie US-Journalist Erik Kirschbaum gegenüber der Welt klargestellt hat: „Es wäre natürlich schöner, wenn Olaf Scholz auch so eine Rede halten würde. Es wäre auch schöner, in Washington zu wissen, ob das Geld reichen würde.“ (hin)

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